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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Dekorative Kunst

ungenießbar. Das stärkste hierin leistet der Düne Hansen-Jacobsen (Kopen¬
hagen und Paris) mit seinen Fratzen (6), die allerdings so architektonisch sind,
daß es dazu des Umwegs über die Skulptur kaum bedurft hätte. Man könnte
ja etwa auch aus viereckigen Bauklötzen das Schema einer menschlichen Figur
aufbauen. Dem Verfasser des Textes muß dies alles als Erscheinung ebenso
wunderlich vorkommen wie jedem andern. "Mit einem Schlag hat Jacobsen
das Tuch zwischen sich und den andern zerschnitten. Uns kann es hier nicht
in erster Linie darauf ankommen, wie weit ihm das gefährliche Experiment ge¬
glückt ist. Daß es überhaupt einmal einer gewagt hat, ist das Wesentliche."
Wie ein Künstler innerhalb seiner Umgebung und als Glied einer Kette zu
solchen Sonderbarkeiten gelangt, die ihn sür jedes unbefangne Auge wieder in
die Reihe der primitiven Schnitzer und Schaber zurück versetzen, sieht man
vielleicht am besten aus einem Bericht über die moderne Kunst in Dänemark
im Pan (IV, 2). Dort folgten unter Malern und Bildhauern, deren Namen
hier nicht aufgezählt zu werden brauchen, auf eine Gruppe von Naturalisten
als Vorstufe ebenfalls subjektivsten, die gaben, was sie "erlebten," d. h. ihre
Eindrücke, und denen ihr Wille wichtiger war als die Naturform. Der Ver¬
fasser des Aufsatzes bezeichnet sie als Symbolisten, während andre Ästhetiker,
wie wir schon gesehen haben, die Bezeichnung als herabsetzend ablehnen und
dieser Art von Kunst mehr Ehre anzuthun meinen, wenn sie sich den Vorgang
automatisch, als mechanische, graphische Folge jenes "Erlebens" vorstellen.
Jener Jacobsen nun hat hier einen Vorgänger in Willumsen, der freilich weit
mehr Natur und Form in seinen Bildwerken zurückbehalten hat als er.

Noch nicht ganz so weit wie Jacobsen in der Abstreifung der Natur¬
erscheinung und der plastischen Formen ist ein belgischer Bildhauer, Minne,
vorgeschritten, von dem die Münchner Zeitschrift ein Brunnenmodell bringt aus
der Brüsseler Ausstellung I-ihr<z Lstliötillus (7), "ein Denkmal jener Kunst der
Zukunft, die über Meunier hinausgeht, heute noch wenig verstanden." Auf
dem Rande eines runden Beckens ohne jede Schmuckform knieen fünf ganz
identische nackte Knabengestalten, Abgüsse derselben Form, und stieren mit ver¬
schränkten Armen in das Wasser. Sie sind lang auseinandergezogen, mager,
in den Formen flächenhaft unfertig, scheinbar nur angehauen. "Die wieder¬
holte Verwendung derselben Figur, ein glänzender Zug (sollte mans denken?),
der die Frage des Ornaments wieder von einer ganz neuen Seite aufnimmt(!),
zeigt die Ausdrucksfähigkeit dieser scheinbar so einfachen Kunst, die in den Augen
der Empfindungslosen nur aus Axthieben besteht." Wir melden uns freiwillig
zu dem Aufgebot der Empfindungslosen, folgen aber gleichwohl gern den Ge¬
danken, die der Redakteur der Münchner Zeitschrift, I. Meier-Graefe, in einem
brillant geschriebnen Aufsatze des Pan (IV, 4) über "das plastische Ornament,"
dieses Problem der nächsten Zukunft, ausgeführt und durch verschiedne Ab¬
bildungen von ähnlichen Skulpturen Minnes veranschaulicht hat. Minne sollte


Grenzboten II 1899 81
Dekorative Kunst

ungenießbar. Das stärkste hierin leistet der Düne Hansen-Jacobsen (Kopen¬
hagen und Paris) mit seinen Fratzen (6), die allerdings so architektonisch sind,
daß es dazu des Umwegs über die Skulptur kaum bedurft hätte. Man könnte
ja etwa auch aus viereckigen Bauklötzen das Schema einer menschlichen Figur
aufbauen. Dem Verfasser des Textes muß dies alles als Erscheinung ebenso
wunderlich vorkommen wie jedem andern. „Mit einem Schlag hat Jacobsen
das Tuch zwischen sich und den andern zerschnitten. Uns kann es hier nicht
in erster Linie darauf ankommen, wie weit ihm das gefährliche Experiment ge¬
glückt ist. Daß es überhaupt einmal einer gewagt hat, ist das Wesentliche."
Wie ein Künstler innerhalb seiner Umgebung und als Glied einer Kette zu
solchen Sonderbarkeiten gelangt, die ihn sür jedes unbefangne Auge wieder in
die Reihe der primitiven Schnitzer und Schaber zurück versetzen, sieht man
vielleicht am besten aus einem Bericht über die moderne Kunst in Dänemark
im Pan (IV, 2). Dort folgten unter Malern und Bildhauern, deren Namen
hier nicht aufgezählt zu werden brauchen, auf eine Gruppe von Naturalisten
als Vorstufe ebenfalls subjektivsten, die gaben, was sie „erlebten," d. h. ihre
Eindrücke, und denen ihr Wille wichtiger war als die Naturform. Der Ver¬
fasser des Aufsatzes bezeichnet sie als Symbolisten, während andre Ästhetiker,
wie wir schon gesehen haben, die Bezeichnung als herabsetzend ablehnen und
dieser Art von Kunst mehr Ehre anzuthun meinen, wenn sie sich den Vorgang
automatisch, als mechanische, graphische Folge jenes „Erlebens" vorstellen.
Jener Jacobsen nun hat hier einen Vorgänger in Willumsen, der freilich weit
mehr Natur und Form in seinen Bildwerken zurückbehalten hat als er.

Noch nicht ganz so weit wie Jacobsen in der Abstreifung der Natur¬
erscheinung und der plastischen Formen ist ein belgischer Bildhauer, Minne,
vorgeschritten, von dem die Münchner Zeitschrift ein Brunnenmodell bringt aus
der Brüsseler Ausstellung I-ihr<z Lstliötillus (7), „ein Denkmal jener Kunst der
Zukunft, die über Meunier hinausgeht, heute noch wenig verstanden." Auf
dem Rande eines runden Beckens ohne jede Schmuckform knieen fünf ganz
identische nackte Knabengestalten, Abgüsse derselben Form, und stieren mit ver¬
schränkten Armen in das Wasser. Sie sind lang auseinandergezogen, mager,
in den Formen flächenhaft unfertig, scheinbar nur angehauen. „Die wieder¬
holte Verwendung derselben Figur, ein glänzender Zug (sollte mans denken?),
der die Frage des Ornaments wieder von einer ganz neuen Seite aufnimmt(!),
zeigt die Ausdrucksfähigkeit dieser scheinbar so einfachen Kunst, die in den Augen
der Empfindungslosen nur aus Axthieben besteht." Wir melden uns freiwillig
zu dem Aufgebot der Empfindungslosen, folgen aber gleichwohl gern den Ge¬
danken, die der Redakteur der Münchner Zeitschrift, I. Meier-Graefe, in einem
brillant geschriebnen Aufsatze des Pan (IV, 4) über „das plastische Ornament,"
dieses Problem der nächsten Zukunft, ausgeführt und durch verschiedne Ab¬
bildungen von ähnlichen Skulpturen Minnes veranschaulicht hat. Minne sollte


Grenzboten II 1899 81
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[0649] Dekorative Kunst ungenießbar. Das stärkste hierin leistet der Düne Hansen-Jacobsen (Kopen¬ hagen und Paris) mit seinen Fratzen (6), die allerdings so architektonisch sind, daß es dazu des Umwegs über die Skulptur kaum bedurft hätte. Man könnte ja etwa auch aus viereckigen Bauklötzen das Schema einer menschlichen Figur aufbauen. Dem Verfasser des Textes muß dies alles als Erscheinung ebenso wunderlich vorkommen wie jedem andern. „Mit einem Schlag hat Jacobsen das Tuch zwischen sich und den andern zerschnitten. Uns kann es hier nicht in erster Linie darauf ankommen, wie weit ihm das gefährliche Experiment ge¬ glückt ist. Daß es überhaupt einmal einer gewagt hat, ist das Wesentliche." Wie ein Künstler innerhalb seiner Umgebung und als Glied einer Kette zu solchen Sonderbarkeiten gelangt, die ihn sür jedes unbefangne Auge wieder in die Reihe der primitiven Schnitzer und Schaber zurück versetzen, sieht man vielleicht am besten aus einem Bericht über die moderne Kunst in Dänemark im Pan (IV, 2). Dort folgten unter Malern und Bildhauern, deren Namen hier nicht aufgezählt zu werden brauchen, auf eine Gruppe von Naturalisten als Vorstufe ebenfalls subjektivsten, die gaben, was sie „erlebten," d. h. ihre Eindrücke, und denen ihr Wille wichtiger war als die Naturform. Der Ver¬ fasser des Aufsatzes bezeichnet sie als Symbolisten, während andre Ästhetiker, wie wir schon gesehen haben, die Bezeichnung als herabsetzend ablehnen und dieser Art von Kunst mehr Ehre anzuthun meinen, wenn sie sich den Vorgang automatisch, als mechanische, graphische Folge jenes „Erlebens" vorstellen. Jener Jacobsen nun hat hier einen Vorgänger in Willumsen, der freilich weit mehr Natur und Form in seinen Bildwerken zurückbehalten hat als er. Noch nicht ganz so weit wie Jacobsen in der Abstreifung der Natur¬ erscheinung und der plastischen Formen ist ein belgischer Bildhauer, Minne, vorgeschritten, von dem die Münchner Zeitschrift ein Brunnenmodell bringt aus der Brüsseler Ausstellung I-ihr<z Lstliötillus (7), „ein Denkmal jener Kunst der Zukunft, die über Meunier hinausgeht, heute noch wenig verstanden." Auf dem Rande eines runden Beckens ohne jede Schmuckform knieen fünf ganz identische nackte Knabengestalten, Abgüsse derselben Form, und stieren mit ver¬ schränkten Armen in das Wasser. Sie sind lang auseinandergezogen, mager, in den Formen flächenhaft unfertig, scheinbar nur angehauen. „Die wieder¬ holte Verwendung derselben Figur, ein glänzender Zug (sollte mans denken?), der die Frage des Ornaments wieder von einer ganz neuen Seite aufnimmt(!), zeigt die Ausdrucksfähigkeit dieser scheinbar so einfachen Kunst, die in den Augen der Empfindungslosen nur aus Axthieben besteht." Wir melden uns freiwillig zu dem Aufgebot der Empfindungslosen, folgen aber gleichwohl gern den Ge¬ danken, die der Redakteur der Münchner Zeitschrift, I. Meier-Graefe, in einem brillant geschriebnen Aufsatze des Pan (IV, 4) über „das plastische Ornament," dieses Problem der nächsten Zukunft, ausgeführt und durch verschiedne Ab¬ bildungen von ähnlichen Skulpturen Minnes veranschaulicht hat. Minne sollte Grenzboten II 1899 81

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/649>, abgerufen am 28.09.2024.