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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Abwehr einer Schweizer Verteidigung

Polizeibehörden nicht gegenseitig verständigt hatten. Der Takt und die würde¬
volle Trauer des Bundesrath wie der Genfer Kantonsregierung beseitigten
aber diesen Mißton, und vielleicht schafft der Bund auch darin Abhilfe, wie
nach Bismarcks Vorstellung.

Angesichts dieser Thatsachen ist freilich der zugestandne Deutschenhaß und
die würdelose Fremdenliebe unverständlich. Daß sich der Schweizer nicht als
Deutscher fühlt, sondern als eignes Natiönchen in Gemeinschaft mit dem ver-
welschten Bruchteil des Westens und somit auf dem besten Wege ist, bei seiner
nationalen Schwäche eines Tages als Franzose aufzuwachen, ist nicht nur eine
verzeihliche Großmannssucht des Zwerges, sondern bedeutet uoch eine bedauer¬
liche Herrschaft der politischen Phrase und Geschichtsfälschnng, die im übrigen
Europa längst überwunden ist. Die fortschrittliche Schweiz ist leider rück¬
ständig geblieben. Für die längst gewonnene politische Freiheit begeistert sich
kein Mensch mehr. Um nationale und soziale Fragen dreht sich jetzt alles in
der politischen Welt, und mit Recht. Der Herr Schweizer erkennt richtig, daß
bei der bestehenden Volksherrschaft in der Eidgenossenschaft jeder Bürger ein
?ro/i.trtx^ ist oder vielmehr sein muß. In dem kleinen Rahmen der
Schweiz ist eine solche Beschäftigung mit den öffentlichen Dingen auch möglich
und zugleich unschädlich sür die Gesamtheit. Die so viel bewunderte Schwester¬
republik jenseits des Jura kann sich das nicht erlauben. Dort herrscht uoch
das napoleonische Präfektursystem mit voller Schürfe. Freilich verträgt der
Deutsche eine solche Zentralisation schwer, mag er nun im Reiche oder auf
den Schweizer Bergen wohnen. Trotzdem bedeutet diese Einheitlichkeit des
Staatswillens die größte Machtentfaltung eines Volkes. Sonst wäre auch
das unruhige Frankreich längst in seinen innern Wirren niedergebrochen. Nur
der latente monarchische Sinn der Franzosen mit der Allgewalt des Staats,
dem alles in schöner Vaterlandsliebe geopfert wird, hält die Republik zu¬
sammen. Wo liegt da die Ähnlichkeit oder gar Gleichheit mit den Schweizer
Zuständen? In der Schweiz herrscht noch die im Reiche überwuudne, gründ¬
lich veraltete deutsche Kleinstaaterei, und vergeblich ringt der eingeführte fran¬
zösische Radikalismus danach, eine straffe Bundesgewalt herzustellen, die freilich
der Schweiz nötig ist. Also auch in der politischen Gesinnung thut der Herr
Schweizer Unrecht, Deutsche und Schweizer zu unterscheiden. Wir sind alle
Kinder der gemeinsamen Mutter, innerhalb und außerhalb des neuen Deutschen
Reichs. Das staatliche Band zwischen dem Deutschtum und den Welschen in
der Schweiz ist nur dadurch haltbar, daß die Westschweiz gar nicht französisch,
sondern bloß verwelscht ist. Ein reines Franzosentum hätte die deutschen Mit¬
bürger längst aufgefressen. Freilich ist es eine Schande für unser Volkstum,
daß die Verwelschung weitere, reißende Fortschritte macht. Dort liegt die zu¬
künftige Aufgabe der Schweizer. Nicht das Gerede über politische Freiheiten,
sondern der nationale Schutz des angestammten Volkstums ist die politische


Deutsche Abwehr einer Schweizer Verteidigung

Polizeibehörden nicht gegenseitig verständigt hatten. Der Takt und die würde¬
volle Trauer des Bundesrath wie der Genfer Kantonsregierung beseitigten
aber diesen Mißton, und vielleicht schafft der Bund auch darin Abhilfe, wie
nach Bismarcks Vorstellung.

Angesichts dieser Thatsachen ist freilich der zugestandne Deutschenhaß und
die würdelose Fremdenliebe unverständlich. Daß sich der Schweizer nicht als
Deutscher fühlt, sondern als eignes Natiönchen in Gemeinschaft mit dem ver-
welschten Bruchteil des Westens und somit auf dem besten Wege ist, bei seiner
nationalen Schwäche eines Tages als Franzose aufzuwachen, ist nicht nur eine
verzeihliche Großmannssucht des Zwerges, sondern bedeutet uoch eine bedauer¬
liche Herrschaft der politischen Phrase und Geschichtsfälschnng, die im übrigen
Europa längst überwunden ist. Die fortschrittliche Schweiz ist leider rück¬
ständig geblieben. Für die längst gewonnene politische Freiheit begeistert sich
kein Mensch mehr. Um nationale und soziale Fragen dreht sich jetzt alles in
der politischen Welt, und mit Recht. Der Herr Schweizer erkennt richtig, daß
bei der bestehenden Volksherrschaft in der Eidgenossenschaft jeder Bürger ein
?ro/i.trtx^ ist oder vielmehr sein muß. In dem kleinen Rahmen der
Schweiz ist eine solche Beschäftigung mit den öffentlichen Dingen auch möglich
und zugleich unschädlich sür die Gesamtheit. Die so viel bewunderte Schwester¬
republik jenseits des Jura kann sich das nicht erlauben. Dort herrscht uoch
das napoleonische Präfektursystem mit voller Schürfe. Freilich verträgt der
Deutsche eine solche Zentralisation schwer, mag er nun im Reiche oder auf
den Schweizer Bergen wohnen. Trotzdem bedeutet diese Einheitlichkeit des
Staatswillens die größte Machtentfaltung eines Volkes. Sonst wäre auch
das unruhige Frankreich längst in seinen innern Wirren niedergebrochen. Nur
der latente monarchische Sinn der Franzosen mit der Allgewalt des Staats,
dem alles in schöner Vaterlandsliebe geopfert wird, hält die Republik zu¬
sammen. Wo liegt da die Ähnlichkeit oder gar Gleichheit mit den Schweizer
Zuständen? In der Schweiz herrscht noch die im Reiche überwuudne, gründ¬
lich veraltete deutsche Kleinstaaterei, und vergeblich ringt der eingeführte fran¬
zösische Radikalismus danach, eine straffe Bundesgewalt herzustellen, die freilich
der Schweiz nötig ist. Also auch in der politischen Gesinnung thut der Herr
Schweizer Unrecht, Deutsche und Schweizer zu unterscheiden. Wir sind alle
Kinder der gemeinsamen Mutter, innerhalb und außerhalb des neuen Deutschen
Reichs. Das staatliche Band zwischen dem Deutschtum und den Welschen in
der Schweiz ist nur dadurch haltbar, daß die Westschweiz gar nicht französisch,
sondern bloß verwelscht ist. Ein reines Franzosentum hätte die deutschen Mit¬
bürger längst aufgefressen. Freilich ist es eine Schande für unser Volkstum,
daß die Verwelschung weitere, reißende Fortschritte macht. Dort liegt die zu¬
künftige Aufgabe der Schweizer. Nicht das Gerede über politische Freiheiten,
sondern der nationale Schutz des angestammten Volkstums ist die politische


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[0591] Deutsche Abwehr einer Schweizer Verteidigung Polizeibehörden nicht gegenseitig verständigt hatten. Der Takt und die würde¬ volle Trauer des Bundesrath wie der Genfer Kantonsregierung beseitigten aber diesen Mißton, und vielleicht schafft der Bund auch darin Abhilfe, wie nach Bismarcks Vorstellung. Angesichts dieser Thatsachen ist freilich der zugestandne Deutschenhaß und die würdelose Fremdenliebe unverständlich. Daß sich der Schweizer nicht als Deutscher fühlt, sondern als eignes Natiönchen in Gemeinschaft mit dem ver- welschten Bruchteil des Westens und somit auf dem besten Wege ist, bei seiner nationalen Schwäche eines Tages als Franzose aufzuwachen, ist nicht nur eine verzeihliche Großmannssucht des Zwerges, sondern bedeutet uoch eine bedauer¬ liche Herrschaft der politischen Phrase und Geschichtsfälschnng, die im übrigen Europa längst überwunden ist. Die fortschrittliche Schweiz ist leider rück¬ ständig geblieben. Für die längst gewonnene politische Freiheit begeistert sich kein Mensch mehr. Um nationale und soziale Fragen dreht sich jetzt alles in der politischen Welt, und mit Recht. Der Herr Schweizer erkennt richtig, daß bei der bestehenden Volksherrschaft in der Eidgenossenschaft jeder Bürger ein ?ro/i.trtx^ ist oder vielmehr sein muß. In dem kleinen Rahmen der Schweiz ist eine solche Beschäftigung mit den öffentlichen Dingen auch möglich und zugleich unschädlich sür die Gesamtheit. Die so viel bewunderte Schwester¬ republik jenseits des Jura kann sich das nicht erlauben. Dort herrscht uoch das napoleonische Präfektursystem mit voller Schürfe. Freilich verträgt der Deutsche eine solche Zentralisation schwer, mag er nun im Reiche oder auf den Schweizer Bergen wohnen. Trotzdem bedeutet diese Einheitlichkeit des Staatswillens die größte Machtentfaltung eines Volkes. Sonst wäre auch das unruhige Frankreich längst in seinen innern Wirren niedergebrochen. Nur der latente monarchische Sinn der Franzosen mit der Allgewalt des Staats, dem alles in schöner Vaterlandsliebe geopfert wird, hält die Republik zu¬ sammen. Wo liegt da die Ähnlichkeit oder gar Gleichheit mit den Schweizer Zuständen? In der Schweiz herrscht noch die im Reiche überwuudne, gründ¬ lich veraltete deutsche Kleinstaaterei, und vergeblich ringt der eingeführte fran¬ zösische Radikalismus danach, eine straffe Bundesgewalt herzustellen, die freilich der Schweiz nötig ist. Also auch in der politischen Gesinnung thut der Herr Schweizer Unrecht, Deutsche und Schweizer zu unterscheiden. Wir sind alle Kinder der gemeinsamen Mutter, innerhalb und außerhalb des neuen Deutschen Reichs. Das staatliche Band zwischen dem Deutschtum und den Welschen in der Schweiz ist nur dadurch haltbar, daß die Westschweiz gar nicht französisch, sondern bloß verwelscht ist. Ein reines Franzosentum hätte die deutschen Mit¬ bürger längst aufgefressen. Freilich ist es eine Schande für unser Volkstum, daß die Verwelschung weitere, reißende Fortschritte macht. Dort liegt die zu¬ künftige Aufgabe der Schweizer. Nicht das Gerede über politische Freiheiten, sondern der nationale Schutz des angestammten Volkstums ist die politische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/591>, abgerufen am 28.09.2024.