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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Oder an den schrecklichen Bismarck? Als die Schweizer Kantonspolizei
offen und pflichtwidrig den reichsdeutschen Sozialdemokraten Vorschub leistete,
richtete der Reichskanzler einige unfreundliche Noten an den Schweizer Bundes¬
rat, was sich doch wohl der Vertreter der ersten Militärmacht der Welt und
des stammesgleichen Landes erlauben durfte. Die Schweizer Regierung kam
dem gerechtfertigten Ansinnen auch willig nach, und siehe da, auch die Kantons-
Polizei sieht den Sozialisten und Anarchisten jetzt scharf auf die Finger.
Eigentlich müßten die staatserhaltenden Parteien der Eidgenossenschaft dem
großen Landsmanne aus dem Reiche ein Denkmal setzen, da er das vollbracht
hat, was der kleine Staat aus eigner Kraft nicht selbst hätte ausführen können.
Der unselige, freilich echt deutsche Sondergeist der Kantone mußte vor der
Zentralgewalt kapitulieren- Es ist eben dieselbe Kleinstaaterei wie bei uns,
wo auch der Partikularismus die Staatseinheit so lange verhindert hat.

Bismarck hatte zu seinem Vorgehen indessen einen besondern völkerrecht¬
lichen Grund. Die "freie" Schweiz ist völkerrechtlich leider gar uicht frei,
sondern steht gleich Belgien als neutrales Land unter der immerhin lustigen
Aufsicht der Garanten ihrer Neutralität, wozu auch Deutschland (Preußen) gehört.
Das tapfere Schweizervolk, das einst die Schlachten Europas schlug, hat es
sich von seinen Beschützern auf dem Wiener Kongreß und zwar besonders von
England, Frankreich und Rußland gefallen lassen müssen, daß ihm das Kriegs¬
und Bündnisrecht genommen wurde. Dafür verzichteten die freundlichen Ga¬
ranten großmütig auf das Recht, die Schweiz anzugreifen. Diese Klausel galt
Frankreich, was man vielleicht in der Schweiz vergessen hat. Das Land steht
dadurch unter europäischer Kontrolle und hat ein wesentliches Souverünitüts-
recht eingebüßt, denn es hat kein Kriegs- und Bündnisrecht. Die arme Schweiz
durfte deshalb neben sonstiger allgemeiner völkerrechtlicher Verbindlichkeit, die
man freilich auch als ganz gewöhnliche Anstandspflicht bezeichnen kann, kein
Sympathiebündnis mit der deutschen Sozialdemokratie eingehn. Daß Bismarck
die Schweiz nicht lieben konnte, war natürlich, da man seinem frühern König,
der als Herrscher des zugewandten Orts Neuenburg auf der alten Tagsatzung
zugleich Schweizerbürger und nach der neuen Bundesverfassung vollberechtigtes
Glied der Eidgenossenschaft gewesen war, ohne jeden Staats- und völkerrecht¬
lichen Grund einfach den Stuhl vor die Thür gesetzt hatte. Der königliche
Nachfolger duldete sodann ruhig die drei Stadtrepublikeu im Reiche; sein
großer Minister ist sogar der besondre Liebling Hamburgs gewesen. Kein
Garant hätte damals widersprochen, wenn das mächtige Deutschland die un¬
gezogne Gebirgstochter als Bundesstaat einverleibt hätte, die ihm Frankreich
selbst für die Reichslande angeboten hatte. Jetzt ist die Neichsregierung sogar
von geflissentlicher Höflichkeit gegen den kleinen Nachbar, der nun endlich seine
internationale Pflicht erfüllt. Selbst beim Meuchelmord der österreichischen
Kaiserin wurde freilich uoch festgestellt, daß sich die beiden beteiligten Kantons-


Oder an den schrecklichen Bismarck? Als die Schweizer Kantonspolizei
offen und pflichtwidrig den reichsdeutschen Sozialdemokraten Vorschub leistete,
richtete der Reichskanzler einige unfreundliche Noten an den Schweizer Bundes¬
rat, was sich doch wohl der Vertreter der ersten Militärmacht der Welt und
des stammesgleichen Landes erlauben durfte. Die Schweizer Regierung kam
dem gerechtfertigten Ansinnen auch willig nach, und siehe da, auch die Kantons-
Polizei sieht den Sozialisten und Anarchisten jetzt scharf auf die Finger.
Eigentlich müßten die staatserhaltenden Parteien der Eidgenossenschaft dem
großen Landsmanne aus dem Reiche ein Denkmal setzen, da er das vollbracht
hat, was der kleine Staat aus eigner Kraft nicht selbst hätte ausführen können.
Der unselige, freilich echt deutsche Sondergeist der Kantone mußte vor der
Zentralgewalt kapitulieren- Es ist eben dieselbe Kleinstaaterei wie bei uns,
wo auch der Partikularismus die Staatseinheit so lange verhindert hat.

Bismarck hatte zu seinem Vorgehen indessen einen besondern völkerrecht¬
lichen Grund. Die „freie" Schweiz ist völkerrechtlich leider gar uicht frei,
sondern steht gleich Belgien als neutrales Land unter der immerhin lustigen
Aufsicht der Garanten ihrer Neutralität, wozu auch Deutschland (Preußen) gehört.
Das tapfere Schweizervolk, das einst die Schlachten Europas schlug, hat es
sich von seinen Beschützern auf dem Wiener Kongreß und zwar besonders von
England, Frankreich und Rußland gefallen lassen müssen, daß ihm das Kriegs¬
und Bündnisrecht genommen wurde. Dafür verzichteten die freundlichen Ga¬
ranten großmütig auf das Recht, die Schweiz anzugreifen. Diese Klausel galt
Frankreich, was man vielleicht in der Schweiz vergessen hat. Das Land steht
dadurch unter europäischer Kontrolle und hat ein wesentliches Souverünitüts-
recht eingebüßt, denn es hat kein Kriegs- und Bündnisrecht. Die arme Schweiz
durfte deshalb neben sonstiger allgemeiner völkerrechtlicher Verbindlichkeit, die
man freilich auch als ganz gewöhnliche Anstandspflicht bezeichnen kann, kein
Sympathiebündnis mit der deutschen Sozialdemokratie eingehn. Daß Bismarck
die Schweiz nicht lieben konnte, war natürlich, da man seinem frühern König,
der als Herrscher des zugewandten Orts Neuenburg auf der alten Tagsatzung
zugleich Schweizerbürger und nach der neuen Bundesverfassung vollberechtigtes
Glied der Eidgenossenschaft gewesen war, ohne jeden Staats- und völkerrecht¬
lichen Grund einfach den Stuhl vor die Thür gesetzt hatte. Der königliche
Nachfolger duldete sodann ruhig die drei Stadtrepublikeu im Reiche; sein
großer Minister ist sogar der besondre Liebling Hamburgs gewesen. Kein
Garant hätte damals widersprochen, wenn das mächtige Deutschland die un¬
gezogne Gebirgstochter als Bundesstaat einverleibt hätte, die ihm Frankreich
selbst für die Reichslande angeboten hatte. Jetzt ist die Neichsregierung sogar
von geflissentlicher Höflichkeit gegen den kleinen Nachbar, der nun endlich seine
internationale Pflicht erfüllt. Selbst beim Meuchelmord der österreichischen
Kaiserin wurde freilich uoch festgestellt, daß sich die beiden beteiligten Kantons-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/590>, abgerufen am 28.09.2024.