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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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völlingers Jugend

Leitung der Weltgeschichte. Die Dogmen aber verspotten wir keineswegs,
nachdem sie aufgehört haben, Zauberformeln für uns zu sein, an deren Be¬
kenntnis unsre Seligkeit hängt, sondern wir schützen ihren idealen Wert, den
sie als Symbole tiefer Wahrheiten haben.

Es hätte übrigens nicht einmal des Zusammenstoßes zwischen Vincenz von
Lerm und Pius IX. bedurft, um eiuen Döllinger allmählich aus der Kirche
hinauszutreiben. Ein Mann von universellen Wissen läßt sich in kein Dogmen¬
gehege einsperren, und Pietätsrücksichten, wie sie auch weite und klare Geister
manchmal vom Ausbrechen zurückhalten, hatten keine Macht über ihn. In einer
Vorlesung über Reformationsgeschichte im Sommer 1861 kam er auf die Ver¬
urteilung des Jansenismus zu sprechen. Die in der Bulle IIiÜAsuiw8 ge¬
wählte Form der Zensurierung einzelner Sätze, bemerkte er u. a., habe ihre
starken Schattenseiten. "Nur eins! In dieser Bulle ist der Satz verworfen:
Die Furcht vor einer ungerechten Exkommunikation darf uns nicht abhalten,
unsre Schuldigkeit zu thun -- ein Satz, der jedem ABC-Kinde als wahr
erscheint." Damit hatte er sich schon außerhalb der Kirche gestellt. Denn das
Organisationsprinzip aller Gesellschaften, mögen sie Staaten, Kirchen, Gemeinden
oder Vereine heißen, ist eben die Unterordnung des individuellen unter das
Gesamturteil, wobei es auf eins hinauskommt, ob dieses Gesamturteil demo¬
kratisch durch eine Volksversammlung oder monarchisch durch den Mund eines
Oberhauptes ausgesprochen wird. Der Untergebne hat nicht das Recht, ein
Urteil seiner Obrigkeit für ungerecht zu erklären, etwas für seine Schuldigkeit
zu halten, was der Vorgesetzte verbietet. Unzähligen"! steht ja in solchen
Konsliktsfüllen das materielle Recht auf der Seite des Einzelnen, aber formell
ist dieser im Unrecht, wenn er sein Recht innerhalb der Gemeinschaft
geltend macht. Will er es geltend machen, so muß er vorher das Verhältnis
der Unterordnung lösen und aus der Gemeinschaft ausscheiden. Im Staat ist
die Sache nicht so gefährlich wie in der Kirche, weil er es nicht mit Meinungen
zu thun hat. Zuweilen verfällt er freilich in die Thorheit, Meinungen zu
verfolgen, für gewöhnlich aber verbietet er bloß Handlungen, und solchen Ver¬
boten kann man sich meistens ohne Gewissenszwang fügen. Eine orthodoxe
Kirche hingegen, die von Meinungen die Seligkeit abhängig macht, kann das,
was beim Staate Thorheit wäre, nicht vermeiden; sie muß die Meinungen
verbieten, die sie für falsch hält. Und da sich die Anhänger verbotner Meinungen
dem Verbot nicht ohne Gewissenszwang fügen können, so bleibt ihnen kein
andrer ehrenhafter Ausweg übrig, als aus der Kirche auszuscheiden, was ja
heute glücklicherweise viel leichter ist als in der Zeit des euMs rsgio illius
i'öliM und nicht zur Auswanderung zwingt.

Noch in einer zweiten Beziehung sind im Staate beide Teile, die Autorität
und der Einzelne, besser vor Konflikten geschützt als in der Kirche, indem dort
die Verfassung eine Opposition möglich macht, die sich in gesetzlichen Grenzen


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Leitung der Weltgeschichte. Die Dogmen aber verspotten wir keineswegs,
nachdem sie aufgehört haben, Zauberformeln für uns zu sein, an deren Be¬
kenntnis unsre Seligkeit hängt, sondern wir schützen ihren idealen Wert, den
sie als Symbole tiefer Wahrheiten haben.

Es hätte übrigens nicht einmal des Zusammenstoßes zwischen Vincenz von
Lerm und Pius IX. bedurft, um eiuen Döllinger allmählich aus der Kirche
hinauszutreiben. Ein Mann von universellen Wissen läßt sich in kein Dogmen¬
gehege einsperren, und Pietätsrücksichten, wie sie auch weite und klare Geister
manchmal vom Ausbrechen zurückhalten, hatten keine Macht über ihn. In einer
Vorlesung über Reformationsgeschichte im Sommer 1861 kam er auf die Ver¬
urteilung des Jansenismus zu sprechen. Die in der Bulle IIiÜAsuiw8 ge¬
wählte Form der Zensurierung einzelner Sätze, bemerkte er u. a., habe ihre
starken Schattenseiten. „Nur eins! In dieser Bulle ist der Satz verworfen:
Die Furcht vor einer ungerechten Exkommunikation darf uns nicht abhalten,
unsre Schuldigkeit zu thun — ein Satz, der jedem ABC-Kinde als wahr
erscheint." Damit hatte er sich schon außerhalb der Kirche gestellt. Denn das
Organisationsprinzip aller Gesellschaften, mögen sie Staaten, Kirchen, Gemeinden
oder Vereine heißen, ist eben die Unterordnung des individuellen unter das
Gesamturteil, wobei es auf eins hinauskommt, ob dieses Gesamturteil demo¬
kratisch durch eine Volksversammlung oder monarchisch durch den Mund eines
Oberhauptes ausgesprochen wird. Der Untergebne hat nicht das Recht, ein
Urteil seiner Obrigkeit für ungerecht zu erklären, etwas für seine Schuldigkeit
zu halten, was der Vorgesetzte verbietet. Unzähligen«! steht ja in solchen
Konsliktsfüllen das materielle Recht auf der Seite des Einzelnen, aber formell
ist dieser im Unrecht, wenn er sein Recht innerhalb der Gemeinschaft
geltend macht. Will er es geltend machen, so muß er vorher das Verhältnis
der Unterordnung lösen und aus der Gemeinschaft ausscheiden. Im Staat ist
die Sache nicht so gefährlich wie in der Kirche, weil er es nicht mit Meinungen
zu thun hat. Zuweilen verfällt er freilich in die Thorheit, Meinungen zu
verfolgen, für gewöhnlich aber verbietet er bloß Handlungen, und solchen Ver¬
boten kann man sich meistens ohne Gewissenszwang fügen. Eine orthodoxe
Kirche hingegen, die von Meinungen die Seligkeit abhängig macht, kann das,
was beim Staate Thorheit wäre, nicht vermeiden; sie muß die Meinungen
verbieten, die sie für falsch hält. Und da sich die Anhänger verbotner Meinungen
dem Verbot nicht ohne Gewissenszwang fügen können, so bleibt ihnen kein
andrer ehrenhafter Ausweg übrig, als aus der Kirche auszuscheiden, was ja
heute glücklicherweise viel leichter ist als in der Zeit des euMs rsgio illius
i'öliM und nicht zur Auswanderung zwingt.

Noch in einer zweiten Beziehung sind im Staate beide Teile, die Autorität
und der Einzelne, besser vor Konflikten geschützt als in der Kirche, indem dort
die Verfassung eine Opposition möglich macht, die sich in gesetzlichen Grenzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/583>, abgerufen am 28.09.2024.