Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
völlingers Jugend

angekommen, vernahm er mit Betrübnis, daß Döllinger im bevorstehenden
Semester vergleichende Anatomie nicht lese. Er machte wenigstens einen Besuch.
Da sagte ihm Döllinger: Wozu Vorlesung? Bringen Sie Tiere zu mir, und
zergliedern Sie sie hier. Daß noch Ferien waren, verschlug nichts; Bär durfte
zu jeder beliebigen Stunde kommen. Das wurde nun wochenlang betrieben.
Döllinger ließ sich dabei in seiner eignen Arbeit nicht stören, trat nur ab und
zu an Bars Tisch, machte ihn auf dieses und jenes aufmerksam, gab ihm
einige Anweisungen und lehrte ihn die Litteratur kennen. So machte er es
auch mit andern Schülern. Die fortgeschrittenern faßte er zu einer zootomisch-
Physiologischen Gesellschaft zusammen, deren Arbeiten er als Mitlernender
leitete. Die Kollegien wurden natürlich nicht vernachlässigt, und man rühmte
an seinen Vortrügen die "tief eindringende, magische Kraft," die logische Klar¬
heit, die Lebendigkeit und Anschaulichkeit, aber die Übungen und Versuche
blieben die Hauptsache. Er verlegte das Laboratorium in sein Haus, und
hier wurde auch die Brutmaschine aufgestellt, mit deren Hilfe zum erstenmale
die Entwicklung des Eies zum Hühnchen beobachtet und die Embryologie be¬
gründet worden ist. Der starke Verbrauch von Eiern verursachte eine Eier¬
teuerung in Würzburg. Ein wohlhabender Balle gab, von Bär bewogen, das
Geld dazu und honorierte auch d'Akkon, der die Zeichnungen anzufertigen be¬
auftragt wurde. Döllinger sprach nie gegen einen seiner Schüler einen Tadel
aus, wohl aber spendete er oft anerkennendes Lob. Sein Verkehr mit ihnen
war sehr herzlich; oft nahm er sie auf Ausflüge mit, auf denen nicht bloß
Zoologie betrieben, sondern auch das Wirtshaus besucht und die Dorfkirmes
mitgefeiert wurde. Als der Fttrstprimas Karl Theodor von Dalberg 1817
gestorben war, wurde seine Büste im Bibliotheksaale der Universität aufgestellt,
weil er ihr einen Fonds von 68000 Gulden auf Bücher zugewiesen hatte.
Döllinger hatte die Weiherede zu halten. Einen heutigen Patrioten -- und
Döllinger war deutsch gesinnt -- würde diese Aufgabe einigermaßen in Ver¬
legenheit setzen; wie sich Döllinger ihrer entledigte, mögen einige Proben aus
seiner sehr merkwürdigen Rede zeigen.

Ein Kleinstaat, der sich auf fremde Großmut und auf das europäische Gleich¬
gewicht verlasse, könne ohne Hochschule bestehen; es genüge, wenn seine Bürger
durch Volksschulen fürs Praktische Leben vorbereitet würden. "Der große Staat
kann damit nicht bestehen, er bedarf eines großen Ansehens, um mit Nachdruck
sprechen zu können, wo es auf Entscheidung des Völkerschicksals ankommt; und
wodurch konnte er die Achtung, welche er fordert, verdienen, als durch seinen fest
ausgebildeten Nationalgeist? Diesen aber müssen Künste und Wissenschaften erzeugen,
die Nationallitteratur muß ihn nähren und erhalten. So fordert es die europäische
Kultur, so lehrt es uns auch die Geschichte; zur Zeit, wo am herrlichsten in einem
Volke die Wissenschaften blühten, da war auch seine Kraft nach außen am voll¬
kommensten entwickelt, seine historische Bedeutung am glänzendsten. Mit welchem
Schimmer haben nicht Frankreichs Gelehrte ihren König Ludwig XIV. umgeben?


völlingers Jugend

angekommen, vernahm er mit Betrübnis, daß Döllinger im bevorstehenden
Semester vergleichende Anatomie nicht lese. Er machte wenigstens einen Besuch.
Da sagte ihm Döllinger: Wozu Vorlesung? Bringen Sie Tiere zu mir, und
zergliedern Sie sie hier. Daß noch Ferien waren, verschlug nichts; Bär durfte
zu jeder beliebigen Stunde kommen. Das wurde nun wochenlang betrieben.
Döllinger ließ sich dabei in seiner eignen Arbeit nicht stören, trat nur ab und
zu an Bars Tisch, machte ihn auf dieses und jenes aufmerksam, gab ihm
einige Anweisungen und lehrte ihn die Litteratur kennen. So machte er es
auch mit andern Schülern. Die fortgeschrittenern faßte er zu einer zootomisch-
Physiologischen Gesellschaft zusammen, deren Arbeiten er als Mitlernender
leitete. Die Kollegien wurden natürlich nicht vernachlässigt, und man rühmte
an seinen Vortrügen die „tief eindringende, magische Kraft," die logische Klar¬
heit, die Lebendigkeit und Anschaulichkeit, aber die Übungen und Versuche
blieben die Hauptsache. Er verlegte das Laboratorium in sein Haus, und
hier wurde auch die Brutmaschine aufgestellt, mit deren Hilfe zum erstenmale
die Entwicklung des Eies zum Hühnchen beobachtet und die Embryologie be¬
gründet worden ist. Der starke Verbrauch von Eiern verursachte eine Eier¬
teuerung in Würzburg. Ein wohlhabender Balle gab, von Bär bewogen, das
Geld dazu und honorierte auch d'Akkon, der die Zeichnungen anzufertigen be¬
auftragt wurde. Döllinger sprach nie gegen einen seiner Schüler einen Tadel
aus, wohl aber spendete er oft anerkennendes Lob. Sein Verkehr mit ihnen
war sehr herzlich; oft nahm er sie auf Ausflüge mit, auf denen nicht bloß
Zoologie betrieben, sondern auch das Wirtshaus besucht und die Dorfkirmes
mitgefeiert wurde. Als der Fttrstprimas Karl Theodor von Dalberg 1817
gestorben war, wurde seine Büste im Bibliotheksaale der Universität aufgestellt,
weil er ihr einen Fonds von 68000 Gulden auf Bücher zugewiesen hatte.
Döllinger hatte die Weiherede zu halten. Einen heutigen Patrioten — und
Döllinger war deutsch gesinnt — würde diese Aufgabe einigermaßen in Ver¬
legenheit setzen; wie sich Döllinger ihrer entledigte, mögen einige Proben aus
seiner sehr merkwürdigen Rede zeigen.

Ein Kleinstaat, der sich auf fremde Großmut und auf das europäische Gleich¬
gewicht verlasse, könne ohne Hochschule bestehen; es genüge, wenn seine Bürger
durch Volksschulen fürs Praktische Leben vorbereitet würden. „Der große Staat
kann damit nicht bestehen, er bedarf eines großen Ansehens, um mit Nachdruck
sprechen zu können, wo es auf Entscheidung des Völkerschicksals ankommt; und
wodurch konnte er die Achtung, welche er fordert, verdienen, als durch seinen fest
ausgebildeten Nationalgeist? Diesen aber müssen Künste und Wissenschaften erzeugen,
die Nationallitteratur muß ihn nähren und erhalten. So fordert es die europäische
Kultur, so lehrt es uns auch die Geschichte; zur Zeit, wo am herrlichsten in einem
Volke die Wissenschaften blühten, da war auch seine Kraft nach außen am voll¬
kommensten entwickelt, seine historische Bedeutung am glänzendsten. Mit welchem
Schimmer haben nicht Frankreichs Gelehrte ihren König Ludwig XIV. umgeben?


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0523" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230955"/>
          <fw type="header" place="top"> völlingers Jugend</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1772" prev="#ID_1771"> angekommen, vernahm er mit Betrübnis, daß Döllinger im bevorstehenden<lb/>
Semester vergleichende Anatomie nicht lese. Er machte wenigstens einen Besuch.<lb/>
Da sagte ihm Döllinger: Wozu Vorlesung? Bringen Sie Tiere zu mir, und<lb/>
zergliedern Sie sie hier. Daß noch Ferien waren, verschlug nichts; Bär durfte<lb/>
zu jeder beliebigen Stunde kommen. Das wurde nun wochenlang betrieben.<lb/>
Döllinger ließ sich dabei in seiner eignen Arbeit nicht stören, trat nur ab und<lb/>
zu an Bars Tisch, machte ihn auf dieses und jenes aufmerksam, gab ihm<lb/>
einige Anweisungen und lehrte ihn die Litteratur kennen. So machte er es<lb/>
auch mit andern Schülern. Die fortgeschrittenern faßte er zu einer zootomisch-<lb/>
Physiologischen Gesellschaft zusammen, deren Arbeiten er als Mitlernender<lb/>
leitete. Die Kollegien wurden natürlich nicht vernachlässigt, und man rühmte<lb/>
an seinen Vortrügen die &#x201E;tief eindringende, magische Kraft," die logische Klar¬<lb/>
heit, die Lebendigkeit und Anschaulichkeit, aber die Übungen und Versuche<lb/>
blieben die Hauptsache. Er verlegte das Laboratorium in sein Haus, und<lb/>
hier wurde auch die Brutmaschine aufgestellt, mit deren Hilfe zum erstenmale<lb/>
die Entwicklung des Eies zum Hühnchen beobachtet und die Embryologie be¬<lb/>
gründet worden ist. Der starke Verbrauch von Eiern verursachte eine Eier¬<lb/>
teuerung in Würzburg. Ein wohlhabender Balle gab, von Bär bewogen, das<lb/>
Geld dazu und honorierte auch d'Akkon, der die Zeichnungen anzufertigen be¬<lb/>
auftragt wurde. Döllinger sprach nie gegen einen seiner Schüler einen Tadel<lb/>
aus, wohl aber spendete er oft anerkennendes Lob. Sein Verkehr mit ihnen<lb/>
war sehr herzlich; oft nahm er sie auf Ausflüge mit, auf denen nicht bloß<lb/>
Zoologie betrieben, sondern auch das Wirtshaus besucht und die Dorfkirmes<lb/>
mitgefeiert wurde. Als der Fttrstprimas Karl Theodor von Dalberg 1817<lb/>
gestorben war, wurde seine Büste im Bibliotheksaale der Universität aufgestellt,<lb/>
weil er ihr einen Fonds von 68000 Gulden auf Bücher zugewiesen hatte.<lb/>
Döllinger hatte die Weiherede zu halten. Einen heutigen Patrioten &#x2014; und<lb/>
Döllinger war deutsch gesinnt &#x2014; würde diese Aufgabe einigermaßen in Ver¬<lb/>
legenheit setzen; wie sich Döllinger ihrer entledigte, mögen einige Proben aus<lb/>
seiner sehr merkwürdigen Rede zeigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1773" next="#ID_1774"> Ein Kleinstaat, der sich auf fremde Großmut und auf das europäische Gleich¬<lb/>
gewicht verlasse, könne ohne Hochschule bestehen; es genüge, wenn seine Bürger<lb/>
durch Volksschulen fürs Praktische Leben vorbereitet würden. &#x201E;Der große Staat<lb/>
kann damit nicht bestehen, er bedarf eines großen Ansehens, um mit Nachdruck<lb/>
sprechen zu können, wo es auf Entscheidung des Völkerschicksals ankommt; und<lb/>
wodurch konnte er die Achtung, welche er fordert, verdienen, als durch seinen fest<lb/>
ausgebildeten Nationalgeist? Diesen aber müssen Künste und Wissenschaften erzeugen,<lb/>
die Nationallitteratur muß ihn nähren und erhalten. So fordert es die europäische<lb/>
Kultur, so lehrt es uns auch die Geschichte; zur Zeit, wo am herrlichsten in einem<lb/>
Volke die Wissenschaften blühten, da war auch seine Kraft nach außen am voll¬<lb/>
kommensten entwickelt, seine historische Bedeutung am glänzendsten. Mit welchem<lb/>
Schimmer haben nicht Frankreichs Gelehrte ihren König Ludwig XIV. umgeben?</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0523] völlingers Jugend angekommen, vernahm er mit Betrübnis, daß Döllinger im bevorstehenden Semester vergleichende Anatomie nicht lese. Er machte wenigstens einen Besuch. Da sagte ihm Döllinger: Wozu Vorlesung? Bringen Sie Tiere zu mir, und zergliedern Sie sie hier. Daß noch Ferien waren, verschlug nichts; Bär durfte zu jeder beliebigen Stunde kommen. Das wurde nun wochenlang betrieben. Döllinger ließ sich dabei in seiner eignen Arbeit nicht stören, trat nur ab und zu an Bars Tisch, machte ihn auf dieses und jenes aufmerksam, gab ihm einige Anweisungen und lehrte ihn die Litteratur kennen. So machte er es auch mit andern Schülern. Die fortgeschrittenern faßte er zu einer zootomisch- Physiologischen Gesellschaft zusammen, deren Arbeiten er als Mitlernender leitete. Die Kollegien wurden natürlich nicht vernachlässigt, und man rühmte an seinen Vortrügen die „tief eindringende, magische Kraft," die logische Klar¬ heit, die Lebendigkeit und Anschaulichkeit, aber die Übungen und Versuche blieben die Hauptsache. Er verlegte das Laboratorium in sein Haus, und hier wurde auch die Brutmaschine aufgestellt, mit deren Hilfe zum erstenmale die Entwicklung des Eies zum Hühnchen beobachtet und die Embryologie be¬ gründet worden ist. Der starke Verbrauch von Eiern verursachte eine Eier¬ teuerung in Würzburg. Ein wohlhabender Balle gab, von Bär bewogen, das Geld dazu und honorierte auch d'Akkon, der die Zeichnungen anzufertigen be¬ auftragt wurde. Döllinger sprach nie gegen einen seiner Schüler einen Tadel aus, wohl aber spendete er oft anerkennendes Lob. Sein Verkehr mit ihnen war sehr herzlich; oft nahm er sie auf Ausflüge mit, auf denen nicht bloß Zoologie betrieben, sondern auch das Wirtshaus besucht und die Dorfkirmes mitgefeiert wurde. Als der Fttrstprimas Karl Theodor von Dalberg 1817 gestorben war, wurde seine Büste im Bibliotheksaale der Universität aufgestellt, weil er ihr einen Fonds von 68000 Gulden auf Bücher zugewiesen hatte. Döllinger hatte die Weiherede zu halten. Einen heutigen Patrioten — und Döllinger war deutsch gesinnt — würde diese Aufgabe einigermaßen in Ver¬ legenheit setzen; wie sich Döllinger ihrer entledigte, mögen einige Proben aus seiner sehr merkwürdigen Rede zeigen. Ein Kleinstaat, der sich auf fremde Großmut und auf das europäische Gleich¬ gewicht verlasse, könne ohne Hochschule bestehen; es genüge, wenn seine Bürger durch Volksschulen fürs Praktische Leben vorbereitet würden. „Der große Staat kann damit nicht bestehen, er bedarf eines großen Ansehens, um mit Nachdruck sprechen zu können, wo es auf Entscheidung des Völkerschicksals ankommt; und wodurch konnte er die Achtung, welche er fordert, verdienen, als durch seinen fest ausgebildeten Nationalgeist? Diesen aber müssen Künste und Wissenschaften erzeugen, die Nationallitteratur muß ihn nähren und erhalten. So fordert es die europäische Kultur, so lehrt es uns auch die Geschichte; zur Zeit, wo am herrlichsten in einem Volke die Wissenschaften blühten, da war auch seine Kraft nach außen am voll¬ kommensten entwickelt, seine historische Bedeutung am glänzendsten. Mit welchem Schimmer haben nicht Frankreichs Gelehrte ihren König Ludwig XIV. umgeben?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/523
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/523>, abgerufen am 28.09.2024.