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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über griechische und römische verfluchungstaseln

seinen Patronen, Rechtsbeiständen, Zeugen oder Richtern; denn zahlreiche dieser
Verfluchungen sind durch Prozesse veranlaßt worden.

Unter den Göttern, die zur Ausführung des Fluches angerufen werden,
treffen wir am häufigsten den Hermes; er ist ja der Totengeleiter (Psycho-
pompos) und als solcher der einzige Gott, der zwischen Ober- und Unterwelt
beständig verkehrt. Seine ihm auf den Täfelchen gegebnen Beinamen ent¬
sprechen dieser Bedeutung: als Chthonios ist er der "Unterirdische," als
Katochos der "Gewalthaber" über die Seelen; meist wird bei der Anrufung
auch der Wunsch ausgesprochen, daß Hermes diesen oder jenen in seine Ge¬
walt nehme oder darin behalte. Ferner werden angerufen die Mutter Erde, die
Persephone, seltner deren Gatte Hades; häufig dagegen Hekate, die Lieblings¬
göttin jedes Zauberwesens. Andre sind mehr vereinzelt, so die Erinnyen, Dike,
die Praxidiken, der Tartaros, die Dämonen. -- So viel über die attischen Ver¬
fluchungstafeln, die zeitlich, soweit eine Datierung möglich ist, der Mehrzahl nach
dem dritten Jahrhundert v. Chr. anzugehören scheinen; eine einzige wird noch
dem fünften zugeschrieben, mehrere entstammen dem vierten, wenige dem
zweiten; tiefer geht, dem Alphabet und sonstigen äußern Kennzeichen nach,
keine einzige Tafel herab.

Was die übrigen griechischen Verfluchungstafeln betrifft, so sind diese an
sehr verschiednen Orten gefunden und gehören auch sehr verschiednen Zeiten
an. Eine thebanische rührt aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. her und
weicht in der Form ganz von der attischen ab: der Verfluchte soll elend sein,
die Erde soll ihm nicht Nahrung geben, noch das Meer; die Frau, deren Ver¬
fluchung dieselbe Tafel enthält, soll unglücklich und elend sein, sie soll nicht
Liebesgenuß noch Ehe finden, keine Arbeit soll ihr gelingen usw. Wir haben
ferner solche Tafeln aus Tanagra, Melos, Corcyra; aus Kreta rührt eine
Bleitafel her, die, wie sonst öfters Steininschriften, eine Verfluchung dessen
enthält, der das Grab schändet; "nicht Erde noch Meer soll ihm etwas tragen,
das Fieber soll ihn brennen, die Glieder ihm anschwellen, die Zunge ihm er¬
starren" u. f. f. Eine besonders interessante derartige Tafel aus Bruttium
hat Wachsmuth vor längerer Zeit im Rheinischen Museum für Philologie be¬
sprochen; sie ist von einer Frau gegen den Dieb ihrer Kleider gerichtet. Eine
größere Zahl solcher Täfelchen stammt aus Knidos, alle dem zweiten Jahr¬
hundert v. Chr. angehörig; sie waren nicht in Gräbern, sondern am Heilig¬
tum der Demeter angebracht. Ihr Zweck ist, Übelthäter zu zwingen, ihr Unrecht
wieder gut zu machen, oder sie unschädlich zu machen, und so gehen sie gegen
Diebe, Verleumder, Pfandleiher, die das Pfand nicht zurückgeben, Giftmischer,
Mörder, Kaufleute mit falschem Gewicht, Finder Verlorner Gegenstände, die
solche zurückbehalten u. dergl. in. Angerufen werden dafür Demeter, Perse¬
phone, Hades und Hermes. Aus noch späterer Zeit stammen Täfelchen aus
Megara.


Über griechische und römische verfluchungstaseln

seinen Patronen, Rechtsbeiständen, Zeugen oder Richtern; denn zahlreiche dieser
Verfluchungen sind durch Prozesse veranlaßt worden.

Unter den Göttern, die zur Ausführung des Fluches angerufen werden,
treffen wir am häufigsten den Hermes; er ist ja der Totengeleiter (Psycho-
pompos) und als solcher der einzige Gott, der zwischen Ober- und Unterwelt
beständig verkehrt. Seine ihm auf den Täfelchen gegebnen Beinamen ent¬
sprechen dieser Bedeutung: als Chthonios ist er der „Unterirdische," als
Katochos der „Gewalthaber" über die Seelen; meist wird bei der Anrufung
auch der Wunsch ausgesprochen, daß Hermes diesen oder jenen in seine Ge¬
walt nehme oder darin behalte. Ferner werden angerufen die Mutter Erde, die
Persephone, seltner deren Gatte Hades; häufig dagegen Hekate, die Lieblings¬
göttin jedes Zauberwesens. Andre sind mehr vereinzelt, so die Erinnyen, Dike,
die Praxidiken, der Tartaros, die Dämonen. — So viel über die attischen Ver¬
fluchungstafeln, die zeitlich, soweit eine Datierung möglich ist, der Mehrzahl nach
dem dritten Jahrhundert v. Chr. anzugehören scheinen; eine einzige wird noch
dem fünften zugeschrieben, mehrere entstammen dem vierten, wenige dem
zweiten; tiefer geht, dem Alphabet und sonstigen äußern Kennzeichen nach,
keine einzige Tafel herab.

Was die übrigen griechischen Verfluchungstafeln betrifft, so sind diese an
sehr verschiednen Orten gefunden und gehören auch sehr verschiednen Zeiten
an. Eine thebanische rührt aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. her und
weicht in der Form ganz von der attischen ab: der Verfluchte soll elend sein,
die Erde soll ihm nicht Nahrung geben, noch das Meer; die Frau, deren Ver¬
fluchung dieselbe Tafel enthält, soll unglücklich und elend sein, sie soll nicht
Liebesgenuß noch Ehe finden, keine Arbeit soll ihr gelingen usw. Wir haben
ferner solche Tafeln aus Tanagra, Melos, Corcyra; aus Kreta rührt eine
Bleitafel her, die, wie sonst öfters Steininschriften, eine Verfluchung dessen
enthält, der das Grab schändet; „nicht Erde noch Meer soll ihm etwas tragen,
das Fieber soll ihn brennen, die Glieder ihm anschwellen, die Zunge ihm er¬
starren" u. f. f. Eine besonders interessante derartige Tafel aus Bruttium
hat Wachsmuth vor längerer Zeit im Rheinischen Museum für Philologie be¬
sprochen; sie ist von einer Frau gegen den Dieb ihrer Kleider gerichtet. Eine
größere Zahl solcher Täfelchen stammt aus Knidos, alle dem zweiten Jahr¬
hundert v. Chr. angehörig; sie waren nicht in Gräbern, sondern am Heilig¬
tum der Demeter angebracht. Ihr Zweck ist, Übelthäter zu zwingen, ihr Unrecht
wieder gut zu machen, oder sie unschädlich zu machen, und so gehen sie gegen
Diebe, Verleumder, Pfandleiher, die das Pfand nicht zurückgeben, Giftmischer,
Mörder, Kaufleute mit falschem Gewicht, Finder Verlorner Gegenstände, die
solche zurückbehalten u. dergl. in. Angerufen werden dafür Demeter, Perse¬
phone, Hades und Hermes. Aus noch späterer Zeit stammen Täfelchen aus
Megara.


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[0492] Über griechische und römische verfluchungstaseln seinen Patronen, Rechtsbeiständen, Zeugen oder Richtern; denn zahlreiche dieser Verfluchungen sind durch Prozesse veranlaßt worden. Unter den Göttern, die zur Ausführung des Fluches angerufen werden, treffen wir am häufigsten den Hermes; er ist ja der Totengeleiter (Psycho- pompos) und als solcher der einzige Gott, der zwischen Ober- und Unterwelt beständig verkehrt. Seine ihm auf den Täfelchen gegebnen Beinamen ent¬ sprechen dieser Bedeutung: als Chthonios ist er der „Unterirdische," als Katochos der „Gewalthaber" über die Seelen; meist wird bei der Anrufung auch der Wunsch ausgesprochen, daß Hermes diesen oder jenen in seine Ge¬ walt nehme oder darin behalte. Ferner werden angerufen die Mutter Erde, die Persephone, seltner deren Gatte Hades; häufig dagegen Hekate, die Lieblings¬ göttin jedes Zauberwesens. Andre sind mehr vereinzelt, so die Erinnyen, Dike, die Praxidiken, der Tartaros, die Dämonen. — So viel über die attischen Ver¬ fluchungstafeln, die zeitlich, soweit eine Datierung möglich ist, der Mehrzahl nach dem dritten Jahrhundert v. Chr. anzugehören scheinen; eine einzige wird noch dem fünften zugeschrieben, mehrere entstammen dem vierten, wenige dem zweiten; tiefer geht, dem Alphabet und sonstigen äußern Kennzeichen nach, keine einzige Tafel herab. Was die übrigen griechischen Verfluchungstafeln betrifft, so sind diese an sehr verschiednen Orten gefunden und gehören auch sehr verschiednen Zeiten an. Eine thebanische rührt aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. her und weicht in der Form ganz von der attischen ab: der Verfluchte soll elend sein, die Erde soll ihm nicht Nahrung geben, noch das Meer; die Frau, deren Ver¬ fluchung dieselbe Tafel enthält, soll unglücklich und elend sein, sie soll nicht Liebesgenuß noch Ehe finden, keine Arbeit soll ihr gelingen usw. Wir haben ferner solche Tafeln aus Tanagra, Melos, Corcyra; aus Kreta rührt eine Bleitafel her, die, wie sonst öfters Steininschriften, eine Verfluchung dessen enthält, der das Grab schändet; „nicht Erde noch Meer soll ihm etwas tragen, das Fieber soll ihn brennen, die Glieder ihm anschwellen, die Zunge ihm er¬ starren" u. f. f. Eine besonders interessante derartige Tafel aus Bruttium hat Wachsmuth vor längerer Zeit im Rheinischen Museum für Philologie be¬ sprochen; sie ist von einer Frau gegen den Dieb ihrer Kleider gerichtet. Eine größere Zahl solcher Täfelchen stammt aus Knidos, alle dem zweiten Jahr¬ hundert v. Chr. angehörig; sie waren nicht in Gräbern, sondern am Heilig¬ tum der Demeter angebracht. Ihr Zweck ist, Übelthäter zu zwingen, ihr Unrecht wieder gut zu machen, oder sie unschädlich zu machen, und so gehen sie gegen Diebe, Verleumder, Pfandleiher, die das Pfand nicht zurückgeben, Giftmischer, Mörder, Kaufleute mit falschem Gewicht, Finder Verlorner Gegenstände, die solche zurückbehalten u. dergl. in. Angerufen werden dafür Demeter, Perse¬ phone, Hades und Hermes. Aus noch späterer Zeit stammen Täfelchen aus Megara.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/492>, abgerufen am 28.09.2024.