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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Brei Revolutionen in der deutschen Litteratur

dischen Vorstellungen, Probleme, Farben in allein, was geschaffen wird, wieder¬
zufinden, ist in litterarischen und künstlerischen Revolutionen eben stärker, als
der Zug zur einfachen Wahrheit, und als die Einsicht, daß die Weltweite einer
großen Dichtung und Kunst eine Fülle selbständiger Individuen nicht bloß er¬
trägt, sondern fordert. Lieber begnügt sich die herrschende Stimmung mit dem
dürftigsten Abglanz des gerade modischen Lichts, ja an Stelle von zeitgemäßen
Gestalten mit bloßen Schatten, als daß sie sich zur Anerkennung poetischer
Leistungen verstünde, die den Tages- und Augenblicksstempel nicht tragen.

Durch alle drei Revolutionen hindurch laßt sich erweisen, wie diese An¬
wendung falscher Maßstäbe, diese Verirrung einseitiger Kritik nicht bloß ein
Hemmnis freier und gerechter Würdigung bedeutender Schöpfungen gewesen
ist, sondern oft selbst in Widerspruch mit den eignen ursprünglichen Forde¬
rungen an Natur, Selbständigkeit und künstlerischen Ernst der Bewegung oder
Richtung gerät. Und auch hier kann man sagen, daß die Einseitigkeit und
die Willkür in dem Maße gewachsen sind, als die Litteratur immer breiter
und das Litteraturpublikum immer massenhafter geworden ist. Bei aller oft
naiven Vorliebe der romantischen Kritik für romantischen Aufputz und roman¬
tische Klingklaugeffekte, bei der unverhohlueu Bevorzugung der modisch ge¬
färbten Erfindung vor der jeder andern bewahrte doch die romantische Kritik
ein Bewußtsein, daß es andre, in gewissen Fällen wvhlberechtigte poetische
Anschauungen und Ausdrucksformen gebe, als die von ihr gepriesenen. So
leidenschaftlich und ungeduldig das junge Deutschland und die ihm verwandten
junghegelschen Philosophen und Kritiker politisches Blut in alle Adern der
Litteratur einzuführen suchten, so vergaßen sie nicht völlig, daß neben dem
von ihnen bevorzugten politischen Leben ein andres treibe, webe und poetische
Spiegelung finde. Mitten zwischen die parteiliche Überschätzung der neuen,
die Unterschätzung der alten, das Menschendasein lenkenden Mächte, die in der
Litteraturkritik der dreißiger und ersten vierziger Jahre vorwiegt, drängt sich
die gelegentliche Erkenntnis herein, daß der Bauer, in diesem Falle der poetisch
dargestellte nichtpolitische Mensch, sozusagen auch ein Mensch sei. Dieses
Stück einfacher Vernunft und Gerechtigkeit scheint der modernsten Kritik ab¬
handen gekommen zu sein. Weil die poetische Darstellung nach ihrem Sinne
beinahe ausschließlich auf die äußersten Spitzen des Lebens, die abnormsten
Konflikte, die schlimmsten Erdteile des Blutes, die unbildsamsten Charaktere
gestellt erscheint, leugnet die Kritik frischweg die Mitte des Lebens, leugnet
die Macht des Normalen und Gesunden, von der selbst ein naturalistischer
Ästhetiker wie Bölsche zugesteht, daß sie das große Prinzip der Natur sei,
"nirgendwo vollkommen erfüllt, aber über allem als ewiges Ziel schwebend,
niemals ganz realisiert, aber darum doch die unablässige Hoffnung des Realen."
Da dieses Zugeständnis wiederum das Weltbild an die Stelle des Zerrbildes
setzt und die Forderung an den Dichter, aus der sensationellen Übertreibung


Brei Revolutionen in der deutschen Litteratur

dischen Vorstellungen, Probleme, Farben in allein, was geschaffen wird, wieder¬
zufinden, ist in litterarischen und künstlerischen Revolutionen eben stärker, als
der Zug zur einfachen Wahrheit, und als die Einsicht, daß die Weltweite einer
großen Dichtung und Kunst eine Fülle selbständiger Individuen nicht bloß er¬
trägt, sondern fordert. Lieber begnügt sich die herrschende Stimmung mit dem
dürftigsten Abglanz des gerade modischen Lichts, ja an Stelle von zeitgemäßen
Gestalten mit bloßen Schatten, als daß sie sich zur Anerkennung poetischer
Leistungen verstünde, die den Tages- und Augenblicksstempel nicht tragen.

Durch alle drei Revolutionen hindurch laßt sich erweisen, wie diese An¬
wendung falscher Maßstäbe, diese Verirrung einseitiger Kritik nicht bloß ein
Hemmnis freier und gerechter Würdigung bedeutender Schöpfungen gewesen
ist, sondern oft selbst in Widerspruch mit den eignen ursprünglichen Forde¬
rungen an Natur, Selbständigkeit und künstlerischen Ernst der Bewegung oder
Richtung gerät. Und auch hier kann man sagen, daß die Einseitigkeit und
die Willkür in dem Maße gewachsen sind, als die Litteratur immer breiter
und das Litteraturpublikum immer massenhafter geworden ist. Bei aller oft
naiven Vorliebe der romantischen Kritik für romantischen Aufputz und roman¬
tische Klingklaugeffekte, bei der unverhohlueu Bevorzugung der modisch ge¬
färbten Erfindung vor der jeder andern bewahrte doch die romantische Kritik
ein Bewußtsein, daß es andre, in gewissen Fällen wvhlberechtigte poetische
Anschauungen und Ausdrucksformen gebe, als die von ihr gepriesenen. So
leidenschaftlich und ungeduldig das junge Deutschland und die ihm verwandten
junghegelschen Philosophen und Kritiker politisches Blut in alle Adern der
Litteratur einzuführen suchten, so vergaßen sie nicht völlig, daß neben dem
von ihnen bevorzugten politischen Leben ein andres treibe, webe und poetische
Spiegelung finde. Mitten zwischen die parteiliche Überschätzung der neuen,
die Unterschätzung der alten, das Menschendasein lenkenden Mächte, die in der
Litteraturkritik der dreißiger und ersten vierziger Jahre vorwiegt, drängt sich
die gelegentliche Erkenntnis herein, daß der Bauer, in diesem Falle der poetisch
dargestellte nichtpolitische Mensch, sozusagen auch ein Mensch sei. Dieses
Stück einfacher Vernunft und Gerechtigkeit scheint der modernsten Kritik ab¬
handen gekommen zu sein. Weil die poetische Darstellung nach ihrem Sinne
beinahe ausschließlich auf die äußersten Spitzen des Lebens, die abnormsten
Konflikte, die schlimmsten Erdteile des Blutes, die unbildsamsten Charaktere
gestellt erscheint, leugnet die Kritik frischweg die Mitte des Lebens, leugnet
die Macht des Normalen und Gesunden, von der selbst ein naturalistischer
Ästhetiker wie Bölsche zugesteht, daß sie das große Prinzip der Natur sei,
»nirgendwo vollkommen erfüllt, aber über allem als ewiges Ziel schwebend,
niemals ganz realisiert, aber darum doch die unablässige Hoffnung des Realen."
Da dieses Zugeständnis wiederum das Weltbild an die Stelle des Zerrbildes
setzt und die Forderung an den Dichter, aus der sensationellen Übertreibung


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[0483] Brei Revolutionen in der deutschen Litteratur dischen Vorstellungen, Probleme, Farben in allein, was geschaffen wird, wieder¬ zufinden, ist in litterarischen und künstlerischen Revolutionen eben stärker, als der Zug zur einfachen Wahrheit, und als die Einsicht, daß die Weltweite einer großen Dichtung und Kunst eine Fülle selbständiger Individuen nicht bloß er¬ trägt, sondern fordert. Lieber begnügt sich die herrschende Stimmung mit dem dürftigsten Abglanz des gerade modischen Lichts, ja an Stelle von zeitgemäßen Gestalten mit bloßen Schatten, als daß sie sich zur Anerkennung poetischer Leistungen verstünde, die den Tages- und Augenblicksstempel nicht tragen. Durch alle drei Revolutionen hindurch laßt sich erweisen, wie diese An¬ wendung falscher Maßstäbe, diese Verirrung einseitiger Kritik nicht bloß ein Hemmnis freier und gerechter Würdigung bedeutender Schöpfungen gewesen ist, sondern oft selbst in Widerspruch mit den eignen ursprünglichen Forde¬ rungen an Natur, Selbständigkeit und künstlerischen Ernst der Bewegung oder Richtung gerät. Und auch hier kann man sagen, daß die Einseitigkeit und die Willkür in dem Maße gewachsen sind, als die Litteratur immer breiter und das Litteraturpublikum immer massenhafter geworden ist. Bei aller oft naiven Vorliebe der romantischen Kritik für romantischen Aufputz und roman¬ tische Klingklaugeffekte, bei der unverhohlueu Bevorzugung der modisch ge¬ färbten Erfindung vor der jeder andern bewahrte doch die romantische Kritik ein Bewußtsein, daß es andre, in gewissen Fällen wvhlberechtigte poetische Anschauungen und Ausdrucksformen gebe, als die von ihr gepriesenen. So leidenschaftlich und ungeduldig das junge Deutschland und die ihm verwandten junghegelschen Philosophen und Kritiker politisches Blut in alle Adern der Litteratur einzuführen suchten, so vergaßen sie nicht völlig, daß neben dem von ihnen bevorzugten politischen Leben ein andres treibe, webe und poetische Spiegelung finde. Mitten zwischen die parteiliche Überschätzung der neuen, die Unterschätzung der alten, das Menschendasein lenkenden Mächte, die in der Litteraturkritik der dreißiger und ersten vierziger Jahre vorwiegt, drängt sich die gelegentliche Erkenntnis herein, daß der Bauer, in diesem Falle der poetisch dargestellte nichtpolitische Mensch, sozusagen auch ein Mensch sei. Dieses Stück einfacher Vernunft und Gerechtigkeit scheint der modernsten Kritik ab¬ handen gekommen zu sein. Weil die poetische Darstellung nach ihrem Sinne beinahe ausschließlich auf die äußersten Spitzen des Lebens, die abnormsten Konflikte, die schlimmsten Erdteile des Blutes, die unbildsamsten Charaktere gestellt erscheint, leugnet die Kritik frischweg die Mitte des Lebens, leugnet die Macht des Normalen und Gesunden, von der selbst ein naturalistischer Ästhetiker wie Bölsche zugesteht, daß sie das große Prinzip der Natur sei, »nirgendwo vollkommen erfüllt, aber über allem als ewiges Ziel schwebend, niemals ganz realisiert, aber darum doch die unablässige Hoffnung des Realen." Da dieses Zugeständnis wiederum das Weltbild an die Stelle des Zerrbildes setzt und die Forderung an den Dichter, aus der sensationellen Übertreibung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/483>, abgerufen am 28.09.2024.