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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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der auswärtigen Politik vorgelegt werden konnten; aber ich habe kaum in
einem einzigen Kapitel das Gefühl überwinden können, daß sein Optimismus
ihn verleitet, die Gefahren, von denen Italien bedroht ist, zu leicht zu nehmen.
Allerdings versöhnt dann wieder die Fülle der beigebrachten Thatsachen, die
uns erlaubt, ein eignes Urteil über manche Dinge zu bilden, über die wir uns
mit dem Verfasser nicht einigen können.

Wenn wir das Buch niederlegen und alles, was es lehrt, noch einmal
an unserm innern Sinn Vorbeigehen lassen, so verdichtet sich die Fülle des
Gelernten etwa zu folgenden Sätzen. Die Entwicklung des modernen Italiens
zum Einheitsstaat ist weniger ein Werk der Volkskraft, die ihre Unterdrücker
abschüttelt, als das Werk starker und feiner Geister, die als Verschwörer und
Diplomaten gewagte Spiele für ihr Land gewinnen. Frankreich und die
Revolution werden benutzt, ohne daß ihnen ein dauernder Einfluß auf die
Geschicke Italiens eingeräumt wird. Das junge Italien hat die Feuertaufe
gesucht und erhalten, aber nicht in stegreichen Schlachten. Daher sehlt seiner
Armee und Flotte noch heute die Weihe der Kraft. Und das Geheimnis der
Entmutigung, die die drei Verlornen Gefechte in Abessinien hervorgebracht
haben, liegt eben darin, daß selbst diese die Ungewißheit noch vergrößert haben,
ob Italien mit all seinen unverhältnismäßig großen Opfern für Heer und
Flotte die Sicherheit gegen äußere Angriffe erworben hat, ohne die alle andern
Lebensäußerungen und Anstrengungen vergeblich sind. Gewiß ist, daß die
Armee und die Flotte eine ungeheure Bedeutung für die innere Erziehung des
italienischen Volks haben. Das ist aber doch nur ein Nebenprodukt. Und
gegenüber der Hochschätzung dieser erziehenden Wirkung kann man sich doch
auch nicht des Gedankens entschlagen, daß darin eine ähnliche Neigung wie
bei den Franzosen hervortritt, die ganze Kraft des Staats in der Armee ver¬
körpert zu sehen, die doch im ganzen Volke sein muß, und zu dieser Kraft mit
dem Gefühle aufzublicken, das der Schwache, der Zerfahrne, Ordnungslvse
vor dem bewußten, disziplinierten, pünktlich gehorchenden Willen empfindet.
Wie die geographische Lage Italien zwingt, Seemacht zu sein, und mit welchen
gewaltigen Opfern seine maritime Machtstellung geschaffen worden ist, weist
unser Buch sehr gut nach. Aber auch hier die Kehrseite: der großen, kost¬
spieligen Flotte entspricht weder der Seehandel noch der Kolonialbesitz des
heutigen Italiens. Die Machtsphäre Italiens zur See ist durch das Mittel¬
meer gegeben, diese aber durch Italiens angeblich treusten Freund, England,
am allermeisten eingeengt.

Eine zweite Grundthatsache, über die wir uus klar werden, ist die Armut
des italienischen Bodens. Mehr dem geologischen Bau und dem Klima als
der Aussaugung, Entwaldung, Versumpfung, Besitzverteiluug ist die geringe
Ausdehnung des angebauten Landes zuzuschreiben. Nicht viel über ein Drittel
des Landes trägt Äcker, Weinberge. Garten u. dergl.; sast ein Viertel ist ganz


Grenzlwten II I89V

der auswärtigen Politik vorgelegt werden konnten; aber ich habe kaum in
einem einzigen Kapitel das Gefühl überwinden können, daß sein Optimismus
ihn verleitet, die Gefahren, von denen Italien bedroht ist, zu leicht zu nehmen.
Allerdings versöhnt dann wieder die Fülle der beigebrachten Thatsachen, die
uns erlaubt, ein eignes Urteil über manche Dinge zu bilden, über die wir uns
mit dem Verfasser nicht einigen können.

Wenn wir das Buch niederlegen und alles, was es lehrt, noch einmal
an unserm innern Sinn Vorbeigehen lassen, so verdichtet sich die Fülle des
Gelernten etwa zu folgenden Sätzen. Die Entwicklung des modernen Italiens
zum Einheitsstaat ist weniger ein Werk der Volkskraft, die ihre Unterdrücker
abschüttelt, als das Werk starker und feiner Geister, die als Verschwörer und
Diplomaten gewagte Spiele für ihr Land gewinnen. Frankreich und die
Revolution werden benutzt, ohne daß ihnen ein dauernder Einfluß auf die
Geschicke Italiens eingeräumt wird. Das junge Italien hat die Feuertaufe
gesucht und erhalten, aber nicht in stegreichen Schlachten. Daher sehlt seiner
Armee und Flotte noch heute die Weihe der Kraft. Und das Geheimnis der
Entmutigung, die die drei Verlornen Gefechte in Abessinien hervorgebracht
haben, liegt eben darin, daß selbst diese die Ungewißheit noch vergrößert haben,
ob Italien mit all seinen unverhältnismäßig großen Opfern für Heer und
Flotte die Sicherheit gegen äußere Angriffe erworben hat, ohne die alle andern
Lebensäußerungen und Anstrengungen vergeblich sind. Gewiß ist, daß die
Armee und die Flotte eine ungeheure Bedeutung für die innere Erziehung des
italienischen Volks haben. Das ist aber doch nur ein Nebenprodukt. Und
gegenüber der Hochschätzung dieser erziehenden Wirkung kann man sich doch
auch nicht des Gedankens entschlagen, daß darin eine ähnliche Neigung wie
bei den Franzosen hervortritt, die ganze Kraft des Staats in der Armee ver¬
körpert zu sehen, die doch im ganzen Volke sein muß, und zu dieser Kraft mit
dem Gefühle aufzublicken, das der Schwache, der Zerfahrne, Ordnungslvse
vor dem bewußten, disziplinierten, pünktlich gehorchenden Willen empfindet.
Wie die geographische Lage Italien zwingt, Seemacht zu sein, und mit welchen
gewaltigen Opfern seine maritime Machtstellung geschaffen worden ist, weist
unser Buch sehr gut nach. Aber auch hier die Kehrseite: der großen, kost¬
spieligen Flotte entspricht weder der Seehandel noch der Kolonialbesitz des
heutigen Italiens. Die Machtsphäre Italiens zur See ist durch das Mittel¬
meer gegeben, diese aber durch Italiens angeblich treusten Freund, England,
am allermeisten eingeengt.

Eine zweite Grundthatsache, über die wir uus klar werden, ist die Armut
des italienischen Bodens. Mehr dem geologischen Bau und dem Klima als
der Aussaugung, Entwaldung, Versumpfung, Besitzverteiluug ist die geringe
Ausdehnung des angebauten Landes zuzuschreiben. Nicht viel über ein Drittel
des Landes trägt Äcker, Weinberge. Garten u. dergl.; sast ein Viertel ist ganz


Grenzlwten II I89V
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[0425] der auswärtigen Politik vorgelegt werden konnten; aber ich habe kaum in einem einzigen Kapitel das Gefühl überwinden können, daß sein Optimismus ihn verleitet, die Gefahren, von denen Italien bedroht ist, zu leicht zu nehmen. Allerdings versöhnt dann wieder die Fülle der beigebrachten Thatsachen, die uns erlaubt, ein eignes Urteil über manche Dinge zu bilden, über die wir uns mit dem Verfasser nicht einigen können. Wenn wir das Buch niederlegen und alles, was es lehrt, noch einmal an unserm innern Sinn Vorbeigehen lassen, so verdichtet sich die Fülle des Gelernten etwa zu folgenden Sätzen. Die Entwicklung des modernen Italiens zum Einheitsstaat ist weniger ein Werk der Volkskraft, die ihre Unterdrücker abschüttelt, als das Werk starker und feiner Geister, die als Verschwörer und Diplomaten gewagte Spiele für ihr Land gewinnen. Frankreich und die Revolution werden benutzt, ohne daß ihnen ein dauernder Einfluß auf die Geschicke Italiens eingeräumt wird. Das junge Italien hat die Feuertaufe gesucht und erhalten, aber nicht in stegreichen Schlachten. Daher sehlt seiner Armee und Flotte noch heute die Weihe der Kraft. Und das Geheimnis der Entmutigung, die die drei Verlornen Gefechte in Abessinien hervorgebracht haben, liegt eben darin, daß selbst diese die Ungewißheit noch vergrößert haben, ob Italien mit all seinen unverhältnismäßig großen Opfern für Heer und Flotte die Sicherheit gegen äußere Angriffe erworben hat, ohne die alle andern Lebensäußerungen und Anstrengungen vergeblich sind. Gewiß ist, daß die Armee und die Flotte eine ungeheure Bedeutung für die innere Erziehung des italienischen Volks haben. Das ist aber doch nur ein Nebenprodukt. Und gegenüber der Hochschätzung dieser erziehenden Wirkung kann man sich doch auch nicht des Gedankens entschlagen, daß darin eine ähnliche Neigung wie bei den Franzosen hervortritt, die ganze Kraft des Staats in der Armee ver¬ körpert zu sehen, die doch im ganzen Volke sein muß, und zu dieser Kraft mit dem Gefühle aufzublicken, das der Schwache, der Zerfahrne, Ordnungslvse vor dem bewußten, disziplinierten, pünktlich gehorchenden Willen empfindet. Wie die geographische Lage Italien zwingt, Seemacht zu sein, und mit welchen gewaltigen Opfern seine maritime Machtstellung geschaffen worden ist, weist unser Buch sehr gut nach. Aber auch hier die Kehrseite: der großen, kost¬ spieligen Flotte entspricht weder der Seehandel noch der Kolonialbesitz des heutigen Italiens. Die Machtsphäre Italiens zur See ist durch das Mittel¬ meer gegeben, diese aber durch Italiens angeblich treusten Freund, England, am allermeisten eingeengt. Eine zweite Grundthatsache, über die wir uus klar werden, ist die Armut des italienischen Bodens. Mehr dem geologischen Bau und dem Klima als der Aussaugung, Entwaldung, Versumpfung, Besitzverteiluug ist die geringe Ausdehnung des angebauten Landes zuzuschreiben. Nicht viel über ein Drittel des Landes trägt Äcker, Weinberge. Garten u. dergl.; sast ein Viertel ist ganz Grenzlwten II I89V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/425>, abgerufen am 28.09.2024.