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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Herr Witte als Reformer Rußlands

hat. Unsre Nationalökonomen sind leider oft auf Entdeckung tiefsinniger
Systeme ebenso versessen wie russische Politiker auf Entdeckung urslawischer
weiser Eigentümlichkeiten. Und beides hat man in diesem russischen "Mir,"
der Vauerngememde, zu finden gemeint, seit der Freiherr von Hcixthauseu vor
fünfzig Jahren seine "Studien" über die Sache veröffentlicht hatte, in denen er
als der erste Entdecker dieser nationnlökonomischen Goldader sür seinen Ruhm
und zugleich für materiellere Vorteile sorgte, die ihm von russischer Seite
dafür kommeu konnten. Seitdem ist ein Streit über dieses Institut geführt
wordeu, der den Anlaß zu einer großen Litteratur gab. Seit Jahrzehnten
haben Vertreter der europäischen Volkswirtschaft, und unter ihnen besonders
baltische Deutsche wie Keußler und Engelmann, dann Struve nachgewiesen,
daß diese bäuerliche Agrarverfassung weder eine spezifische des russischen Volks¬
geists, noch eine Lösung der sozialen Frage, und daß sie sogar höchst ver¬
derblich für die Volkswirtschaft sei; aber auf slawischer Seite wollte man sich
nun einmal nicht von der Illusion trennen und sträubte sich gegen alle Re¬
formen, so offenbar es auch für jeden, der die Sache mit klarem Auge ansah,
war, daß sich diese Verfassung nur unter der Voraussetzung der alten bäuer¬
lichen Leibeigenschaft halten konnte. Indessen traten die übeln Folgen der
Verfassung nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 so deutlich
und in so bedrohlich wachsendem Maße hervor, daß sich immer mehr Köpfe
der Erforschung dieser im Grunde sehr einfache" Frage widmeten und all-
mühlich ein Material anhäuften, das jetzt auch dem Widerwilligsten die Augen
öffnen müßte. Dieses Material zusammengefaßt und aus ihm die allgemeinen
Schlüsse gezogen zu haben, ist das Verdienst des Herrn Sinckhowitsch.*)

Das Buch leidet weder an politischer Tendenz, noch an wissenschaftlichem
Dvktrinentum, ist gut geschrieben und kurz genug, daß es eine" weitern Leser¬
kreis als den der Gelehrten finden kann. Es kommt gerade zu rechter Zeit,
Herrn Witte in seinem Unternehmen einer gründlichen Agrarreform zu unter¬
stützen, zu rechter Zeit auch, auf eine Hauptquelle der Hungersnöte hinzu¬
weisen, von denen wir eben wieder ein erschütterndes Beispiel vor Augen
habe". Es weist uach, daß der kollektive Grundbesitz der russischen Bauern
keineswegs eine urslawische oder urrussische Einrichtung ist, sondern eine fiska¬
lische Organisation, "ein Produkt der Agrarpolitik des russische!: Staats," der
erst die Leibeigenschaft durch Fesselung des Bauern an die Scholle begründete,
dann sie unter Peter dem Großen und Katharina II. zu der "brutalsten und
grausamsten Herrschaft des Menschen über seine Mitmenschen" ausbildete, die
ein Volk erlebt hat, und zugleich diesen Bauern die Feldgemeinschaft aufzwang.
Der Gang war der, daß man den Bauern seit 1718 mit einer Personalsteuer



') Die Feldgemeinschaft in Rußland. Von W, Simkhowitsch. Jena, G.Fischer,
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Herr Witte als Reformer Rußlands

hat. Unsre Nationalökonomen sind leider oft auf Entdeckung tiefsinniger
Systeme ebenso versessen wie russische Politiker auf Entdeckung urslawischer
weiser Eigentümlichkeiten. Und beides hat man in diesem russischen „Mir,"
der Vauerngememde, zu finden gemeint, seit der Freiherr von Hcixthauseu vor
fünfzig Jahren seine „Studien" über die Sache veröffentlicht hatte, in denen er
als der erste Entdecker dieser nationnlökonomischen Goldader sür seinen Ruhm
und zugleich für materiellere Vorteile sorgte, die ihm von russischer Seite
dafür kommeu konnten. Seitdem ist ein Streit über dieses Institut geführt
wordeu, der den Anlaß zu einer großen Litteratur gab. Seit Jahrzehnten
haben Vertreter der europäischen Volkswirtschaft, und unter ihnen besonders
baltische Deutsche wie Keußler und Engelmann, dann Struve nachgewiesen,
daß diese bäuerliche Agrarverfassung weder eine spezifische des russischen Volks¬
geists, noch eine Lösung der sozialen Frage, und daß sie sogar höchst ver¬
derblich für die Volkswirtschaft sei; aber auf slawischer Seite wollte man sich
nun einmal nicht von der Illusion trennen und sträubte sich gegen alle Re¬
formen, so offenbar es auch für jeden, der die Sache mit klarem Auge ansah,
war, daß sich diese Verfassung nur unter der Voraussetzung der alten bäuer¬
lichen Leibeigenschaft halten konnte. Indessen traten die übeln Folgen der
Verfassung nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 so deutlich
und in so bedrohlich wachsendem Maße hervor, daß sich immer mehr Köpfe
der Erforschung dieser im Grunde sehr einfache« Frage widmeten und all-
mühlich ein Material anhäuften, das jetzt auch dem Widerwilligsten die Augen
öffnen müßte. Dieses Material zusammengefaßt und aus ihm die allgemeinen
Schlüsse gezogen zu haben, ist das Verdienst des Herrn Sinckhowitsch.*)

Das Buch leidet weder an politischer Tendenz, noch an wissenschaftlichem
Dvktrinentum, ist gut geschrieben und kurz genug, daß es eine» weitern Leser¬
kreis als den der Gelehrten finden kann. Es kommt gerade zu rechter Zeit,
Herrn Witte in seinem Unternehmen einer gründlichen Agrarreform zu unter¬
stützen, zu rechter Zeit auch, auf eine Hauptquelle der Hungersnöte hinzu¬
weisen, von denen wir eben wieder ein erschütterndes Beispiel vor Augen
habe». Es weist uach, daß der kollektive Grundbesitz der russischen Bauern
keineswegs eine urslawische oder urrussische Einrichtung ist, sondern eine fiska¬
lische Organisation, „ein Produkt der Agrarpolitik des russische!: Staats," der
erst die Leibeigenschaft durch Fesselung des Bauern an die Scholle begründete,
dann sie unter Peter dem Großen und Katharina II. zu der „brutalsten und
grausamsten Herrschaft des Menschen über seine Mitmenschen" ausbildete, die
ein Volk erlebt hat, und zugleich diesen Bauern die Feldgemeinschaft aufzwang.
Der Gang war der, daß man den Bauern seit 1718 mit einer Personalsteuer



') Die Feldgemeinschaft in Rußland. Von W, Simkhowitsch. Jena, G.Fischer,
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[0413] Herr Witte als Reformer Rußlands hat. Unsre Nationalökonomen sind leider oft auf Entdeckung tiefsinniger Systeme ebenso versessen wie russische Politiker auf Entdeckung urslawischer weiser Eigentümlichkeiten. Und beides hat man in diesem russischen „Mir," der Vauerngememde, zu finden gemeint, seit der Freiherr von Hcixthauseu vor fünfzig Jahren seine „Studien" über die Sache veröffentlicht hatte, in denen er als der erste Entdecker dieser nationnlökonomischen Goldader sür seinen Ruhm und zugleich für materiellere Vorteile sorgte, die ihm von russischer Seite dafür kommeu konnten. Seitdem ist ein Streit über dieses Institut geführt wordeu, der den Anlaß zu einer großen Litteratur gab. Seit Jahrzehnten haben Vertreter der europäischen Volkswirtschaft, und unter ihnen besonders baltische Deutsche wie Keußler und Engelmann, dann Struve nachgewiesen, daß diese bäuerliche Agrarverfassung weder eine spezifische des russischen Volks¬ geists, noch eine Lösung der sozialen Frage, und daß sie sogar höchst ver¬ derblich für die Volkswirtschaft sei; aber auf slawischer Seite wollte man sich nun einmal nicht von der Illusion trennen und sträubte sich gegen alle Re¬ formen, so offenbar es auch für jeden, der die Sache mit klarem Auge ansah, war, daß sich diese Verfassung nur unter der Voraussetzung der alten bäuer¬ lichen Leibeigenschaft halten konnte. Indessen traten die übeln Folgen der Verfassung nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 so deutlich und in so bedrohlich wachsendem Maße hervor, daß sich immer mehr Köpfe der Erforschung dieser im Grunde sehr einfache« Frage widmeten und all- mühlich ein Material anhäuften, das jetzt auch dem Widerwilligsten die Augen öffnen müßte. Dieses Material zusammengefaßt und aus ihm die allgemeinen Schlüsse gezogen zu haben, ist das Verdienst des Herrn Sinckhowitsch.*) Das Buch leidet weder an politischer Tendenz, noch an wissenschaftlichem Dvktrinentum, ist gut geschrieben und kurz genug, daß es eine» weitern Leser¬ kreis als den der Gelehrten finden kann. Es kommt gerade zu rechter Zeit, Herrn Witte in seinem Unternehmen einer gründlichen Agrarreform zu unter¬ stützen, zu rechter Zeit auch, auf eine Hauptquelle der Hungersnöte hinzu¬ weisen, von denen wir eben wieder ein erschütterndes Beispiel vor Augen habe». Es weist uach, daß der kollektive Grundbesitz der russischen Bauern keineswegs eine urslawische oder urrussische Einrichtung ist, sondern eine fiska¬ lische Organisation, „ein Produkt der Agrarpolitik des russische!: Staats," der erst die Leibeigenschaft durch Fesselung des Bauern an die Scholle begründete, dann sie unter Peter dem Großen und Katharina II. zu der „brutalsten und grausamsten Herrschaft des Menschen über seine Mitmenschen" ausbildete, die ein Volk erlebt hat, und zugleich diesen Bauern die Feldgemeinschaft aufzwang. Der Gang war der, daß man den Bauern seit 1718 mit einer Personalsteuer ') Die Feldgemeinschaft in Rußland. Von W, Simkhowitsch. Jena, G.Fischer, '189L., ,„ ^ ^ ,. , - „'- , ^/ - -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/413>, abgerufen am 28.09.2024.