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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Herr Witte als Reformer Rußlands

klang, wurde aber bald von dem heftigen Widerspruch des Oberprokuratvrs
Pobedonoszew durchkreuzt und blieb vorläufig liegen, bis der Finanzminister
die Sache in seinem finanziellen Rechenschaftsbericht zum diesjährigen Budget
wieder aufnahm. Ich habe in dieser Zeitschrift (1899, Heft 1) schon auf die
Bedeutung dieses Schrittes hingewiesen. Denn dies ist nicht mehr eine Denk¬
schrift, die unter den Tisch geworfen werden kann, sondern der erste, vor der
Öffentlichkeit gethane Schritt auf einem Wege, den einzuschlagen der Mut und
die gewaltige Stellung nötig sind, deren sich Herr Witte augenblicklich erfreut.
Eine Aufgabe hat sich dieser Staatsmann gesetzt, wie sie für Rußland kaum
einschneidender gedacht werden kann, denn es handelt sich, um es hier kurz
anzudeuten, um das Wohl und Wehe von etwa achtzig Millionen Menschen,
von 90 Prozent der russischen Bevölkerung des Reichs, die mehr oder weniger
eng mit dem Schicksal der bäuerliche" Agrarverfassung verbunden sind. Nach¬
dem Herr Witte, wenn man seinen Zahlen und Versicherungen glauben will,
die Finanzen des Reichs zu einem verblüffenden Glänze emporgehoben hat,
wendet er seine außerordentliche Kraft der Erhaltung und Säuberung der
Quellen zu, aus denen doch zuletzt und hauptsächlich diese Finanzen gespeist
werden müssen, solange Nußland bleibt, was es ist, ein auf den Ackerbau ge¬
gründeter Staat. Und das wird es noch für lange Zeit bleiben. Um seine
Finanzen, um die Durchführung der Agrarreform vor außer" Störungen
zu schützen, hat Herr Witte, wie hier ebenfalls schon erzählt worden ist, Ru߬
land in einen Wettstreit des äußern Friedens verwickelt, der ihm hoffentlich
erlauben wird, ungestört durch ehrgeizige Chauvinisten oder gar äußere Kämpfe
seine großen und friedlichen Pläne auszuführen. Ein gefährlicher Gegner
freilich steht ihm gegenüber, Pobedonoszew, dieser böse Geist Rußlands, der
mehr von dem Beichtvater eines der spanischen Philippe als von einem Staats¬
mann unsrer Zeit an sich hat. Aber der Drang der Wirklichkeit ist denn doch
groß genng, den finstern Doktrinen dieses Robespierre des Absolutismus endlich
Schranken zu setzen, und vielleicht hat die Hungersnot, deren Umfang erst jetzt
in seinem ganzen Schrecken ans Licht tritt, dazu beigetragen, dem Vertreter
des Volkswohls in dem langen Ringen mit seinem Gegner ein Übergewicht zu
verleihen. Denn mit Despotie und Orthodoxie ist diesem Übel, das heute viele
Millionen Menschen bedroht, nicht beizukommen; diese Waffen Pobedonvszews
sind nur zu brauchen, um Finnländer oder Livländer oder Polen, die nicht
hungern, sondern fleißig arbeiten, zu knechten und zu martern im Namen des
modernen Nationalitütsprinzips.

Die russische bäuerliche Gemeindeverfassung ist seit Jahrzehnten der Gegen¬
stand sowohl politischer Kämpfe als wissenschaftlicher Betrachtungen gewesen.
Und um meine Meinung kurz vorweg auszusprechen, Politiker wie Gelehrte
haben von jeher gar zu viel Aufhebens von einer Institution gemacht, die an
sich weder große politische Bedeutung noch großes wissenschaftliches Interesse


Herr Witte als Reformer Rußlands

klang, wurde aber bald von dem heftigen Widerspruch des Oberprokuratvrs
Pobedonoszew durchkreuzt und blieb vorläufig liegen, bis der Finanzminister
die Sache in seinem finanziellen Rechenschaftsbericht zum diesjährigen Budget
wieder aufnahm. Ich habe in dieser Zeitschrift (1899, Heft 1) schon auf die
Bedeutung dieses Schrittes hingewiesen. Denn dies ist nicht mehr eine Denk¬
schrift, die unter den Tisch geworfen werden kann, sondern der erste, vor der
Öffentlichkeit gethane Schritt auf einem Wege, den einzuschlagen der Mut und
die gewaltige Stellung nötig sind, deren sich Herr Witte augenblicklich erfreut.
Eine Aufgabe hat sich dieser Staatsmann gesetzt, wie sie für Rußland kaum
einschneidender gedacht werden kann, denn es handelt sich, um es hier kurz
anzudeuten, um das Wohl und Wehe von etwa achtzig Millionen Menschen,
von 90 Prozent der russischen Bevölkerung des Reichs, die mehr oder weniger
eng mit dem Schicksal der bäuerliche» Agrarverfassung verbunden sind. Nach¬
dem Herr Witte, wenn man seinen Zahlen und Versicherungen glauben will,
die Finanzen des Reichs zu einem verblüffenden Glänze emporgehoben hat,
wendet er seine außerordentliche Kraft der Erhaltung und Säuberung der
Quellen zu, aus denen doch zuletzt und hauptsächlich diese Finanzen gespeist
werden müssen, solange Nußland bleibt, was es ist, ein auf den Ackerbau ge¬
gründeter Staat. Und das wird es noch für lange Zeit bleiben. Um seine
Finanzen, um die Durchführung der Agrarreform vor außer« Störungen
zu schützen, hat Herr Witte, wie hier ebenfalls schon erzählt worden ist, Ru߬
land in einen Wettstreit des äußern Friedens verwickelt, der ihm hoffentlich
erlauben wird, ungestört durch ehrgeizige Chauvinisten oder gar äußere Kämpfe
seine großen und friedlichen Pläne auszuführen. Ein gefährlicher Gegner
freilich steht ihm gegenüber, Pobedonoszew, dieser böse Geist Rußlands, der
mehr von dem Beichtvater eines der spanischen Philippe als von einem Staats¬
mann unsrer Zeit an sich hat. Aber der Drang der Wirklichkeit ist denn doch
groß genng, den finstern Doktrinen dieses Robespierre des Absolutismus endlich
Schranken zu setzen, und vielleicht hat die Hungersnot, deren Umfang erst jetzt
in seinem ganzen Schrecken ans Licht tritt, dazu beigetragen, dem Vertreter
des Volkswohls in dem langen Ringen mit seinem Gegner ein Übergewicht zu
verleihen. Denn mit Despotie und Orthodoxie ist diesem Übel, das heute viele
Millionen Menschen bedroht, nicht beizukommen; diese Waffen Pobedonvszews
sind nur zu brauchen, um Finnländer oder Livländer oder Polen, die nicht
hungern, sondern fleißig arbeiten, zu knechten und zu martern im Namen des
modernen Nationalitütsprinzips.

Die russische bäuerliche Gemeindeverfassung ist seit Jahrzehnten der Gegen¬
stand sowohl politischer Kämpfe als wissenschaftlicher Betrachtungen gewesen.
Und um meine Meinung kurz vorweg auszusprechen, Politiker wie Gelehrte
haben von jeher gar zu viel Aufhebens von einer Institution gemacht, die an
sich weder große politische Bedeutung noch großes wissenschaftliches Interesse


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[0412] Herr Witte als Reformer Rußlands klang, wurde aber bald von dem heftigen Widerspruch des Oberprokuratvrs Pobedonoszew durchkreuzt und blieb vorläufig liegen, bis der Finanzminister die Sache in seinem finanziellen Rechenschaftsbericht zum diesjährigen Budget wieder aufnahm. Ich habe in dieser Zeitschrift (1899, Heft 1) schon auf die Bedeutung dieses Schrittes hingewiesen. Denn dies ist nicht mehr eine Denk¬ schrift, die unter den Tisch geworfen werden kann, sondern der erste, vor der Öffentlichkeit gethane Schritt auf einem Wege, den einzuschlagen der Mut und die gewaltige Stellung nötig sind, deren sich Herr Witte augenblicklich erfreut. Eine Aufgabe hat sich dieser Staatsmann gesetzt, wie sie für Rußland kaum einschneidender gedacht werden kann, denn es handelt sich, um es hier kurz anzudeuten, um das Wohl und Wehe von etwa achtzig Millionen Menschen, von 90 Prozent der russischen Bevölkerung des Reichs, die mehr oder weniger eng mit dem Schicksal der bäuerliche» Agrarverfassung verbunden sind. Nach¬ dem Herr Witte, wenn man seinen Zahlen und Versicherungen glauben will, die Finanzen des Reichs zu einem verblüffenden Glänze emporgehoben hat, wendet er seine außerordentliche Kraft der Erhaltung und Säuberung der Quellen zu, aus denen doch zuletzt und hauptsächlich diese Finanzen gespeist werden müssen, solange Nußland bleibt, was es ist, ein auf den Ackerbau ge¬ gründeter Staat. Und das wird es noch für lange Zeit bleiben. Um seine Finanzen, um die Durchführung der Agrarreform vor außer« Störungen zu schützen, hat Herr Witte, wie hier ebenfalls schon erzählt worden ist, Ru߬ land in einen Wettstreit des äußern Friedens verwickelt, der ihm hoffentlich erlauben wird, ungestört durch ehrgeizige Chauvinisten oder gar äußere Kämpfe seine großen und friedlichen Pläne auszuführen. Ein gefährlicher Gegner freilich steht ihm gegenüber, Pobedonoszew, dieser böse Geist Rußlands, der mehr von dem Beichtvater eines der spanischen Philippe als von einem Staats¬ mann unsrer Zeit an sich hat. Aber der Drang der Wirklichkeit ist denn doch groß genng, den finstern Doktrinen dieses Robespierre des Absolutismus endlich Schranken zu setzen, und vielleicht hat die Hungersnot, deren Umfang erst jetzt in seinem ganzen Schrecken ans Licht tritt, dazu beigetragen, dem Vertreter des Volkswohls in dem langen Ringen mit seinem Gegner ein Übergewicht zu verleihen. Denn mit Despotie und Orthodoxie ist diesem Übel, das heute viele Millionen Menschen bedroht, nicht beizukommen; diese Waffen Pobedonvszews sind nur zu brauchen, um Finnländer oder Livländer oder Polen, die nicht hungern, sondern fleißig arbeiten, zu knechten und zu martern im Namen des modernen Nationalitütsprinzips. Die russische bäuerliche Gemeindeverfassung ist seit Jahrzehnten der Gegen¬ stand sowohl politischer Kämpfe als wissenschaftlicher Betrachtungen gewesen. Und um meine Meinung kurz vorweg auszusprechen, Politiker wie Gelehrte haben von jeher gar zu viel Aufhebens von einer Institution gemacht, die an sich weder große politische Bedeutung noch großes wissenschaftliches Interesse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/412>, abgerufen am 28.09.2024.