Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.Lduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie aller Machtmittel ist, aber als machtlose Minderheit an die Eroberung der Nun, den Gedanken an eine gewaltsame Erhebung haben ja die Sozial- Lduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie aller Machtmittel ist, aber als machtlose Minderheit an die Eroberung der Nun, den Gedanken an eine gewaltsame Erhebung haben ja die Sozial- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0406" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230838"/> <fw type="header" place="top"> Lduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie</fw><lb/> <p xml:id="ID_1387" prev="#ID_1386"> aller Machtmittel ist, aber als machtlose Minderheit an die Eroberung der<lb/> Macht zu denken, das wäre doch die reine Narrheit, Und diese Minderheit<lb/> ist noch dazu, wie Bernstein richtig hervorhebt, eine sehr gemischte Gesellschaft.<lb/> Bernstein erweist allerdings seinen alten Freunden die Gefälligkeit, diese Minder¬<lb/> heit schon als Mehrheit zu bezeichnen, indem er alle, „die kein Einkommen<lb/> aus Besitz oder aus privilegierter Stellung haben," dazu rechnet, aber er weist<lb/> dann ganz gut nach, daß zwischen den Gliedern dieser vermeintlichen Mehrheit<lb/> sehr wenig Solidarität besteht. Der Feinmechaniker und der Straßenkehrer<lb/> stehen einander sehr fern, der Kaufmannsgehilfe fühlt sich seinem Prinzipal<lb/> viel näher verbunden als dem Fabrikarbeiter, und der Großknecht, der Kuh¬<lb/> junge und der Tagelöhner wissen nichts von einer zwischen ihnen bestehenden<lb/> Interessengemeinschaft, fühlen auch wenig Sympathie mit einander. Wenn sich<lb/> in Deutschland immerhin die Lohnarbeiter sehr unähnlicher Gewerbe durch ein<lb/> „proletarisches" Solidaritätsgefühl mit einander verbunden fühlen, während<lb/> sich in England die Arbeiter der verschiednen Gewerbe beinahe zünftlerisch<lb/> gegen einander abschließe», so rührt dieser Unterschied nach Bernstein von den<lb/> verschiednen politischen Institutionen der beiden Länder her. In der angel¬<lb/> sächsischen Freiheit entwickle sich die Besonderheit. Selbst zur Zeit der<lb/> Koalitionsverbote habe der englische Arbeiter niemals unter der Polizeifuchtel<lb/> gestanden, in Deutschland bewirke diese Fuchtel, daß sich die verschiedenartigsten<lb/> Elemente zu gemeinsamem Schutz zusammenschließen müssen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1388" next="#ID_1389"> Nun, den Gedanken an eine gewaltsame Erhebung haben ja die Sozial-<lb/> demokraten allgemein aufgegeben, daß es aber auch mit dem „Hineinwachsen"<lb/> in den Zukunftsstaat wenigstens vorläufig noch nichts ist, zeigt Bernstein<lb/> ebenso klar als gründlich. Selbst wenn die „Proletarier" die Mehrheit und<lb/> die Macht hätten, selbst wenn alle Kleinbetriebe beseitigt und nur noch Gro߬<lb/> betriebe vorhanden wären, könnten die Arbeiter die Produktion nicht einfach<lb/> in die Hand nehmen, weil, wie die Kritiker des Kommunismus, z. B. Robert<lb/> von Mohl, schon vor vierzig Jahren dargelegt haben und wie Bernstein wieder¬<lb/> holt, eine Fabrik nicht republikanisch regiert werden kann. „Lebensfähig haben<lb/> sich Produktionsgenossenschaften bisher uur da erwiesen, wo sie in Konsum¬<lb/> vereinen einen Rückhalt hatten oder sich selbst in ihrer Organisation dieser<lb/> Form näherten." Die großen englischen Konsumvereine besitzen große Fabriken,<lb/> in denen sie Nahrungsmittel, Kleider u. dergl. herstellen lassen, aber diese<lb/> Fabriken werden nicht selbst genossenschaftlich betrieben, sondern ganz kapi¬<lb/> talistisch. Lcissallc, schreibt Bernstein, habe sür die von ihm geplanten Produktiv¬<lb/> genossenschaften 100 Millionen Thaler vom Staate verlangt; die englischen<lb/> Konsumvereine hätten schon eine weit größere Summe zur Verfügung, die<lb/> Gewerkvereine, die freien Hilfskassen wüßten nicht mehr wohin mit ihren Be¬<lb/> ständen. Am Kapital fehle es also der Arbeiterschaft Englands nicht, sodaß<lb/> sie längst die Produktiv» in ihre Hand hätte nehmen könne», wen» das so</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0406]
Lduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie
aller Machtmittel ist, aber als machtlose Minderheit an die Eroberung der
Macht zu denken, das wäre doch die reine Narrheit, Und diese Minderheit
ist noch dazu, wie Bernstein richtig hervorhebt, eine sehr gemischte Gesellschaft.
Bernstein erweist allerdings seinen alten Freunden die Gefälligkeit, diese Minder¬
heit schon als Mehrheit zu bezeichnen, indem er alle, „die kein Einkommen
aus Besitz oder aus privilegierter Stellung haben," dazu rechnet, aber er weist
dann ganz gut nach, daß zwischen den Gliedern dieser vermeintlichen Mehrheit
sehr wenig Solidarität besteht. Der Feinmechaniker und der Straßenkehrer
stehen einander sehr fern, der Kaufmannsgehilfe fühlt sich seinem Prinzipal
viel näher verbunden als dem Fabrikarbeiter, und der Großknecht, der Kuh¬
junge und der Tagelöhner wissen nichts von einer zwischen ihnen bestehenden
Interessengemeinschaft, fühlen auch wenig Sympathie mit einander. Wenn sich
in Deutschland immerhin die Lohnarbeiter sehr unähnlicher Gewerbe durch ein
„proletarisches" Solidaritätsgefühl mit einander verbunden fühlen, während
sich in England die Arbeiter der verschiednen Gewerbe beinahe zünftlerisch
gegen einander abschließe», so rührt dieser Unterschied nach Bernstein von den
verschiednen politischen Institutionen der beiden Länder her. In der angel¬
sächsischen Freiheit entwickle sich die Besonderheit. Selbst zur Zeit der
Koalitionsverbote habe der englische Arbeiter niemals unter der Polizeifuchtel
gestanden, in Deutschland bewirke diese Fuchtel, daß sich die verschiedenartigsten
Elemente zu gemeinsamem Schutz zusammenschließen müssen.
Nun, den Gedanken an eine gewaltsame Erhebung haben ja die Sozial-
demokraten allgemein aufgegeben, daß es aber auch mit dem „Hineinwachsen"
in den Zukunftsstaat wenigstens vorläufig noch nichts ist, zeigt Bernstein
ebenso klar als gründlich. Selbst wenn die „Proletarier" die Mehrheit und
die Macht hätten, selbst wenn alle Kleinbetriebe beseitigt und nur noch Gro߬
betriebe vorhanden wären, könnten die Arbeiter die Produktion nicht einfach
in die Hand nehmen, weil, wie die Kritiker des Kommunismus, z. B. Robert
von Mohl, schon vor vierzig Jahren dargelegt haben und wie Bernstein wieder¬
holt, eine Fabrik nicht republikanisch regiert werden kann. „Lebensfähig haben
sich Produktionsgenossenschaften bisher uur da erwiesen, wo sie in Konsum¬
vereinen einen Rückhalt hatten oder sich selbst in ihrer Organisation dieser
Form näherten." Die großen englischen Konsumvereine besitzen große Fabriken,
in denen sie Nahrungsmittel, Kleider u. dergl. herstellen lassen, aber diese
Fabriken werden nicht selbst genossenschaftlich betrieben, sondern ganz kapi¬
talistisch. Lcissallc, schreibt Bernstein, habe sür die von ihm geplanten Produktiv¬
genossenschaften 100 Millionen Thaler vom Staate verlangt; die englischen
Konsumvereine hätten schon eine weit größere Summe zur Verfügung, die
Gewerkvereine, die freien Hilfskassen wüßten nicht mehr wohin mit ihren Be¬
ständen. Am Kapital fehle es also der Arbeiterschaft Englands nicht, sodaß
sie längst die Produktiv» in ihre Hand hätte nehmen könne», wen» das so
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