Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie eingeschlagen zu haben schien, so würde der dann unvermeidliche Zusammen¬ Fehlt demnach die negative Vorbedingung für die Verwirklichung des Es ist bezeichnend für den so gescheiten und gelehrte!? und doch so verbohrten Kautsku,
daß er in Stuttgart Bernstein zugerufen hat: "Wenn das richtig wäre, dann wäre der Zeit¬ punkt unsers Sieges nicht nur sehr weit hinausgeschoben, dann kämen wir überhaupt nicht ans Ziel. Wenn die Kapitalisten zunehmen und nicht die Besitzlosen, dann entfernen wir uns immer mehr vom Ziel, dann festigt sich nicht der Sozialismus, sondern der Kapitalismus." Wäre es Kautsky um die Arbeiter zu thun, so würde ihn die Erkenntnis freuen, daß diese nicht sämtlich erst durchs allgemeine Elend hindurchmüssen, ehe sie in eine bessere Lage gelangen, aber weil dadurch seine schöne Theorie über den Haufen geworfen wird, so betrübt er sich über den Fortschritt zum bessern. Und so sucht er denn in seinem Buche "Die Agrarfrage, eine Über¬ sicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialoemv- kratie" (Stuttgart, I, H. W, Dietz Nachf,, 1899) die schwere Aufgabe zu lösen, wie man den Bauern den Untergang und das Heil in einem Atem verkünden, sie für die Sozialdemokratie gewinnen und doch ihnen die zu ihrer Erhaltung notwendigen Maßregeln versagen könne. Natürlich bemüht er sich namentlich, das schreckliche Los der Kleinbauern so dunkel zu schildern, daß die Herren vom Bunde der Landwirte seine Schilderungen unverändert in ihre Agitations¬ schriften aufnehmen können. Abgesehen von den Widersprüchen, in die ihn seine Tendenz ver¬ wickelt, und von den Übertreibungen und Einseitigkeiten, zu denen sie ihn nötigt, ist sein Buch gut und brauchbar. Er hat darin viel schätzbares Material zusammengetragen, ist auch ehrlich genug, die Strömungen und Kräfte darzustellen, die der von ihm gewünschten Entwicklung entgegenwirken, und spricht manchen fruchtbaren Gedanken aus, darunter einen, den wir vor Jahren ebenfalls ausgesprochen haben, daß nämlich die heutigen landwirtschaftlichen Nutztiere Produkte einer künstlichen Züchtung sind, zu einer künstlichen, widernatürlichen Lebensweise ge¬ zwungen werden, deshalb der Widerstandskraft gegen gesundheitsschädliche Einflüsse entbehren, und daß dies die Ursache der ewigen Viehseuchen ist. Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie eingeschlagen zu haben schien, so würde der dann unvermeidliche Zusammen¬ Fehlt demnach die negative Vorbedingung für die Verwirklichung des Es ist bezeichnend für den so gescheiten und gelehrte!? und doch so verbohrten Kautsku,
daß er in Stuttgart Bernstein zugerufen hat: „Wenn das richtig wäre, dann wäre der Zeit¬ punkt unsers Sieges nicht nur sehr weit hinausgeschoben, dann kämen wir überhaupt nicht ans Ziel. Wenn die Kapitalisten zunehmen und nicht die Besitzlosen, dann entfernen wir uns immer mehr vom Ziel, dann festigt sich nicht der Sozialismus, sondern der Kapitalismus." Wäre es Kautsky um die Arbeiter zu thun, so würde ihn die Erkenntnis freuen, daß diese nicht sämtlich erst durchs allgemeine Elend hindurchmüssen, ehe sie in eine bessere Lage gelangen, aber weil dadurch seine schöne Theorie über den Haufen geworfen wird, so betrübt er sich über den Fortschritt zum bessern. Und so sucht er denn in seinem Buche „Die Agrarfrage, eine Über¬ sicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialoemv- kratie" (Stuttgart, I, H. W, Dietz Nachf,, 1899) die schwere Aufgabe zu lösen, wie man den Bauern den Untergang und das Heil in einem Atem verkünden, sie für die Sozialdemokratie gewinnen und doch ihnen die zu ihrer Erhaltung notwendigen Maßregeln versagen könne. Natürlich bemüht er sich namentlich, das schreckliche Los der Kleinbauern so dunkel zu schildern, daß die Herren vom Bunde der Landwirte seine Schilderungen unverändert in ihre Agitations¬ schriften aufnehmen können. Abgesehen von den Widersprüchen, in die ihn seine Tendenz ver¬ wickelt, und von den Übertreibungen und Einseitigkeiten, zu denen sie ihn nötigt, ist sein Buch gut und brauchbar. Er hat darin viel schätzbares Material zusammengetragen, ist auch ehrlich genug, die Strömungen und Kräfte darzustellen, die der von ihm gewünschten Entwicklung entgegenwirken, und spricht manchen fruchtbaren Gedanken aus, darunter einen, den wir vor Jahren ebenfalls ausgesprochen haben, daß nämlich die heutigen landwirtschaftlichen Nutztiere Produkte einer künstlichen Züchtung sind, zu einer künstlichen, widernatürlichen Lebensweise ge¬ zwungen werden, deshalb der Widerstandskraft gegen gesundheitsschädliche Einflüsse entbehren, und daß dies die Ursache der ewigen Viehseuchen ist. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0404" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230836"/> <fw type="header" place="top"> Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie</fw><lb/> <p xml:id="ID_1383" prev="#ID_1382"> eingeschlagen zu haben schien, so würde der dann unvermeidliche Zusammen¬<lb/> bruch nicht zur Herrschaft des Proletariats und einer sozialistischen Gesellschafts¬<lb/> ordnung, sondern nur zu einem Chaos und zum Untergange der Kultur ge¬<lb/> führt haben. Aber sie ist eben nirgends, auch nicht in England, auf diesem<lb/> Wege weitergegangen. Marx hat, wie wir unzähligem«! gesagt haben, mit<lb/> seiner Darstellung des gesellschaftlichen Entwicklungsganges nur für England<lb/> Recht gehabt, und auch für dieses nur bis zum Jahre 1850. Bernstein be¬<lb/> weist den Umschwung durch eine Menge von Zahlen, unter denen die inter¬<lb/> essantesten die auf Seite 49 angeführten sind. Im Jahre 1851 zählte<lb/> England 300000 Familien in der mittlern Steuerklasse (150 bis 1000 Pfund),<lb/> im Jahre 1881 aber 990000. Während in diesen dreißig Jahren die Be¬<lb/> völkerung um 30 Prozent gewachsen war, hatte die der mittlern Einkommen<lb/> einen Zuwachs von 233 ^/z Prozent erfahren. So tritt in England an die<lb/> Stelle des unüberbrückbaren Gegensatzes von steinreich und bettelarm jene<lb/> Stufenleiter der Vermögen und Einkommen, die in Deutschland, Österreich,<lb/> Frankreich und den kleinern europäischen Kulturstaaten niemals zerbrochen<lb/> worden war, und die sich seit Jahrzehnten nur in günstiger Weise, d. h. durch<lb/> die Zunahme der Besitzenden verändert; die Kulturwelt wird immer reicher,<lb/> und ihr Reichtum verbreitet sich in immer tiefere Schichten.*)</p><lb/> <p xml:id="ID_1384" next="#ID_1385"> Fehlt demnach die negative Vorbedingung für die Verwirklichung des</p><lb/> <note xml:id="FID_85" place="foot"> Es ist bezeichnend für den so gescheiten und gelehrte!? und doch so verbohrten Kautsku,<lb/> daß er in Stuttgart Bernstein zugerufen hat: „Wenn das richtig wäre, dann wäre der Zeit¬<lb/> punkt unsers Sieges nicht nur sehr weit hinausgeschoben, dann kämen wir überhaupt nicht ans<lb/> Ziel. Wenn die Kapitalisten zunehmen und nicht die Besitzlosen, dann entfernen wir uns immer<lb/> mehr vom Ziel, dann festigt sich nicht der Sozialismus, sondern der Kapitalismus." Wäre es<lb/> Kautsky um die Arbeiter zu thun, so würde ihn die Erkenntnis freuen, daß diese nicht sämtlich<lb/> erst durchs allgemeine Elend hindurchmüssen, ehe sie in eine bessere Lage gelangen, aber weil<lb/> dadurch seine schöne Theorie über den Haufen geworfen wird, so betrübt er sich über den<lb/> Fortschritt zum bessern. Und so sucht er denn in seinem Buche „Die Agrarfrage, eine Über¬<lb/> sicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialoemv-<lb/> kratie" (Stuttgart, I, H. W, Dietz Nachf,, 1899) die schwere Aufgabe zu lösen, wie man den<lb/> Bauern den Untergang und das Heil in einem Atem verkünden, sie für die Sozialdemokratie<lb/> gewinnen und doch ihnen die zu ihrer Erhaltung notwendigen Maßregeln versagen könne.<lb/> Natürlich bemüht er sich namentlich, das schreckliche Los der Kleinbauern so dunkel zu schildern,<lb/> daß die Herren vom Bunde der Landwirte seine Schilderungen unverändert in ihre Agitations¬<lb/> schriften aufnehmen können. Abgesehen von den Widersprüchen, in die ihn seine Tendenz ver¬<lb/> wickelt, und von den Übertreibungen und Einseitigkeiten, zu denen sie ihn nötigt, ist sein Buch<lb/> gut und brauchbar. Er hat darin viel schätzbares Material zusammengetragen, ist auch ehrlich<lb/> genug, die Strömungen und Kräfte darzustellen, die der von ihm gewünschten Entwicklung<lb/> entgegenwirken, und spricht manchen fruchtbaren Gedanken aus, darunter einen, den wir vor<lb/> Jahren ebenfalls ausgesprochen haben, daß nämlich die heutigen landwirtschaftlichen Nutztiere<lb/> Produkte einer künstlichen Züchtung sind, zu einer künstlichen, widernatürlichen Lebensweise ge¬<lb/> zwungen werden, deshalb der Widerstandskraft gegen gesundheitsschädliche Einflüsse entbehren,<lb/> und daß dies die Ursache der ewigen Viehseuchen ist.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0404]
Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie
eingeschlagen zu haben schien, so würde der dann unvermeidliche Zusammen¬
bruch nicht zur Herrschaft des Proletariats und einer sozialistischen Gesellschafts¬
ordnung, sondern nur zu einem Chaos und zum Untergange der Kultur ge¬
führt haben. Aber sie ist eben nirgends, auch nicht in England, auf diesem
Wege weitergegangen. Marx hat, wie wir unzähligem«! gesagt haben, mit
seiner Darstellung des gesellschaftlichen Entwicklungsganges nur für England
Recht gehabt, und auch für dieses nur bis zum Jahre 1850. Bernstein be¬
weist den Umschwung durch eine Menge von Zahlen, unter denen die inter¬
essantesten die auf Seite 49 angeführten sind. Im Jahre 1851 zählte
England 300000 Familien in der mittlern Steuerklasse (150 bis 1000 Pfund),
im Jahre 1881 aber 990000. Während in diesen dreißig Jahren die Be¬
völkerung um 30 Prozent gewachsen war, hatte die der mittlern Einkommen
einen Zuwachs von 233 ^/z Prozent erfahren. So tritt in England an die
Stelle des unüberbrückbaren Gegensatzes von steinreich und bettelarm jene
Stufenleiter der Vermögen und Einkommen, die in Deutschland, Österreich,
Frankreich und den kleinern europäischen Kulturstaaten niemals zerbrochen
worden war, und die sich seit Jahrzehnten nur in günstiger Weise, d. h. durch
die Zunahme der Besitzenden verändert; die Kulturwelt wird immer reicher,
und ihr Reichtum verbreitet sich in immer tiefere Schichten.*)
Fehlt demnach die negative Vorbedingung für die Verwirklichung des
Es ist bezeichnend für den so gescheiten und gelehrte!? und doch so verbohrten Kautsku,
daß er in Stuttgart Bernstein zugerufen hat: „Wenn das richtig wäre, dann wäre der Zeit¬
punkt unsers Sieges nicht nur sehr weit hinausgeschoben, dann kämen wir überhaupt nicht ans
Ziel. Wenn die Kapitalisten zunehmen und nicht die Besitzlosen, dann entfernen wir uns immer
mehr vom Ziel, dann festigt sich nicht der Sozialismus, sondern der Kapitalismus." Wäre es
Kautsky um die Arbeiter zu thun, so würde ihn die Erkenntnis freuen, daß diese nicht sämtlich
erst durchs allgemeine Elend hindurchmüssen, ehe sie in eine bessere Lage gelangen, aber weil
dadurch seine schöne Theorie über den Haufen geworfen wird, so betrübt er sich über den
Fortschritt zum bessern. Und so sucht er denn in seinem Buche „Die Agrarfrage, eine Über¬
sicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialoemv-
kratie" (Stuttgart, I, H. W, Dietz Nachf,, 1899) die schwere Aufgabe zu lösen, wie man den
Bauern den Untergang und das Heil in einem Atem verkünden, sie für die Sozialdemokratie
gewinnen und doch ihnen die zu ihrer Erhaltung notwendigen Maßregeln versagen könne.
Natürlich bemüht er sich namentlich, das schreckliche Los der Kleinbauern so dunkel zu schildern,
daß die Herren vom Bunde der Landwirte seine Schilderungen unverändert in ihre Agitations¬
schriften aufnehmen können. Abgesehen von den Widersprüchen, in die ihn seine Tendenz ver¬
wickelt, und von den Übertreibungen und Einseitigkeiten, zu denen sie ihn nötigt, ist sein Buch
gut und brauchbar. Er hat darin viel schätzbares Material zusammengetragen, ist auch ehrlich
genug, die Strömungen und Kräfte darzustellen, die der von ihm gewünschten Entwicklung
entgegenwirken, und spricht manchen fruchtbaren Gedanken aus, darunter einen, den wir vor
Jahren ebenfalls ausgesprochen haben, daß nämlich die heutigen landwirtschaftlichen Nutztiere
Produkte einer künstlichen Züchtung sind, zu einer künstlichen, widernatürlichen Lebensweise ge¬
zwungen werden, deshalb der Widerstandskraft gegen gesundheitsschädliche Einflüsse entbehren,
und daß dies die Ursache der ewigen Viehseuchen ist.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |