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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

achtmig dieser Kräfte, aber eben weil ihnen die Menschheit größere Beachtung
schenke und hierdurch tiefere Einsicht in sie gewinne, vermöge sie das Wirt¬
schaftsleben besser zu leiten und zu beherrschen als ehedem. "Wie die physische,
so wird auch die ökonomische Naturmacht in dem Maße aus einer Beherrscherin
eine Dienerin der Menschen, als ihr Wesen erkannt ist." Nur der Widerstreit
der Privat- und Gruppeninteressen hindere, daß die so erlangte theoretische
Freiheit in praktische übergesetzt werde; dieses Hindernis werde in dem Maße
schwinden, als das Allgemeininteresse Macht gewinne über das Privatinter¬
esse. -- Ob es überhaupt ein solches Allgemeininteresse giebt, ob nicht die
größtmögliche Befriedigung der Mehrzahl, die man ja bei dem Worte All¬
gemeinheit gewöhnlich im Sinne hat, die Aufopferung gerade der hervor¬
ragendsten Geister erfordern und deren Beseitigung oder Unterdrückung die
gesamte Menschheit auf eine tiefere Stufe zurückwerfen würde, ob also nicht
der Interessengegensatz, der die vollkommne Beherrschung des Wirtschaftslebens
von einem Zentrum aus -- etwa durch einen Weltwvhlfahrtsausschuß --
hindert, für die Menschheit notwendig ist und bis zum Ende aller Dinge fort¬
bestehen muß, das eben ist die große Frage!

Wenn Marx die Bedeutung des Ökonomischen für die Weltgeschichte der
Erfahrung entnommen hat, so entstammt dagegen seine Ansicht von der Rolle,
die das Proletariat in der nächsten Zukunft spielen sollte, der Verbindung
einer nur im damaligen England zu machenden Erfahrung mit der Hegelschen
Spekulation. In England waren damals die verlumpten Arbeiter, an die
man bei dem Worte Proletarier zu denken pflegt, in solchen Massen zu sehen,
daß man sie für den einen der beiden Hauptbestandteile des englischen Volks
halten konnte; und da nun dieses Proletariat der denkbar schärfste Gegensatz
zur herrschenden Bourgeoisie war, und da nach Hegel die Weltgeschichte in
Gegensätzen fortschreitet, so -- konnte die Herrschaft der Bourgeoisie nur
von der des Proletariats abgelöst werden. Dabei wurde noch vorausgesetzt,
daß Englands Entwicklung typisch sei für die aller andern Kulturstaaten. Daß
ein siegreiches Lumpengesindel wohl morden, plündern und verwüsten, aber
weder herrschen noch regieren noch die Produktion leiten könnte, das galt als
eine Kleinigkeit, durch die sich der große Geist nicht genieren zu lassen brauchte.
Hegels Satz ist ja nun richtig, aber gegen seine thörichte Anwendung bemerkt
Bernstein mit Fr. A. Lange, "daß wie im Leben des Einzelnen, so auch in
der Geschichte die Entwicklung dnrch den Gegensatz sich weder so leicht und
radikal, noch so präzis und symmetrisch macht wie in der spekulativen Kon¬
struktion." Ein moderner Staat enthält eben eine Unzahl von Gegensätze",
unter denen der von Proletariat und Bourgeoisie nur einer ist, und dieser
eine hatte in seiner klassischen Heimat England schon vor Marxens Tode seine
Schroffheit und seine überragende Bedeutung verloren. Selbst wenn die Ent¬
wicklung überall ans dem Wege weiter gegangen wäre, den sie in England


Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

achtmig dieser Kräfte, aber eben weil ihnen die Menschheit größere Beachtung
schenke und hierdurch tiefere Einsicht in sie gewinne, vermöge sie das Wirt¬
schaftsleben besser zu leiten und zu beherrschen als ehedem. „Wie die physische,
so wird auch die ökonomische Naturmacht in dem Maße aus einer Beherrscherin
eine Dienerin der Menschen, als ihr Wesen erkannt ist." Nur der Widerstreit
der Privat- und Gruppeninteressen hindere, daß die so erlangte theoretische
Freiheit in praktische übergesetzt werde; dieses Hindernis werde in dem Maße
schwinden, als das Allgemeininteresse Macht gewinne über das Privatinter¬
esse. — Ob es überhaupt ein solches Allgemeininteresse giebt, ob nicht die
größtmögliche Befriedigung der Mehrzahl, die man ja bei dem Worte All¬
gemeinheit gewöhnlich im Sinne hat, die Aufopferung gerade der hervor¬
ragendsten Geister erfordern und deren Beseitigung oder Unterdrückung die
gesamte Menschheit auf eine tiefere Stufe zurückwerfen würde, ob also nicht
der Interessengegensatz, der die vollkommne Beherrschung des Wirtschaftslebens
von einem Zentrum aus — etwa durch einen Weltwvhlfahrtsausschuß —
hindert, für die Menschheit notwendig ist und bis zum Ende aller Dinge fort¬
bestehen muß, das eben ist die große Frage!

Wenn Marx die Bedeutung des Ökonomischen für die Weltgeschichte der
Erfahrung entnommen hat, so entstammt dagegen seine Ansicht von der Rolle,
die das Proletariat in der nächsten Zukunft spielen sollte, der Verbindung
einer nur im damaligen England zu machenden Erfahrung mit der Hegelschen
Spekulation. In England waren damals die verlumpten Arbeiter, an die
man bei dem Worte Proletarier zu denken pflegt, in solchen Massen zu sehen,
daß man sie für den einen der beiden Hauptbestandteile des englischen Volks
halten konnte; und da nun dieses Proletariat der denkbar schärfste Gegensatz
zur herrschenden Bourgeoisie war, und da nach Hegel die Weltgeschichte in
Gegensätzen fortschreitet, so — konnte die Herrschaft der Bourgeoisie nur
von der des Proletariats abgelöst werden. Dabei wurde noch vorausgesetzt,
daß Englands Entwicklung typisch sei für die aller andern Kulturstaaten. Daß
ein siegreiches Lumpengesindel wohl morden, plündern und verwüsten, aber
weder herrschen noch regieren noch die Produktion leiten könnte, das galt als
eine Kleinigkeit, durch die sich der große Geist nicht genieren zu lassen brauchte.
Hegels Satz ist ja nun richtig, aber gegen seine thörichte Anwendung bemerkt
Bernstein mit Fr. A. Lange, „daß wie im Leben des Einzelnen, so auch in
der Geschichte die Entwicklung dnrch den Gegensatz sich weder so leicht und
radikal, noch so präzis und symmetrisch macht wie in der spekulativen Kon¬
struktion." Ein moderner Staat enthält eben eine Unzahl von Gegensätze»,
unter denen der von Proletariat und Bourgeoisie nur einer ist, und dieser
eine hatte in seiner klassischen Heimat England schon vor Marxens Tode seine
Schroffheit und seine überragende Bedeutung verloren. Selbst wenn die Ent¬
wicklung überall ans dem Wege weiter gegangen wäre, den sie in England


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[0403] Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie achtmig dieser Kräfte, aber eben weil ihnen die Menschheit größere Beachtung schenke und hierdurch tiefere Einsicht in sie gewinne, vermöge sie das Wirt¬ schaftsleben besser zu leiten und zu beherrschen als ehedem. „Wie die physische, so wird auch die ökonomische Naturmacht in dem Maße aus einer Beherrscherin eine Dienerin der Menschen, als ihr Wesen erkannt ist." Nur der Widerstreit der Privat- und Gruppeninteressen hindere, daß die so erlangte theoretische Freiheit in praktische übergesetzt werde; dieses Hindernis werde in dem Maße schwinden, als das Allgemeininteresse Macht gewinne über das Privatinter¬ esse. — Ob es überhaupt ein solches Allgemeininteresse giebt, ob nicht die größtmögliche Befriedigung der Mehrzahl, die man ja bei dem Worte All¬ gemeinheit gewöhnlich im Sinne hat, die Aufopferung gerade der hervor¬ ragendsten Geister erfordern und deren Beseitigung oder Unterdrückung die gesamte Menschheit auf eine tiefere Stufe zurückwerfen würde, ob also nicht der Interessengegensatz, der die vollkommne Beherrschung des Wirtschaftslebens von einem Zentrum aus — etwa durch einen Weltwvhlfahrtsausschuß — hindert, für die Menschheit notwendig ist und bis zum Ende aller Dinge fort¬ bestehen muß, das eben ist die große Frage! Wenn Marx die Bedeutung des Ökonomischen für die Weltgeschichte der Erfahrung entnommen hat, so entstammt dagegen seine Ansicht von der Rolle, die das Proletariat in der nächsten Zukunft spielen sollte, der Verbindung einer nur im damaligen England zu machenden Erfahrung mit der Hegelschen Spekulation. In England waren damals die verlumpten Arbeiter, an die man bei dem Worte Proletarier zu denken pflegt, in solchen Massen zu sehen, daß man sie für den einen der beiden Hauptbestandteile des englischen Volks halten konnte; und da nun dieses Proletariat der denkbar schärfste Gegensatz zur herrschenden Bourgeoisie war, und da nach Hegel die Weltgeschichte in Gegensätzen fortschreitet, so — konnte die Herrschaft der Bourgeoisie nur von der des Proletariats abgelöst werden. Dabei wurde noch vorausgesetzt, daß Englands Entwicklung typisch sei für die aller andern Kulturstaaten. Daß ein siegreiches Lumpengesindel wohl morden, plündern und verwüsten, aber weder herrschen noch regieren noch die Produktion leiten könnte, das galt als eine Kleinigkeit, durch die sich der große Geist nicht genieren zu lassen brauchte. Hegels Satz ist ja nun richtig, aber gegen seine thörichte Anwendung bemerkt Bernstein mit Fr. A. Lange, „daß wie im Leben des Einzelnen, so auch in der Geschichte die Entwicklung dnrch den Gegensatz sich weder so leicht und radikal, noch so präzis und symmetrisch macht wie in der spekulativen Kon¬ struktion." Ein moderner Staat enthält eben eine Unzahl von Gegensätze», unter denen der von Proletariat und Bourgeoisie nur einer ist, und dieser eine hatte in seiner klassischen Heimat England schon vor Marxens Tode seine Schroffheit und seine überragende Bedeutung verloren. Selbst wenn die Ent¬ wicklung überall ans dem Wege weiter gegangen wäre, den sie in England

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/403>, abgerufen am 28.09.2024.