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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

tendenziöser Absicht zu Grunde. Was man offen zu bekämpfen scheute, suchte
man durch Verschweigen, Übersehen, Zurückdatieren, durch hundert ähnliche
Künste den Augen und dem Bewußtsein des bessern Publikums zu entrücken.
Man berief sich auf einen Elendszustand der Litteratur, der entweder uicht
vorhanden oder, soweit er vorhanden war, die großen selbständig schaffenden
Kräfte einer andern Weltauffassung und Kunstanschauung genau so gut und
härter traf als die jugendlichen Romantiker. -- Derselbe Vorgang wiederholte
sich um 1830. Das junge Deutschland wußte nichts oder wollte nichts wissen
von der gewaltigen Entwicklung eines Dichters wie Grillparzer -- der immer
der Schicksalspoet der "Ahnfrau" blieb --, es verhöhnte die uicht entwicklungs¬
fähige Trivialromantik der ritterlich minniglichen de la Motte Fouque und
Graf Löcher, sah aber nicht, welchen breiten Weg zur poetischen Darstellung
der Gegenwart und des reicher gewordnen Lebens die Novellistik von Tiecks
zweiter Periode eröffnet hatte, es ignorierte die aufstrebenden Talente wie
Platen, Immermann und Wilibald Alexis, es erkannte echtes Leben in keinem
der jüngern Lyriker der schwäbischen Schule, in deren Reihen neben Uhland
schon ein Mörike stand, es konstruierte eine Litteratur, deren Spitzen Clauren,
Töpfer, Tromlitz und Blumenhagen hießen, es sprach der reifsten Meisterschaft
wie den lebensvollsten Anfängen gegenüber nur von Erstarrung, irreligiösen
Privatinteresse, vou armseligen Puppenkünsten und Hofratspurzelbäumcn, es
suchte die Welt glaube" zu machen, daß außerhalb der Gruppe juugdeutscher
Autoren keine Spur von Weltcrfassuug und Lebensgefühl, von echter Leiden¬
schaft und schaffendem Geiste zu finden sei. -- Und zum drittenmale wird in
den ersten achtziger Jahren die Revolution mit einer bewußt und unbewußt
falschen und schiefen Charakteristik der zeitgenössischen Litteratur eingeleitet.
Die genialen und großen Talente der jüngsten Vergangenheit, wie Friedrich
Hebbel und Otto Ludwig, deren Nachwirkungen auf Schritt und Tritt noch
zu spüren waren, die wirklich schaffenden Kräfte von Freytag bis Fritz Reuter,
vou Gottfried Keller zu Theodor Storni, von Wilhelm Raabe bis zu Konrad
Ferdinand Meyer, von Paul Heyse bis zu Friedrich Spielhagen werden übersehen,
totgeschwiegen und gegen das Zerrbild einer Litteratur, deren höchste Repräsen¬
tanten die Backfischlyriker und die Gartenlaubeuerzählerinnen, die Paul Lindau
und Blilmcnthal, die Georg Ebers und Felix Dahn sind, ein malaiischer Wut¬
lauf eröffnet, der die wirklichen Kenner der wirklichen Litteratur, wie bescheiden
sie immer von den Leistungen der siebziger Jahre denken mochten, zunächst
nur in staunende Verwunderung setzen konnte.

(FortseMng folgt)




Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

tendenziöser Absicht zu Grunde. Was man offen zu bekämpfen scheute, suchte
man durch Verschweigen, Übersehen, Zurückdatieren, durch hundert ähnliche
Künste den Augen und dem Bewußtsein des bessern Publikums zu entrücken.
Man berief sich auf einen Elendszustand der Litteratur, der entweder uicht
vorhanden oder, soweit er vorhanden war, die großen selbständig schaffenden
Kräfte einer andern Weltauffassung und Kunstanschauung genau so gut und
härter traf als die jugendlichen Romantiker. — Derselbe Vorgang wiederholte
sich um 1830. Das junge Deutschland wußte nichts oder wollte nichts wissen
von der gewaltigen Entwicklung eines Dichters wie Grillparzer — der immer
der Schicksalspoet der „Ahnfrau" blieb —, es verhöhnte die uicht entwicklungs¬
fähige Trivialromantik der ritterlich minniglichen de la Motte Fouque und
Graf Löcher, sah aber nicht, welchen breiten Weg zur poetischen Darstellung
der Gegenwart und des reicher gewordnen Lebens die Novellistik von Tiecks
zweiter Periode eröffnet hatte, es ignorierte die aufstrebenden Talente wie
Platen, Immermann und Wilibald Alexis, es erkannte echtes Leben in keinem
der jüngern Lyriker der schwäbischen Schule, in deren Reihen neben Uhland
schon ein Mörike stand, es konstruierte eine Litteratur, deren Spitzen Clauren,
Töpfer, Tromlitz und Blumenhagen hießen, es sprach der reifsten Meisterschaft
wie den lebensvollsten Anfängen gegenüber nur von Erstarrung, irreligiösen
Privatinteresse, vou armseligen Puppenkünsten und Hofratspurzelbäumcn, es
suchte die Welt glaube» zu machen, daß außerhalb der Gruppe juugdeutscher
Autoren keine Spur von Weltcrfassuug und Lebensgefühl, von echter Leiden¬
schaft und schaffendem Geiste zu finden sei. — Und zum drittenmale wird in
den ersten achtziger Jahren die Revolution mit einer bewußt und unbewußt
falschen und schiefen Charakteristik der zeitgenössischen Litteratur eingeleitet.
Die genialen und großen Talente der jüngsten Vergangenheit, wie Friedrich
Hebbel und Otto Ludwig, deren Nachwirkungen auf Schritt und Tritt noch
zu spüren waren, die wirklich schaffenden Kräfte von Freytag bis Fritz Reuter,
vou Gottfried Keller zu Theodor Storni, von Wilhelm Raabe bis zu Konrad
Ferdinand Meyer, von Paul Heyse bis zu Friedrich Spielhagen werden übersehen,
totgeschwiegen und gegen das Zerrbild einer Litteratur, deren höchste Repräsen¬
tanten die Backfischlyriker und die Gartenlaubeuerzählerinnen, die Paul Lindau
und Blilmcnthal, die Georg Ebers und Felix Dahn sind, ein malaiischer Wut¬
lauf eröffnet, der die wirklichen Kenner der wirklichen Litteratur, wie bescheiden
sie immer von den Leistungen der siebziger Jahre denken mochten, zunächst
nur in staunende Verwunderung setzen konnte.

(FortseMng folgt)




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[0038] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur tendenziöser Absicht zu Grunde. Was man offen zu bekämpfen scheute, suchte man durch Verschweigen, Übersehen, Zurückdatieren, durch hundert ähnliche Künste den Augen und dem Bewußtsein des bessern Publikums zu entrücken. Man berief sich auf einen Elendszustand der Litteratur, der entweder uicht vorhanden oder, soweit er vorhanden war, die großen selbständig schaffenden Kräfte einer andern Weltauffassung und Kunstanschauung genau so gut und härter traf als die jugendlichen Romantiker. — Derselbe Vorgang wiederholte sich um 1830. Das junge Deutschland wußte nichts oder wollte nichts wissen von der gewaltigen Entwicklung eines Dichters wie Grillparzer — der immer der Schicksalspoet der „Ahnfrau" blieb —, es verhöhnte die uicht entwicklungs¬ fähige Trivialromantik der ritterlich minniglichen de la Motte Fouque und Graf Löcher, sah aber nicht, welchen breiten Weg zur poetischen Darstellung der Gegenwart und des reicher gewordnen Lebens die Novellistik von Tiecks zweiter Periode eröffnet hatte, es ignorierte die aufstrebenden Talente wie Platen, Immermann und Wilibald Alexis, es erkannte echtes Leben in keinem der jüngern Lyriker der schwäbischen Schule, in deren Reihen neben Uhland schon ein Mörike stand, es konstruierte eine Litteratur, deren Spitzen Clauren, Töpfer, Tromlitz und Blumenhagen hießen, es sprach der reifsten Meisterschaft wie den lebensvollsten Anfängen gegenüber nur von Erstarrung, irreligiösen Privatinteresse, vou armseligen Puppenkünsten und Hofratspurzelbäumcn, es suchte die Welt glaube» zu machen, daß außerhalb der Gruppe juugdeutscher Autoren keine Spur von Weltcrfassuug und Lebensgefühl, von echter Leiden¬ schaft und schaffendem Geiste zu finden sei. — Und zum drittenmale wird in den ersten achtziger Jahren die Revolution mit einer bewußt und unbewußt falschen und schiefen Charakteristik der zeitgenössischen Litteratur eingeleitet. Die genialen und großen Talente der jüngsten Vergangenheit, wie Friedrich Hebbel und Otto Ludwig, deren Nachwirkungen auf Schritt und Tritt noch zu spüren waren, die wirklich schaffenden Kräfte von Freytag bis Fritz Reuter, vou Gottfried Keller zu Theodor Storni, von Wilhelm Raabe bis zu Konrad Ferdinand Meyer, von Paul Heyse bis zu Friedrich Spielhagen werden übersehen, totgeschwiegen und gegen das Zerrbild einer Litteratur, deren höchste Repräsen¬ tanten die Backfischlyriker und die Gartenlaubeuerzählerinnen, die Paul Lindau und Blilmcnthal, die Georg Ebers und Felix Dahn sind, ein malaiischer Wut¬ lauf eröffnet, der die wirklichen Kenner der wirklichen Litteratur, wie bescheiden sie immer von den Leistungen der siebziger Jahre denken mochten, zunächst nur in staunende Verwunderung setzen konnte. (FortseMng folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/38>, abgerufen am 28.09.2024.