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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

das in neuerer Zeit die Kunstwissenschaft viel beschäftigt hat, die Charakteristik
des Barocco. Die Grundlinien dazu hat Jakob Burckhardt gegeben, andre
Forscher, unter ihnen auch Wölfflin in einer frühern Schrift, haben das Bild
erweitert, und jetzt steht uns der Barockstil mit seinen Merkmalen in der Archi¬
tektur, Skulptur und Malerei als eine gegen die Renaissance abgegrenzte Er¬
scheinung ziemlich deutlich vor Augen. In Bezug auf die Scheidung von
Hoch- und Frührenaissance sind wir noch nicht soweit. Wir haben noch keine
Charakteristik der Cinquecentoarchitektur -- man denke nur an die Palast¬
sassade und die Wandlungen Bramantes, der beiden Jahrhunderten an¬
gehört, geben der Kunstforschung noch viel zu raten. Am deutlichsten sind die
Unterschiede in der Plastik. Für die Malerei hat Burckhardt an zwei Stellen
seiner nachgelassenen Beitrüge zur Kunstgeschichte einige Hauptmerkmale gut
hervorgehoben.

Aber diesen einzelnen Beobachtungen gegenüber giebt uns jetzt Wölfflin
in seinem schönen Buche etwas Ganzes, eine volle, künstlerisch abgerundete
Darstellung des Cinquecentostils in der Malerei und Plastik. Meisterhaft und
sicher ist der Stoff angeordnet, klar, anschaulich und scharf bezeichnend der
Ausdruck, schlicht und natürlich ohne Phrasen und technische oder philosophische
Bezeichnungen giebt er uns den unmittelbaren Eindruck der Gegenstände. Das
Buch ist geradezu ein Muster dafür, was die Sprache der Kunstbetrachtung
leisten kann. Die Beweisführung wird durch gutgewühlte und scharfe Ab¬
bildungen unterstützt; gleichartige Gegenstünde des fünfzehnten und des sech¬
zehnten Jahrhunderts sind einander gegenübergestellt und zeigen oft in ganz
überraschender Weise belehrende Gegensätze.

Das Buch besteht aus zwei Teilen, einem historischen, der das Material
des klassischen Stils vor uns ausbreitet, die Hauptwerke der bedeutendsten
mittelitalienischen Meister -- die Venezianer werden, weil sie unter besondern
Bedingungen stehn, nur gelegentlich mit berücksichtigt --, und einem systema¬
tischen Teile, worin nach den allgemeinen Gründen der neuen Erscheinung ge¬
fragt wird.

In der Skulptur hängt hier beinahe alles von Michelangelo ab, der auch
in der Malerei Plastiker ist, und dessen Wirken passend in zwei durch das
Jahr 1520 geschiedne Abschnitte zerlegt wird. Den "reinen" Stil stellt die
Sixtinische Decke dar und der Moses des Juliusdenkmals, dessen andre Be¬
standteile, die Nadel und Lea, sowie die Sklaven, sich schon dem Barock
nähern. Die Skulpturen der Medizeerkapelle werden als Zeugnisse dieses
spätern Stils eingehend analysiert, es wird gezeigt, wie Michelangelo den
Verfall vorbereitet, und dieses ganze formale Kapitel scheint mir durch Wölfflin
so ziemlich erledigt zu sein. Sehr hübsch ist auch namentlich bei den Jugend¬
arbeiten Michelangelos gezeigt, inwiefern sie schon den Charakter der Hoch¬
renaissance haben, und wie allmählich das Cinquecento aus dem Quattrocento


Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

das in neuerer Zeit die Kunstwissenschaft viel beschäftigt hat, die Charakteristik
des Barocco. Die Grundlinien dazu hat Jakob Burckhardt gegeben, andre
Forscher, unter ihnen auch Wölfflin in einer frühern Schrift, haben das Bild
erweitert, und jetzt steht uns der Barockstil mit seinen Merkmalen in der Archi¬
tektur, Skulptur und Malerei als eine gegen die Renaissance abgegrenzte Er¬
scheinung ziemlich deutlich vor Augen. In Bezug auf die Scheidung von
Hoch- und Frührenaissance sind wir noch nicht soweit. Wir haben noch keine
Charakteristik der Cinquecentoarchitektur — man denke nur an die Palast¬
sassade und die Wandlungen Bramantes, der beiden Jahrhunderten an¬
gehört, geben der Kunstforschung noch viel zu raten. Am deutlichsten sind die
Unterschiede in der Plastik. Für die Malerei hat Burckhardt an zwei Stellen
seiner nachgelassenen Beitrüge zur Kunstgeschichte einige Hauptmerkmale gut
hervorgehoben.

Aber diesen einzelnen Beobachtungen gegenüber giebt uns jetzt Wölfflin
in seinem schönen Buche etwas Ganzes, eine volle, künstlerisch abgerundete
Darstellung des Cinquecentostils in der Malerei und Plastik. Meisterhaft und
sicher ist der Stoff angeordnet, klar, anschaulich und scharf bezeichnend der
Ausdruck, schlicht und natürlich ohne Phrasen und technische oder philosophische
Bezeichnungen giebt er uns den unmittelbaren Eindruck der Gegenstände. Das
Buch ist geradezu ein Muster dafür, was die Sprache der Kunstbetrachtung
leisten kann. Die Beweisführung wird durch gutgewühlte und scharfe Ab¬
bildungen unterstützt; gleichartige Gegenstünde des fünfzehnten und des sech¬
zehnten Jahrhunderts sind einander gegenübergestellt und zeigen oft in ganz
überraschender Weise belehrende Gegensätze.

Das Buch besteht aus zwei Teilen, einem historischen, der das Material
des klassischen Stils vor uns ausbreitet, die Hauptwerke der bedeutendsten
mittelitalienischen Meister — die Venezianer werden, weil sie unter besondern
Bedingungen stehn, nur gelegentlich mit berücksichtigt —, und einem systema¬
tischen Teile, worin nach den allgemeinen Gründen der neuen Erscheinung ge¬
fragt wird.

In der Skulptur hängt hier beinahe alles von Michelangelo ab, der auch
in der Malerei Plastiker ist, und dessen Wirken passend in zwei durch das
Jahr 1520 geschiedne Abschnitte zerlegt wird. Den „reinen" Stil stellt die
Sixtinische Decke dar und der Moses des Juliusdenkmals, dessen andre Be¬
standteile, die Nadel und Lea, sowie die Sklaven, sich schon dem Barock
nähern. Die Skulpturen der Medizeerkapelle werden als Zeugnisse dieses
spätern Stils eingehend analysiert, es wird gezeigt, wie Michelangelo den
Verfall vorbereitet, und dieses ganze formale Kapitel scheint mir durch Wölfflin
so ziemlich erledigt zu sein. Sehr hübsch ist auch namentlich bei den Jugend¬
arbeiten Michelangelos gezeigt, inwiefern sie schon den Charakter der Hoch¬
renaissance haben, und wie allmählich das Cinquecento aus dem Quattrocento


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[0371] Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance das in neuerer Zeit die Kunstwissenschaft viel beschäftigt hat, die Charakteristik des Barocco. Die Grundlinien dazu hat Jakob Burckhardt gegeben, andre Forscher, unter ihnen auch Wölfflin in einer frühern Schrift, haben das Bild erweitert, und jetzt steht uns der Barockstil mit seinen Merkmalen in der Archi¬ tektur, Skulptur und Malerei als eine gegen die Renaissance abgegrenzte Er¬ scheinung ziemlich deutlich vor Augen. In Bezug auf die Scheidung von Hoch- und Frührenaissance sind wir noch nicht soweit. Wir haben noch keine Charakteristik der Cinquecentoarchitektur — man denke nur an die Palast¬ sassade und die Wandlungen Bramantes, der beiden Jahrhunderten an¬ gehört, geben der Kunstforschung noch viel zu raten. Am deutlichsten sind die Unterschiede in der Plastik. Für die Malerei hat Burckhardt an zwei Stellen seiner nachgelassenen Beitrüge zur Kunstgeschichte einige Hauptmerkmale gut hervorgehoben. Aber diesen einzelnen Beobachtungen gegenüber giebt uns jetzt Wölfflin in seinem schönen Buche etwas Ganzes, eine volle, künstlerisch abgerundete Darstellung des Cinquecentostils in der Malerei und Plastik. Meisterhaft und sicher ist der Stoff angeordnet, klar, anschaulich und scharf bezeichnend der Ausdruck, schlicht und natürlich ohne Phrasen und technische oder philosophische Bezeichnungen giebt er uns den unmittelbaren Eindruck der Gegenstände. Das Buch ist geradezu ein Muster dafür, was die Sprache der Kunstbetrachtung leisten kann. Die Beweisführung wird durch gutgewühlte und scharfe Ab¬ bildungen unterstützt; gleichartige Gegenstünde des fünfzehnten und des sech¬ zehnten Jahrhunderts sind einander gegenübergestellt und zeigen oft in ganz überraschender Weise belehrende Gegensätze. Das Buch besteht aus zwei Teilen, einem historischen, der das Material des klassischen Stils vor uns ausbreitet, die Hauptwerke der bedeutendsten mittelitalienischen Meister — die Venezianer werden, weil sie unter besondern Bedingungen stehn, nur gelegentlich mit berücksichtigt —, und einem systema¬ tischen Teile, worin nach den allgemeinen Gründen der neuen Erscheinung ge¬ fragt wird. In der Skulptur hängt hier beinahe alles von Michelangelo ab, der auch in der Malerei Plastiker ist, und dessen Wirken passend in zwei durch das Jahr 1520 geschiedne Abschnitte zerlegt wird. Den „reinen" Stil stellt die Sixtinische Decke dar und der Moses des Juliusdenkmals, dessen andre Be¬ standteile, die Nadel und Lea, sowie die Sklaven, sich schon dem Barock nähern. Die Skulpturen der Medizeerkapelle werden als Zeugnisse dieses spätern Stils eingehend analysiert, es wird gezeigt, wie Michelangelo den Verfall vorbereitet, und dieses ganze formale Kapitel scheint mir durch Wölfflin so ziemlich erledigt zu sein. Sehr hübsch ist auch namentlich bei den Jugend¬ arbeiten Michelangelos gezeigt, inwiefern sie schon den Charakter der Hoch¬ renaissance haben, und wie allmählich das Cinquecento aus dem Quattrocento

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/371>, abgerufen am 28.09.2024.