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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

mit ihrem Lande, mit den Geschicken ihres Volkes und den Stimmungen ihrer
Zeit zusammenhangt. Nirgends liegen aber diese Zusammenhänge so klar vor
Augen wie in der Kunst der italienischen Frührenaissance, und gerade diesem
Gebiete ist deshalb in neuerer Zeit durch die geschichtliche Betrachtungsweise
die Teilnahme weiter Kreise gewonnen worden. Gegen die Liebhaberei für
das Quattrocento ist sogar das Interesse für die Hochrenaissance etwas in den
Hintergrund getreten; Rafsael und Andrea del Sarto erscheinen uns zwar edler
und vornehmer, aber weniger naturwüchsig und eigentümlich, als scabro
Botticelli oder Ghirlandajo. Das Ortliche, das uns, wenn wir es einmal
erkannt haben, die Künstler des Quattrocento nahe bringt und vertraut macht,
ist in der Hochrenaissance nicht mehr so leicht zu finden, weil es einer höhern
und mehr allgemeingiltigen formalen Erscheinung hat Platz machen müssen.
Im fünfzehnten Jahrhundert ist vieles noch unvollkommen, aber alles ist in¬
dividuell. Im sechzehnten wird die große Form gefunden, die das Ziel der
Kunst ist, aber die Naivität, die das Suchen und Lernen äußerlich so liebens¬
würdig machte, ist dahin, und die große Form hat manchmal auch etwas er¬
kältendes. Während uns also diese geschichtliche, stoffliche Betrachtungsweise
in Bezug auf das Quattrocento schon den größten Teil des Genusses ver¬
mittelt, den dieses Gebiet uns überhaupt gewähren kann, führt sie uns im
Cinquecento nur an den Anfang des Verständnisses, denn jetzt erst kommt das
Künstlerische an die Reihe, das, worin das sechzehnte Jahrhundert dem fünf¬
zehnten überlegen ist, das für alle Zeiten geltende Normale oder "Klassische,"
wie wir nun auch sagen können.

Hierüber erhalten wir reiche Belehrung durch ein kürzlich erschienenes
Buch von Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst, eine Einführung in
die italienische Renaissance, mit 110 Abbildungen (München, Bruckmann).
Der Bildhauer Adolf Hildebrand hat in seiner Schrift "Problem der Form"
gegen die historische Betrachtungsweise der Kunst eingewandt, durch sie würden
die Nebenbeziehungen zur Hauptsache gemacht, und der künstlerische Inhalt,
der unbekümmert um allen Zeitenwechsel seinen innern Gesetzen folge, werde
ignoriert. Daran anknüpfend sagt Wölfflin, diese Kritik sei einseitig, aber
vielleicht nützlich. Die Charakteristik der Künstlerpersönlichkeiten, der indivi¬
duellen Stile und des Zeitstils müsse immer eine Aufgabe der Kunstgeschichte
bleiben, aber in der That habe die historische Wissenschaft das größere Thema
der "Kunst" fast ganz aus der Hand gegeben und der Kunstphilosophie über¬
lassen, der sie doch so oft schon die Existenzberechtigung abgesprochen habe.
Das Natürlichste wäre, daß jede kunstgeschichtliche Monographie zugleich ein
Stück Ästhetik enthielte. Darum will er in seinem Buche den künstlerischen
Inhalt der italienischen Hochrenaissance, des reifen, vollentwickelten, klassischen
Cinquecento klarmachen.

Es mag hier kurz an ein andres stilkritisches Problem erinnert werden,


Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance

mit ihrem Lande, mit den Geschicken ihres Volkes und den Stimmungen ihrer
Zeit zusammenhangt. Nirgends liegen aber diese Zusammenhänge so klar vor
Augen wie in der Kunst der italienischen Frührenaissance, und gerade diesem
Gebiete ist deshalb in neuerer Zeit durch die geschichtliche Betrachtungsweise
die Teilnahme weiter Kreise gewonnen worden. Gegen die Liebhaberei für
das Quattrocento ist sogar das Interesse für die Hochrenaissance etwas in den
Hintergrund getreten; Rafsael und Andrea del Sarto erscheinen uns zwar edler
und vornehmer, aber weniger naturwüchsig und eigentümlich, als scabro
Botticelli oder Ghirlandajo. Das Ortliche, das uns, wenn wir es einmal
erkannt haben, die Künstler des Quattrocento nahe bringt und vertraut macht,
ist in der Hochrenaissance nicht mehr so leicht zu finden, weil es einer höhern
und mehr allgemeingiltigen formalen Erscheinung hat Platz machen müssen.
Im fünfzehnten Jahrhundert ist vieles noch unvollkommen, aber alles ist in¬
dividuell. Im sechzehnten wird die große Form gefunden, die das Ziel der
Kunst ist, aber die Naivität, die das Suchen und Lernen äußerlich so liebens¬
würdig machte, ist dahin, und die große Form hat manchmal auch etwas er¬
kältendes. Während uns also diese geschichtliche, stoffliche Betrachtungsweise
in Bezug auf das Quattrocento schon den größten Teil des Genusses ver¬
mittelt, den dieses Gebiet uns überhaupt gewähren kann, führt sie uns im
Cinquecento nur an den Anfang des Verständnisses, denn jetzt erst kommt das
Künstlerische an die Reihe, das, worin das sechzehnte Jahrhundert dem fünf¬
zehnten überlegen ist, das für alle Zeiten geltende Normale oder „Klassische,"
wie wir nun auch sagen können.

Hierüber erhalten wir reiche Belehrung durch ein kürzlich erschienenes
Buch von Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst, eine Einführung in
die italienische Renaissance, mit 110 Abbildungen (München, Bruckmann).
Der Bildhauer Adolf Hildebrand hat in seiner Schrift „Problem der Form"
gegen die historische Betrachtungsweise der Kunst eingewandt, durch sie würden
die Nebenbeziehungen zur Hauptsache gemacht, und der künstlerische Inhalt,
der unbekümmert um allen Zeitenwechsel seinen innern Gesetzen folge, werde
ignoriert. Daran anknüpfend sagt Wölfflin, diese Kritik sei einseitig, aber
vielleicht nützlich. Die Charakteristik der Künstlerpersönlichkeiten, der indivi¬
duellen Stile und des Zeitstils müsse immer eine Aufgabe der Kunstgeschichte
bleiben, aber in der That habe die historische Wissenschaft das größere Thema
der „Kunst" fast ganz aus der Hand gegeben und der Kunstphilosophie über¬
lassen, der sie doch so oft schon die Existenzberechtigung abgesprochen habe.
Das Natürlichste wäre, daß jede kunstgeschichtliche Monographie zugleich ein
Stück Ästhetik enthielte. Darum will er in seinem Buche den künstlerischen
Inhalt der italienischen Hochrenaissance, des reifen, vollentwickelten, klassischen
Cinquecento klarmachen.

Es mag hier kurz an ein andres stilkritisches Problem erinnert werden,


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[0370] Zur Charakteristik der italienischen Hochrenaissance mit ihrem Lande, mit den Geschicken ihres Volkes und den Stimmungen ihrer Zeit zusammenhangt. Nirgends liegen aber diese Zusammenhänge so klar vor Augen wie in der Kunst der italienischen Frührenaissance, und gerade diesem Gebiete ist deshalb in neuerer Zeit durch die geschichtliche Betrachtungsweise die Teilnahme weiter Kreise gewonnen worden. Gegen die Liebhaberei für das Quattrocento ist sogar das Interesse für die Hochrenaissance etwas in den Hintergrund getreten; Rafsael und Andrea del Sarto erscheinen uns zwar edler und vornehmer, aber weniger naturwüchsig und eigentümlich, als scabro Botticelli oder Ghirlandajo. Das Ortliche, das uns, wenn wir es einmal erkannt haben, die Künstler des Quattrocento nahe bringt und vertraut macht, ist in der Hochrenaissance nicht mehr so leicht zu finden, weil es einer höhern und mehr allgemeingiltigen formalen Erscheinung hat Platz machen müssen. Im fünfzehnten Jahrhundert ist vieles noch unvollkommen, aber alles ist in¬ dividuell. Im sechzehnten wird die große Form gefunden, die das Ziel der Kunst ist, aber die Naivität, die das Suchen und Lernen äußerlich so liebens¬ würdig machte, ist dahin, und die große Form hat manchmal auch etwas er¬ kältendes. Während uns also diese geschichtliche, stoffliche Betrachtungsweise in Bezug auf das Quattrocento schon den größten Teil des Genusses ver¬ mittelt, den dieses Gebiet uns überhaupt gewähren kann, führt sie uns im Cinquecento nur an den Anfang des Verständnisses, denn jetzt erst kommt das Künstlerische an die Reihe, das, worin das sechzehnte Jahrhundert dem fünf¬ zehnten überlegen ist, das für alle Zeiten geltende Normale oder „Klassische," wie wir nun auch sagen können. Hierüber erhalten wir reiche Belehrung durch ein kürzlich erschienenes Buch von Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst, eine Einführung in die italienische Renaissance, mit 110 Abbildungen (München, Bruckmann). Der Bildhauer Adolf Hildebrand hat in seiner Schrift „Problem der Form" gegen die historische Betrachtungsweise der Kunst eingewandt, durch sie würden die Nebenbeziehungen zur Hauptsache gemacht, und der künstlerische Inhalt, der unbekümmert um allen Zeitenwechsel seinen innern Gesetzen folge, werde ignoriert. Daran anknüpfend sagt Wölfflin, diese Kritik sei einseitig, aber vielleicht nützlich. Die Charakteristik der Künstlerpersönlichkeiten, der indivi¬ duellen Stile und des Zeitstils müsse immer eine Aufgabe der Kunstgeschichte bleiben, aber in der That habe die historische Wissenschaft das größere Thema der „Kunst" fast ganz aus der Hand gegeben und der Kunstphilosophie über¬ lassen, der sie doch so oft schon die Existenzberechtigung abgesprochen habe. Das Natürlichste wäre, daß jede kunstgeschichtliche Monographie zugleich ein Stück Ästhetik enthielte. Darum will er in seinem Buche den künstlerischen Inhalt der italienischen Hochrenaissance, des reifen, vollentwickelten, klassischen Cinquecento klarmachen. Es mag hier kurz an ein andres stilkritisches Problem erinnert werden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/370>, abgerufen am 28.09.2024.