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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Daß in allen drei Umwälzungen, trotz allem Dunst, ein fester, entfaltungs-
fühiger Kern steckte, in allen drei das unabweisbare Lebens- und Schaffens-
bedürfuis der Jugend zu Wort und Gestalt kam, daß sich alle drei ein Ver¬
dienst um die Wegspülung von Moder und Schutt erwarben, soll durchaus
nicht geleugnet werden, und wir behalten uns den Vergleich ihrer positiven
Leistungen ausdrücklich und um so mehr vor, als auch dieser anziehend und
lehrreich genng ist. Doch vorerst handelt es sich um die in allen drei Um¬
wälzungen auftretenden Besonderheiten, die alle drei Revolutionen zu einer
verhältnismäßigen Unfruchtbarkeit verurteilt, einen durchaus unnötigen Gegen¬
satz jeder der drei Bewegungen zu aller Vergangenheit der Litteratur herbei¬
geführt, den eignen ursprünglichen und entwicklungsfähigen schaffenden Antrieb
gelähmt, die Bewegung ebenso auf falsche Ziele gelenkt, wie in falsches Licht
gerückt haben. Diese unter so grnudverschieduen Verhältnissen gleichmäßig
wiederkehrenden Erscheinungen sind darum noch keineswegs ein Gesetz, sondern
sie erweisen viel eher die Macht einer im stillen fortschleichenden und bei ge¬
wissen Gelegenheiten mit Macht hervorbrechenden schlechten Überlieferung und
die deutsche Neigung zu Kliqnenbildnng. Denn so stolz unser Volk die Ro¬
manen Herdenvölker schilt, und so recht Fürst Bismarck hatte, wenn er über
den deutschen Vereinzlnngszug spottete, nach dem jeder Deutsche womöglich seinen
besondern Kaiser und besondern Reichstag haben mochte; der altgermanische
Zug zu freier Gefolgschaft scheint in unsrer Litteratur- und Kunstgeschichte,
bis auf die sittliche Unfreiheit und die grundlose Todfeindschaft gegen die ganze
übrige Welt, deren sich ein Häuptlingsgefolge oft schuldig machte, doch noch
nachzuwirken. Nur daß im demokratischen neunzehnten Jahrhundert an die Stelle
des Häuptlings ein Dogma, ein Bekenntnis getreten ist, das die Mitglieder der
Gefolgschaft zusammenhält, und daß, wenn denn doch ein Haupt eingesetzt
werden soll, in der Regel jeder sich selbst dazu für berufen hält.

Als die erste Besonderheit, die erste charakteristische Seite der drei Revo¬
lutionen tritt uns die Thatsache entgegen, daß sowohl die romantische wie
die jungdeutsche und die jüngstdeutsche Schule ihre gewaltsame Erhebung gegen
die bestehenden Litteratnrznstände nicht nur auf eine einseitige, sondern auf
eine bewußt und unbewußt falsche Auffassung dieser Zustände gestützt hat.

Jede nähere Untersuchung des Verhältnisses der Romantiker zur deutschen
Litteratur beim Eingang des neunzehnten Jahrhunderts erweist, daß mehr als
Einseitigkeit im Spiele war, wenn die Dinge so aufgefaßt wurden, als wären
die jungen Dichter und kritischen Vorkämpfer der Romantik nicht nur berechtigt,
den noch immer fühlbaren Druck der platten Nüchternheit zu sprengen, sondern
auch berufen, die letzten trivialen Aufklärer aus der Litteratur hinausznfegen.
Der Kurzsichtigkeit, die in Jffland und Kotzebue, August Lafontaine und
Hermes, in Matthisson und Schmidt von Werneuchen die deutsche Litteratur
sah und Schiller für Kotzebue, Jean Paul für Lafontaine, I. P. Hebel für
I- I. Engel und Hölderlin für Matthisson büßen ließ, lag ein gut Teil


Daß in allen drei Umwälzungen, trotz allem Dunst, ein fester, entfaltungs-
fühiger Kern steckte, in allen drei das unabweisbare Lebens- und Schaffens-
bedürfuis der Jugend zu Wort und Gestalt kam, daß sich alle drei ein Ver¬
dienst um die Wegspülung von Moder und Schutt erwarben, soll durchaus
nicht geleugnet werden, und wir behalten uns den Vergleich ihrer positiven
Leistungen ausdrücklich und um so mehr vor, als auch dieser anziehend und
lehrreich genng ist. Doch vorerst handelt es sich um die in allen drei Um¬
wälzungen auftretenden Besonderheiten, die alle drei Revolutionen zu einer
verhältnismäßigen Unfruchtbarkeit verurteilt, einen durchaus unnötigen Gegen¬
satz jeder der drei Bewegungen zu aller Vergangenheit der Litteratur herbei¬
geführt, den eignen ursprünglichen und entwicklungsfähigen schaffenden Antrieb
gelähmt, die Bewegung ebenso auf falsche Ziele gelenkt, wie in falsches Licht
gerückt haben. Diese unter so grnudverschieduen Verhältnissen gleichmäßig
wiederkehrenden Erscheinungen sind darum noch keineswegs ein Gesetz, sondern
sie erweisen viel eher die Macht einer im stillen fortschleichenden und bei ge¬
wissen Gelegenheiten mit Macht hervorbrechenden schlechten Überlieferung und
die deutsche Neigung zu Kliqnenbildnng. Denn so stolz unser Volk die Ro¬
manen Herdenvölker schilt, und so recht Fürst Bismarck hatte, wenn er über
den deutschen Vereinzlnngszug spottete, nach dem jeder Deutsche womöglich seinen
besondern Kaiser und besondern Reichstag haben mochte; der altgermanische
Zug zu freier Gefolgschaft scheint in unsrer Litteratur- und Kunstgeschichte,
bis auf die sittliche Unfreiheit und die grundlose Todfeindschaft gegen die ganze
übrige Welt, deren sich ein Häuptlingsgefolge oft schuldig machte, doch noch
nachzuwirken. Nur daß im demokratischen neunzehnten Jahrhundert an die Stelle
des Häuptlings ein Dogma, ein Bekenntnis getreten ist, das die Mitglieder der
Gefolgschaft zusammenhält, und daß, wenn denn doch ein Haupt eingesetzt
werden soll, in der Regel jeder sich selbst dazu für berufen hält.

Als die erste Besonderheit, die erste charakteristische Seite der drei Revo¬
lutionen tritt uns die Thatsache entgegen, daß sowohl die romantische wie
die jungdeutsche und die jüngstdeutsche Schule ihre gewaltsame Erhebung gegen
die bestehenden Litteratnrznstände nicht nur auf eine einseitige, sondern auf
eine bewußt und unbewußt falsche Auffassung dieser Zustände gestützt hat.

Jede nähere Untersuchung des Verhältnisses der Romantiker zur deutschen
Litteratur beim Eingang des neunzehnten Jahrhunderts erweist, daß mehr als
Einseitigkeit im Spiele war, wenn die Dinge so aufgefaßt wurden, als wären
die jungen Dichter und kritischen Vorkämpfer der Romantik nicht nur berechtigt,
den noch immer fühlbaren Druck der platten Nüchternheit zu sprengen, sondern
auch berufen, die letzten trivialen Aufklärer aus der Litteratur hinausznfegen.
Der Kurzsichtigkeit, die in Jffland und Kotzebue, August Lafontaine und
Hermes, in Matthisson und Schmidt von Werneuchen die deutsche Litteratur
sah und Schiller für Kotzebue, Jean Paul für Lafontaine, I. P. Hebel für
I- I. Engel und Hölderlin für Matthisson büßen ließ, lag ein gut Teil


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[0037] Daß in allen drei Umwälzungen, trotz allem Dunst, ein fester, entfaltungs- fühiger Kern steckte, in allen drei das unabweisbare Lebens- und Schaffens- bedürfuis der Jugend zu Wort und Gestalt kam, daß sich alle drei ein Ver¬ dienst um die Wegspülung von Moder und Schutt erwarben, soll durchaus nicht geleugnet werden, und wir behalten uns den Vergleich ihrer positiven Leistungen ausdrücklich und um so mehr vor, als auch dieser anziehend und lehrreich genng ist. Doch vorerst handelt es sich um die in allen drei Um¬ wälzungen auftretenden Besonderheiten, die alle drei Revolutionen zu einer verhältnismäßigen Unfruchtbarkeit verurteilt, einen durchaus unnötigen Gegen¬ satz jeder der drei Bewegungen zu aller Vergangenheit der Litteratur herbei¬ geführt, den eignen ursprünglichen und entwicklungsfähigen schaffenden Antrieb gelähmt, die Bewegung ebenso auf falsche Ziele gelenkt, wie in falsches Licht gerückt haben. Diese unter so grnudverschieduen Verhältnissen gleichmäßig wiederkehrenden Erscheinungen sind darum noch keineswegs ein Gesetz, sondern sie erweisen viel eher die Macht einer im stillen fortschleichenden und bei ge¬ wissen Gelegenheiten mit Macht hervorbrechenden schlechten Überlieferung und die deutsche Neigung zu Kliqnenbildnng. Denn so stolz unser Volk die Ro¬ manen Herdenvölker schilt, und so recht Fürst Bismarck hatte, wenn er über den deutschen Vereinzlnngszug spottete, nach dem jeder Deutsche womöglich seinen besondern Kaiser und besondern Reichstag haben mochte; der altgermanische Zug zu freier Gefolgschaft scheint in unsrer Litteratur- und Kunstgeschichte, bis auf die sittliche Unfreiheit und die grundlose Todfeindschaft gegen die ganze übrige Welt, deren sich ein Häuptlingsgefolge oft schuldig machte, doch noch nachzuwirken. Nur daß im demokratischen neunzehnten Jahrhundert an die Stelle des Häuptlings ein Dogma, ein Bekenntnis getreten ist, das die Mitglieder der Gefolgschaft zusammenhält, und daß, wenn denn doch ein Haupt eingesetzt werden soll, in der Regel jeder sich selbst dazu für berufen hält. Als die erste Besonderheit, die erste charakteristische Seite der drei Revo¬ lutionen tritt uns die Thatsache entgegen, daß sowohl die romantische wie die jungdeutsche und die jüngstdeutsche Schule ihre gewaltsame Erhebung gegen die bestehenden Litteratnrznstände nicht nur auf eine einseitige, sondern auf eine bewußt und unbewußt falsche Auffassung dieser Zustände gestützt hat. Jede nähere Untersuchung des Verhältnisses der Romantiker zur deutschen Litteratur beim Eingang des neunzehnten Jahrhunderts erweist, daß mehr als Einseitigkeit im Spiele war, wenn die Dinge so aufgefaßt wurden, als wären die jungen Dichter und kritischen Vorkämpfer der Romantik nicht nur berechtigt, den noch immer fühlbaren Druck der platten Nüchternheit zu sprengen, sondern auch berufen, die letzten trivialen Aufklärer aus der Litteratur hinausznfegen. Der Kurzsichtigkeit, die in Jffland und Kotzebue, August Lafontaine und Hermes, in Matthisson und Schmidt von Werneuchen die deutsche Litteratur sah und Schiller für Kotzebue, Jean Paul für Lafontaine, I. P. Hebel für I- I. Engel und Hölderlin für Matthisson büßen ließ, lag ein gut Teil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/37>, abgerufen am 28.09.2024.