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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Der Römerstaat

Kundschafter im römischen Lager herumtrieben (26,12), die Hände abgehackt.
In derselben Kriegsnot haben die Römer auch noch einmal zu dem unrömischen,
ebenfalls orientalischen Sühnmittel des Menschenopfers gegriffen, indem sie
einen Griechen und eine Griechin, einen Gallier und eine Gallierin lebendig
begruben. Hier waltete nun allerdings ein allgemeiner verderblicher Wahn
des Heidentums, dem sie aber wenigstens nicht, gleich den Orientalen, in einem
das Gemüt und die Sitten verwitternden Grade nachgegeben haben, ein Wahn
übrigens, den gerade die christliche Dogmatik gewissermaßen geheiligt hat, in¬
dem sie auf das Erlösungsopfer als seinen Wahrheitskern hinweist. Eine edlere
Form dieses Wahns war es, wenn sich Männer wie die Decius, Vater und
Sohn, und Curtius selbst dem Tode weihten; wer weiß auch noch, ob man
hier von Wahn zu sprechen berechtigt ist. Wie sehr die Römer ursprünglich
dem Blutvergießen abgeneigt gewesen sind, beweist die Sage -- wenn es eine
ist -- von den Horatiern und Curiatiern. Daß sie, zu unaufhörlichen Kriegen
gezwungen, allmählich verrohten, daß sie in einer Zeit, wo sie gar keine
Römer mehr waren, sondern nur noch unter dem überwiegenden Einfluß von
Barbaren und Halbbarbaren stehende Mischlinge, die Kriege, von denen sie in
Italien nichts mehr zu sehen bekamen, dnrch Gladiatorenkämpfe ersetzten, daran
war ihre alte Religion nicht schuld.

Wenn ihnen diese Religion nicht allein Wortbruch, Ungerechtigkeit und
Frevel, sondern auch politische oder vielmehr unpolitische Dummheiten verbot,
so gehört das zwar nicht mehr zur Moral im engern Sinne, wohl aber zur
göttlichen Weltordnung, die eben eine ethische ist. Als die Römer nach der
Zerstörung ihrer Stadt durch die Gallier nach Veji übersiedeln wollten, hielt
sie Camillus davon ab, namentlich durch den Hinweis darauf, daß das ein
Frevel gegen die Götter sein würde. "Erwäget doch die Unglücks- und Glücks-
fälle der letzten Jahre, ihr werdet dann finden, daß es uns wohl ergangen
ist, so oft wir den Göttern gehorchten, und übel, so oft wir sie mißachteten.
Den langwierigen Krieg gegen Veji vermochten wir nicht eher zu beendigen,
als bis wir auf göttliches Geheiß das Wasser des Albanersees abgelassen
hatten. Und woher kam unsre letzte Niederlage? Nicht daher, daß wir die
Stimme vom Himmel unbeachtet ließen, die das Nahen der Gallier ver¬
kündete? Nicht daher, daß unsre Gesandten das Völkerrecht verletzt haben?
Nicht daher, daß wir es gottloserweise unterließen, diese Verletzung zu strafen?
Darum sind wir durch Niederlage und Knechtschaft dermaßen gestraft worden,
daß wir vor dem Erdkreise als warnendes Beispiel dastehn. Dieses Unglück
hat uns an die Religion gemahnt. Aufs Kapitol sind wir geflüchtet, zu unsern
Göttern, zum Sitze Jupiters, des großen und guten; im Zusammenbruch all
unsers Glücks haben wir zuerst an unsre Heiligtümer gedacht, die einen in der
Erde, die andern bei den Nachbarn vorm Feinde geborgen. Von Göttern und
Menschen verlassen, haben wir den Gottesdienst keinen Tag ausgesetzt. So


Der Römerstaat

Kundschafter im römischen Lager herumtrieben (26,12), die Hände abgehackt.
In derselben Kriegsnot haben die Römer auch noch einmal zu dem unrömischen,
ebenfalls orientalischen Sühnmittel des Menschenopfers gegriffen, indem sie
einen Griechen und eine Griechin, einen Gallier und eine Gallierin lebendig
begruben. Hier waltete nun allerdings ein allgemeiner verderblicher Wahn
des Heidentums, dem sie aber wenigstens nicht, gleich den Orientalen, in einem
das Gemüt und die Sitten verwitternden Grade nachgegeben haben, ein Wahn
übrigens, den gerade die christliche Dogmatik gewissermaßen geheiligt hat, in¬
dem sie auf das Erlösungsopfer als seinen Wahrheitskern hinweist. Eine edlere
Form dieses Wahns war es, wenn sich Männer wie die Decius, Vater und
Sohn, und Curtius selbst dem Tode weihten; wer weiß auch noch, ob man
hier von Wahn zu sprechen berechtigt ist. Wie sehr die Römer ursprünglich
dem Blutvergießen abgeneigt gewesen sind, beweist die Sage — wenn es eine
ist — von den Horatiern und Curiatiern. Daß sie, zu unaufhörlichen Kriegen
gezwungen, allmählich verrohten, daß sie in einer Zeit, wo sie gar keine
Römer mehr waren, sondern nur noch unter dem überwiegenden Einfluß von
Barbaren und Halbbarbaren stehende Mischlinge, die Kriege, von denen sie in
Italien nichts mehr zu sehen bekamen, dnrch Gladiatorenkämpfe ersetzten, daran
war ihre alte Religion nicht schuld.

Wenn ihnen diese Religion nicht allein Wortbruch, Ungerechtigkeit und
Frevel, sondern auch politische oder vielmehr unpolitische Dummheiten verbot,
so gehört das zwar nicht mehr zur Moral im engern Sinne, wohl aber zur
göttlichen Weltordnung, die eben eine ethische ist. Als die Römer nach der
Zerstörung ihrer Stadt durch die Gallier nach Veji übersiedeln wollten, hielt
sie Camillus davon ab, namentlich durch den Hinweis darauf, daß das ein
Frevel gegen die Götter sein würde. „Erwäget doch die Unglücks- und Glücks-
fälle der letzten Jahre, ihr werdet dann finden, daß es uns wohl ergangen
ist, so oft wir den Göttern gehorchten, und übel, so oft wir sie mißachteten.
Den langwierigen Krieg gegen Veji vermochten wir nicht eher zu beendigen,
als bis wir auf göttliches Geheiß das Wasser des Albanersees abgelassen
hatten. Und woher kam unsre letzte Niederlage? Nicht daher, daß wir die
Stimme vom Himmel unbeachtet ließen, die das Nahen der Gallier ver¬
kündete? Nicht daher, daß unsre Gesandten das Völkerrecht verletzt haben?
Nicht daher, daß wir es gottloserweise unterließen, diese Verletzung zu strafen?
Darum sind wir durch Niederlage und Knechtschaft dermaßen gestraft worden,
daß wir vor dem Erdkreise als warnendes Beispiel dastehn. Dieses Unglück
hat uns an die Religion gemahnt. Aufs Kapitol sind wir geflüchtet, zu unsern
Göttern, zum Sitze Jupiters, des großen und guten; im Zusammenbruch all
unsers Glücks haben wir zuerst an unsre Heiligtümer gedacht, die einen in der
Erde, die andern bei den Nachbarn vorm Feinde geborgen. Von Göttern und
Menschen verlassen, haben wir den Gottesdienst keinen Tag ausgesetzt. So


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[0362] Der Römerstaat Kundschafter im römischen Lager herumtrieben (26,12), die Hände abgehackt. In derselben Kriegsnot haben die Römer auch noch einmal zu dem unrömischen, ebenfalls orientalischen Sühnmittel des Menschenopfers gegriffen, indem sie einen Griechen und eine Griechin, einen Gallier und eine Gallierin lebendig begruben. Hier waltete nun allerdings ein allgemeiner verderblicher Wahn des Heidentums, dem sie aber wenigstens nicht, gleich den Orientalen, in einem das Gemüt und die Sitten verwitternden Grade nachgegeben haben, ein Wahn übrigens, den gerade die christliche Dogmatik gewissermaßen geheiligt hat, in¬ dem sie auf das Erlösungsopfer als seinen Wahrheitskern hinweist. Eine edlere Form dieses Wahns war es, wenn sich Männer wie die Decius, Vater und Sohn, und Curtius selbst dem Tode weihten; wer weiß auch noch, ob man hier von Wahn zu sprechen berechtigt ist. Wie sehr die Römer ursprünglich dem Blutvergießen abgeneigt gewesen sind, beweist die Sage — wenn es eine ist — von den Horatiern und Curiatiern. Daß sie, zu unaufhörlichen Kriegen gezwungen, allmählich verrohten, daß sie in einer Zeit, wo sie gar keine Römer mehr waren, sondern nur noch unter dem überwiegenden Einfluß von Barbaren und Halbbarbaren stehende Mischlinge, die Kriege, von denen sie in Italien nichts mehr zu sehen bekamen, dnrch Gladiatorenkämpfe ersetzten, daran war ihre alte Religion nicht schuld. Wenn ihnen diese Religion nicht allein Wortbruch, Ungerechtigkeit und Frevel, sondern auch politische oder vielmehr unpolitische Dummheiten verbot, so gehört das zwar nicht mehr zur Moral im engern Sinne, wohl aber zur göttlichen Weltordnung, die eben eine ethische ist. Als die Römer nach der Zerstörung ihrer Stadt durch die Gallier nach Veji übersiedeln wollten, hielt sie Camillus davon ab, namentlich durch den Hinweis darauf, daß das ein Frevel gegen die Götter sein würde. „Erwäget doch die Unglücks- und Glücks- fälle der letzten Jahre, ihr werdet dann finden, daß es uns wohl ergangen ist, so oft wir den Göttern gehorchten, und übel, so oft wir sie mißachteten. Den langwierigen Krieg gegen Veji vermochten wir nicht eher zu beendigen, als bis wir auf göttliches Geheiß das Wasser des Albanersees abgelassen hatten. Und woher kam unsre letzte Niederlage? Nicht daher, daß wir die Stimme vom Himmel unbeachtet ließen, die das Nahen der Gallier ver¬ kündete? Nicht daher, daß unsre Gesandten das Völkerrecht verletzt haben? Nicht daher, daß wir es gottloserweise unterließen, diese Verletzung zu strafen? Darum sind wir durch Niederlage und Knechtschaft dermaßen gestraft worden, daß wir vor dem Erdkreise als warnendes Beispiel dastehn. Dieses Unglück hat uns an die Religion gemahnt. Aufs Kapitol sind wir geflüchtet, zu unsern Göttern, zum Sitze Jupiters, des großen und guten; im Zusammenbruch all unsers Glücks haben wir zuerst an unsre Heiligtümer gedacht, die einen in der Erde, die andern bei den Nachbarn vorm Feinde geborgen. Von Göttern und Menschen verlassen, haben wir den Gottesdienst keinen Tag ausgesetzt. So

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/362>, abgerufen am 28.09.2024.