Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

bildeten, die am besten Bescheid wissen müßten, in welchem Mißverhältnis die
Positiven Kräfte und Leistungen zu dem Programm litterarischer und künstlerischer
Revolutionen stehen können, blindlings für den äußersten Manierismus und den
unberechtigtsten, aber trotzigsten Anspruch des jüngsten Größenwahns erklärt.
Am seltsamsten nehmen sich dabei die Wohlmeinenden aus, die uns andeuten,
es stehe ja nicht so schlimm mit der Revolution, und die bisherigen "Stürmer
und Drünger" (dieser aus hundert Gründen unzulässigste aller Vergleiche kehrt
hartnäckig wieder) seien schon halbe Klassiker geworden. In Wahrheit verhält
sichs damit wie mit den Jakobinern, die der erste Bonaparte in seine Mini¬
sterien und seinen Staatsrat berief. Sie nannten sich Herzöge und Grafen,
kleideten und betrugen sich 5, I'Linxir" und dekorierten sich mit allen Orden
des alten Europas, blieben aber vom Blutgeruch der Schreckenszeit umwittert
und befanden sich am wohlsten, wenn sie alte Dynastien verjagen und Ab¬
kömmlinge großer Häuser zur Füsilierung auf den Sandhaufen schicken konnten.
Wer genau zusieht, entdeckt bald, daß bis heute nicht eine Feindseligkeit gegen
die Litteraturentwicklung der beiden ersten Drittel des Jahrhunderts aufgegeben,
keine Forderung und Anmaßung zurückgenommen, kaum ein ernster Versuch
gemacht worden ist, die gefunden entwicklungsfähigen Elemente der Moderne
von krankhaften Gärungen zu scheiden.

Einen Hauptanteil an der eingetretnen Urteilslosigkeit und Unsicherheit
haben wie immer die Schlagworte verschuldet, bei denen sich der Fortschritts¬
philister je nach Umständen alles oder nichts denkt. Dahin gehört vor allem
der Satz: Revolutionen, Umwälzungen, gleichviel ob historischer, religiöser,
sozialer, litterarischer oder künstlerischer Art, seien Naturereignisse, deren Ur¬
sachen untersucht und ergründet, deren Wirkungen beschrieben, aber weder ge¬
richtet, noch unter der Voraussetzung angeschaut und dargestellt werden dürften,
daß irgend etwas in ihnen widergesetzlich verlaufen wäre. Ganz abgesehen
von der Unmöglichkeit, die Mitwirkung der Einzelnen in historischen Be¬
wegungen zu leugnen und sie der Verantwortlichkeit zu entlasten, so zeigt
sich, auch wenn man das Bild von den elementaren Naturereignissen gelten
läßt, welcher Abstand zwischen dem objektiven Schildrer gewaltiger Natur¬
katastrophen und dem willkürlichen und unkritischen Lobredner litterarischer
Umwälzungen liegt. Wer das Erdbeben von Lissabon darstellt, darf freilich
die einstürzenden Kirchen und Häuser, die erschlagnen Menschen auf niemandes
Rechnung setzen, aber es wird ihm auch nicht einfallen, die Diebe, die unter
den Trümmern raubten, und die Galgenvögel, die um der Juwelen willen
Finger und Ohren der Toten und Ohnmächtigen abschnitten, zu den unlös¬
lichen Bestandteilen und notwendigen Folgen des Elementarereignisses zu
rechnen. Und wer einen Seesturm schildert, mag allenfalls das Scheitern
eines Schiffs und den Untergang der Mannschaft achselzuckend betrachten, aber
sich wohl hüten, die Strandränber, die die geretteten Mannschaften am Lande
erschlagen, den unverantwortlichen Wogen gleichzustellen. Nun vergleiche man


bildeten, die am besten Bescheid wissen müßten, in welchem Mißverhältnis die
Positiven Kräfte und Leistungen zu dem Programm litterarischer und künstlerischer
Revolutionen stehen können, blindlings für den äußersten Manierismus und den
unberechtigtsten, aber trotzigsten Anspruch des jüngsten Größenwahns erklärt.
Am seltsamsten nehmen sich dabei die Wohlmeinenden aus, die uns andeuten,
es stehe ja nicht so schlimm mit der Revolution, und die bisherigen „Stürmer
und Drünger" (dieser aus hundert Gründen unzulässigste aller Vergleiche kehrt
hartnäckig wieder) seien schon halbe Klassiker geworden. In Wahrheit verhält
sichs damit wie mit den Jakobinern, die der erste Bonaparte in seine Mini¬
sterien und seinen Staatsrat berief. Sie nannten sich Herzöge und Grafen,
kleideten und betrugen sich 5, I'Linxir» und dekorierten sich mit allen Orden
des alten Europas, blieben aber vom Blutgeruch der Schreckenszeit umwittert
und befanden sich am wohlsten, wenn sie alte Dynastien verjagen und Ab¬
kömmlinge großer Häuser zur Füsilierung auf den Sandhaufen schicken konnten.
Wer genau zusieht, entdeckt bald, daß bis heute nicht eine Feindseligkeit gegen
die Litteraturentwicklung der beiden ersten Drittel des Jahrhunderts aufgegeben,
keine Forderung und Anmaßung zurückgenommen, kaum ein ernster Versuch
gemacht worden ist, die gefunden entwicklungsfähigen Elemente der Moderne
von krankhaften Gärungen zu scheiden.

Einen Hauptanteil an der eingetretnen Urteilslosigkeit und Unsicherheit
haben wie immer die Schlagworte verschuldet, bei denen sich der Fortschritts¬
philister je nach Umständen alles oder nichts denkt. Dahin gehört vor allem
der Satz: Revolutionen, Umwälzungen, gleichviel ob historischer, religiöser,
sozialer, litterarischer oder künstlerischer Art, seien Naturereignisse, deren Ur¬
sachen untersucht und ergründet, deren Wirkungen beschrieben, aber weder ge¬
richtet, noch unter der Voraussetzung angeschaut und dargestellt werden dürften,
daß irgend etwas in ihnen widergesetzlich verlaufen wäre. Ganz abgesehen
von der Unmöglichkeit, die Mitwirkung der Einzelnen in historischen Be¬
wegungen zu leugnen und sie der Verantwortlichkeit zu entlasten, so zeigt
sich, auch wenn man das Bild von den elementaren Naturereignissen gelten
läßt, welcher Abstand zwischen dem objektiven Schildrer gewaltiger Natur¬
katastrophen und dem willkürlichen und unkritischen Lobredner litterarischer
Umwälzungen liegt. Wer das Erdbeben von Lissabon darstellt, darf freilich
die einstürzenden Kirchen und Häuser, die erschlagnen Menschen auf niemandes
Rechnung setzen, aber es wird ihm auch nicht einfallen, die Diebe, die unter
den Trümmern raubten, und die Galgenvögel, die um der Juwelen willen
Finger und Ohren der Toten und Ohnmächtigen abschnitten, zu den unlös¬
lichen Bestandteilen und notwendigen Folgen des Elementarereignisses zu
rechnen. Und wer einen Seesturm schildert, mag allenfalls das Scheitern
eines Schiffs und den Untergang der Mannschaft achselzuckend betrachten, aber
sich wohl hüten, die Strandränber, die die geretteten Mannschaften am Lande
erschlagen, den unverantwortlichen Wogen gleichzustellen. Nun vergleiche man


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0035" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230467"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_74" prev="#ID_73"> bildeten, die am besten Bescheid wissen müßten, in welchem Mißverhältnis die<lb/>
Positiven Kräfte und Leistungen zu dem Programm litterarischer und künstlerischer<lb/>
Revolutionen stehen können, blindlings für den äußersten Manierismus und den<lb/>
unberechtigtsten, aber trotzigsten Anspruch des jüngsten Größenwahns erklärt.<lb/>
Am seltsamsten nehmen sich dabei die Wohlmeinenden aus, die uns andeuten,<lb/>
es stehe ja nicht so schlimm mit der Revolution, und die bisherigen &#x201E;Stürmer<lb/>
und Drünger" (dieser aus hundert Gründen unzulässigste aller Vergleiche kehrt<lb/>
hartnäckig wieder) seien schon halbe Klassiker geworden. In Wahrheit verhält<lb/>
sichs damit wie mit den Jakobinern, die der erste Bonaparte in seine Mini¬<lb/>
sterien und seinen Staatsrat berief. Sie nannten sich Herzöge und Grafen,<lb/>
kleideten und betrugen sich 5, I'Linxir» und dekorierten sich mit allen Orden<lb/>
des alten Europas, blieben aber vom Blutgeruch der Schreckenszeit umwittert<lb/>
und befanden sich am wohlsten, wenn sie alte Dynastien verjagen und Ab¬<lb/>
kömmlinge großer Häuser zur Füsilierung auf den Sandhaufen schicken konnten.<lb/>
Wer genau zusieht, entdeckt bald, daß bis heute nicht eine Feindseligkeit gegen<lb/>
die Litteraturentwicklung der beiden ersten Drittel des Jahrhunderts aufgegeben,<lb/>
keine Forderung und Anmaßung zurückgenommen, kaum ein ernster Versuch<lb/>
gemacht worden ist, die gefunden entwicklungsfähigen Elemente der Moderne<lb/>
von krankhaften Gärungen zu scheiden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_75" next="#ID_76"> Einen Hauptanteil an der eingetretnen Urteilslosigkeit und Unsicherheit<lb/>
haben wie immer die Schlagworte verschuldet, bei denen sich der Fortschritts¬<lb/>
philister je nach Umständen alles oder nichts denkt. Dahin gehört vor allem<lb/>
der Satz: Revolutionen, Umwälzungen, gleichviel ob historischer, religiöser,<lb/>
sozialer, litterarischer oder künstlerischer Art, seien Naturereignisse, deren Ur¬<lb/>
sachen untersucht und ergründet, deren Wirkungen beschrieben, aber weder ge¬<lb/>
richtet, noch unter der Voraussetzung angeschaut und dargestellt werden dürften,<lb/>
daß irgend etwas in ihnen widergesetzlich verlaufen wäre. Ganz abgesehen<lb/>
von der Unmöglichkeit, die Mitwirkung der Einzelnen in historischen Be¬<lb/>
wegungen zu leugnen und sie der Verantwortlichkeit zu entlasten, so zeigt<lb/>
sich, auch wenn man das Bild von den elementaren Naturereignissen gelten<lb/>
läßt, welcher Abstand zwischen dem objektiven Schildrer gewaltiger Natur¬<lb/>
katastrophen und dem willkürlichen und unkritischen Lobredner litterarischer<lb/>
Umwälzungen liegt. Wer das Erdbeben von Lissabon darstellt, darf freilich<lb/>
die einstürzenden Kirchen und Häuser, die erschlagnen Menschen auf niemandes<lb/>
Rechnung setzen, aber es wird ihm auch nicht einfallen, die Diebe, die unter<lb/>
den Trümmern raubten, und die Galgenvögel, die um der Juwelen willen<lb/>
Finger und Ohren der Toten und Ohnmächtigen abschnitten, zu den unlös¬<lb/>
lichen Bestandteilen und notwendigen Folgen des Elementarereignisses zu<lb/>
rechnen. Und wer einen Seesturm schildert, mag allenfalls das Scheitern<lb/>
eines Schiffs und den Untergang der Mannschaft achselzuckend betrachten, aber<lb/>
sich wohl hüten, die Strandränber, die die geretteten Mannschaften am Lande<lb/>
erschlagen, den unverantwortlichen Wogen gleichzustellen. Nun vergleiche man</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0035] bildeten, die am besten Bescheid wissen müßten, in welchem Mißverhältnis die Positiven Kräfte und Leistungen zu dem Programm litterarischer und künstlerischer Revolutionen stehen können, blindlings für den äußersten Manierismus und den unberechtigtsten, aber trotzigsten Anspruch des jüngsten Größenwahns erklärt. Am seltsamsten nehmen sich dabei die Wohlmeinenden aus, die uns andeuten, es stehe ja nicht so schlimm mit der Revolution, und die bisherigen „Stürmer und Drünger" (dieser aus hundert Gründen unzulässigste aller Vergleiche kehrt hartnäckig wieder) seien schon halbe Klassiker geworden. In Wahrheit verhält sichs damit wie mit den Jakobinern, die der erste Bonaparte in seine Mini¬ sterien und seinen Staatsrat berief. Sie nannten sich Herzöge und Grafen, kleideten und betrugen sich 5, I'Linxir» und dekorierten sich mit allen Orden des alten Europas, blieben aber vom Blutgeruch der Schreckenszeit umwittert und befanden sich am wohlsten, wenn sie alte Dynastien verjagen und Ab¬ kömmlinge großer Häuser zur Füsilierung auf den Sandhaufen schicken konnten. Wer genau zusieht, entdeckt bald, daß bis heute nicht eine Feindseligkeit gegen die Litteraturentwicklung der beiden ersten Drittel des Jahrhunderts aufgegeben, keine Forderung und Anmaßung zurückgenommen, kaum ein ernster Versuch gemacht worden ist, die gefunden entwicklungsfähigen Elemente der Moderne von krankhaften Gärungen zu scheiden. Einen Hauptanteil an der eingetretnen Urteilslosigkeit und Unsicherheit haben wie immer die Schlagworte verschuldet, bei denen sich der Fortschritts¬ philister je nach Umständen alles oder nichts denkt. Dahin gehört vor allem der Satz: Revolutionen, Umwälzungen, gleichviel ob historischer, religiöser, sozialer, litterarischer oder künstlerischer Art, seien Naturereignisse, deren Ur¬ sachen untersucht und ergründet, deren Wirkungen beschrieben, aber weder ge¬ richtet, noch unter der Voraussetzung angeschaut und dargestellt werden dürften, daß irgend etwas in ihnen widergesetzlich verlaufen wäre. Ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, die Mitwirkung der Einzelnen in historischen Be¬ wegungen zu leugnen und sie der Verantwortlichkeit zu entlasten, so zeigt sich, auch wenn man das Bild von den elementaren Naturereignissen gelten läßt, welcher Abstand zwischen dem objektiven Schildrer gewaltiger Natur¬ katastrophen und dem willkürlichen und unkritischen Lobredner litterarischer Umwälzungen liegt. Wer das Erdbeben von Lissabon darstellt, darf freilich die einstürzenden Kirchen und Häuser, die erschlagnen Menschen auf niemandes Rechnung setzen, aber es wird ihm auch nicht einfallen, die Diebe, die unter den Trümmern raubten, und die Galgenvögel, die um der Juwelen willen Finger und Ohren der Toten und Ohnmächtigen abschnitten, zu den unlös¬ lichen Bestandteilen und notwendigen Folgen des Elementarereignisses zu rechnen. Und wer einen Seesturm schildert, mag allenfalls das Scheitern eines Schiffs und den Untergang der Mannschaft achselzuckend betrachten, aber sich wohl hüten, die Strandränber, die die geretteten Mannschaften am Lande erschlagen, den unverantwortlichen Wogen gleichzustellen. Nun vergleiche man

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/35
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/35>, abgerufen am 28.09.2024.