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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Der Ausgleich und die Bündnisfähigkeit der österreichisch-ungarischen Monarchie

Popularität emporgeftiegne Handelsminister Gabriel Varoß in der Verkehrs¬
entwicklung und in der Jndustrieförderung zu unumschränkter Geltung brachte,
steigerte auch in der lammfrommen liberalen Partei das Bewußtsein der selb¬
ständigen wirtschaftlichen Individualität. Die geniale Finanzpolitik or. Wekerles
hatte ein zwanzigjähriges chronisches Defizit im Staatshaushalte beseitigt und
mit Hilfe der durch die europäische finanzielle Konjunktur begünstigten An-
lehnskonversionen und mit großangelegten Steuerreformen noch kurz vorher für
undenkbar gehaltne große Gebarungsüberschüsfe gewonnen und dadurch den
europäischen Kredit Ungarns zu ungeahnter Höhe gehoben, sodaß sich dieser
Kredit dem vom konsolidierten österreichischen Staatswesen genossenen gleich¬
wertig an die Seite stellte. Dadurch wurde bald das ohnehin sehr kräftig
entwickelte magyarische Selbstbewußtsein auch in finanzieller Beziehung maßlos
gesteigert. Der politische Regulator in den Beziehungen Ungarns zu Öster¬
reich, den das Land in der Klugheit und Akkonunodationsfähigkeit Koloman
Tiszas gehabt hatte, ging bald nach dem dritten Ausgleich verloren, als der
intensive Haß, der sich während seiner fünfzehnjährigen Herrschaft gegen sein
verderbliches Regierungssystem angesammelt hatte, in der Wehrgesetzdebatte mit
elementarer Gewalt hervorbrach und ihn zum Verzichte auf seine beispiellose
Machtstellung zwang. Da während des Regimes von Szapäry-Wekerle der
ruhelose Feuergeist Baroß durch einen plötzlichen Tod von der politischen
Bühne abgerufen worden war, so traten eine Zeit lang die wirtschaftlichen und
finanziellen Verhältnisse vor den großen Fragen der Verstaatlichung der ver¬
alteten Komitatsverwaltung und der kirchenpolitischen Reform zurück.

Dem anfangs von der gesamten öffentlichen Meinung mit Mißachtung
und Zweifeln aufgenommnen Kabinett Bänfsy war es vorbehalten, durch den
siegreichen Abschluß der kirchenpolitischen Kämpfe und durch den glänzenden
Verlauf der Millenniumsfeierlichkeiten in seinen magyarischen Landsleuten das
Bewußtsein ihrer staatlichen Individualität noch zu steigern und in ihnen ein
beinahe verletzendes wirtschaftliches und finanzielles Kraftgefühl zu entwickeln.
Unter solchen Umständen trat die ungarische Regierung in die Verhandlungen
über die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses und des Privilegiums
der Österreichisch-Ungarischen Bank und über die neue Regelung der nach
gleichen Grundsätzen zu behandelnden indirekten Steuern ein, während in Öster¬
reich das Koalitionsministerium Windischgrätz vom Jnterimskabinett Kielmcnms-
egg abgelöst und im denkwürdigen Badenischen "Regiment mit der starken
Hand" den Völkern eine Pandorabüchse innern Zwistes beschert wurde.

Es war vorauszusehen, daß die von keiner Spur von Objektivität an¬
gekränkelte magyarische Begehrlichkeit neue Vorteile aus einer Erneuerung des
wirtschaftlichen Ausgleichs herauszuschlagen bemüht sein werde. Die Strö¬
mung, die selbst bei den Anhängern des Deäkschen Dualismus eine schärfere
Betonung der staatlichen Selbständigkeit fordert, ist erst kürzlich, fast wider


Der Ausgleich und die Bündnisfähigkeit der österreichisch-ungarischen Monarchie

Popularität emporgeftiegne Handelsminister Gabriel Varoß in der Verkehrs¬
entwicklung und in der Jndustrieförderung zu unumschränkter Geltung brachte,
steigerte auch in der lammfrommen liberalen Partei das Bewußtsein der selb¬
ständigen wirtschaftlichen Individualität. Die geniale Finanzpolitik or. Wekerles
hatte ein zwanzigjähriges chronisches Defizit im Staatshaushalte beseitigt und
mit Hilfe der durch die europäische finanzielle Konjunktur begünstigten An-
lehnskonversionen und mit großangelegten Steuerreformen noch kurz vorher für
undenkbar gehaltne große Gebarungsüberschüsfe gewonnen und dadurch den
europäischen Kredit Ungarns zu ungeahnter Höhe gehoben, sodaß sich dieser
Kredit dem vom konsolidierten österreichischen Staatswesen genossenen gleich¬
wertig an die Seite stellte. Dadurch wurde bald das ohnehin sehr kräftig
entwickelte magyarische Selbstbewußtsein auch in finanzieller Beziehung maßlos
gesteigert. Der politische Regulator in den Beziehungen Ungarns zu Öster¬
reich, den das Land in der Klugheit und Akkonunodationsfähigkeit Koloman
Tiszas gehabt hatte, ging bald nach dem dritten Ausgleich verloren, als der
intensive Haß, der sich während seiner fünfzehnjährigen Herrschaft gegen sein
verderbliches Regierungssystem angesammelt hatte, in der Wehrgesetzdebatte mit
elementarer Gewalt hervorbrach und ihn zum Verzichte auf seine beispiellose
Machtstellung zwang. Da während des Regimes von Szapäry-Wekerle der
ruhelose Feuergeist Baroß durch einen plötzlichen Tod von der politischen
Bühne abgerufen worden war, so traten eine Zeit lang die wirtschaftlichen und
finanziellen Verhältnisse vor den großen Fragen der Verstaatlichung der ver¬
alteten Komitatsverwaltung und der kirchenpolitischen Reform zurück.

Dem anfangs von der gesamten öffentlichen Meinung mit Mißachtung
und Zweifeln aufgenommnen Kabinett Bänfsy war es vorbehalten, durch den
siegreichen Abschluß der kirchenpolitischen Kämpfe und durch den glänzenden
Verlauf der Millenniumsfeierlichkeiten in seinen magyarischen Landsleuten das
Bewußtsein ihrer staatlichen Individualität noch zu steigern und in ihnen ein
beinahe verletzendes wirtschaftliches und finanzielles Kraftgefühl zu entwickeln.
Unter solchen Umständen trat die ungarische Regierung in die Verhandlungen
über die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses und des Privilegiums
der Österreichisch-Ungarischen Bank und über die neue Regelung der nach
gleichen Grundsätzen zu behandelnden indirekten Steuern ein, während in Öster¬
reich das Koalitionsministerium Windischgrätz vom Jnterimskabinett Kielmcnms-
egg abgelöst und im denkwürdigen Badenischen „Regiment mit der starken
Hand" den Völkern eine Pandorabüchse innern Zwistes beschert wurde.

Es war vorauszusehen, daß die von keiner Spur von Objektivität an¬
gekränkelte magyarische Begehrlichkeit neue Vorteile aus einer Erneuerung des
wirtschaftlichen Ausgleichs herauszuschlagen bemüht sein werde. Die Strö¬
mung, die selbst bei den Anhängern des Deäkschen Dualismus eine schärfere
Betonung der staatlichen Selbständigkeit fordert, ist erst kürzlich, fast wider


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[0348] Der Ausgleich und die Bündnisfähigkeit der österreichisch-ungarischen Monarchie Popularität emporgeftiegne Handelsminister Gabriel Varoß in der Verkehrs¬ entwicklung und in der Jndustrieförderung zu unumschränkter Geltung brachte, steigerte auch in der lammfrommen liberalen Partei das Bewußtsein der selb¬ ständigen wirtschaftlichen Individualität. Die geniale Finanzpolitik or. Wekerles hatte ein zwanzigjähriges chronisches Defizit im Staatshaushalte beseitigt und mit Hilfe der durch die europäische finanzielle Konjunktur begünstigten An- lehnskonversionen und mit großangelegten Steuerreformen noch kurz vorher für undenkbar gehaltne große Gebarungsüberschüsfe gewonnen und dadurch den europäischen Kredit Ungarns zu ungeahnter Höhe gehoben, sodaß sich dieser Kredit dem vom konsolidierten österreichischen Staatswesen genossenen gleich¬ wertig an die Seite stellte. Dadurch wurde bald das ohnehin sehr kräftig entwickelte magyarische Selbstbewußtsein auch in finanzieller Beziehung maßlos gesteigert. Der politische Regulator in den Beziehungen Ungarns zu Öster¬ reich, den das Land in der Klugheit und Akkonunodationsfähigkeit Koloman Tiszas gehabt hatte, ging bald nach dem dritten Ausgleich verloren, als der intensive Haß, der sich während seiner fünfzehnjährigen Herrschaft gegen sein verderbliches Regierungssystem angesammelt hatte, in der Wehrgesetzdebatte mit elementarer Gewalt hervorbrach und ihn zum Verzichte auf seine beispiellose Machtstellung zwang. Da während des Regimes von Szapäry-Wekerle der ruhelose Feuergeist Baroß durch einen plötzlichen Tod von der politischen Bühne abgerufen worden war, so traten eine Zeit lang die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse vor den großen Fragen der Verstaatlichung der ver¬ alteten Komitatsverwaltung und der kirchenpolitischen Reform zurück. Dem anfangs von der gesamten öffentlichen Meinung mit Mißachtung und Zweifeln aufgenommnen Kabinett Bänfsy war es vorbehalten, durch den siegreichen Abschluß der kirchenpolitischen Kämpfe und durch den glänzenden Verlauf der Millenniumsfeierlichkeiten in seinen magyarischen Landsleuten das Bewußtsein ihrer staatlichen Individualität noch zu steigern und in ihnen ein beinahe verletzendes wirtschaftliches und finanzielles Kraftgefühl zu entwickeln. Unter solchen Umständen trat die ungarische Regierung in die Verhandlungen über die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses und des Privilegiums der Österreichisch-Ungarischen Bank und über die neue Regelung der nach gleichen Grundsätzen zu behandelnden indirekten Steuern ein, während in Öster¬ reich das Koalitionsministerium Windischgrätz vom Jnterimskabinett Kielmcnms- egg abgelöst und im denkwürdigen Badenischen „Regiment mit der starken Hand" den Völkern eine Pandorabüchse innern Zwistes beschert wurde. Es war vorauszusehen, daß die von keiner Spur von Objektivität an¬ gekränkelte magyarische Begehrlichkeit neue Vorteile aus einer Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs herauszuschlagen bemüht sein werde. Die Strö¬ mung, die selbst bei den Anhängern des Deäkschen Dualismus eine schärfere Betonung der staatlichen Selbständigkeit fordert, ist erst kürzlich, fast wider

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/348>, abgerufen am 28.09.2024.