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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Litterarisches Leben am Rhein

Bei der Beerdigung Kinkels (am 16. November 1882) zu Zürich entwarf
Johannes Scherr ein ergreifendes Bild von dem Lebensgange des Dichters.
Die Zeit der Jugend und der ersten Mannesjahre zog an den Hörern vorbei,
fast wie ein Idyll von den rebenumkränzten Ufern des Rheins. "Da kam
das Jahr 1848, sagte Scherr; nur wer jene Zeit erlebt hat, kann es begreifen,
wie jedes patriotisch fühlende Herz, jedes offne Gemüt, jeder frei denkende
Sinn in die Wogen hineingerissen und von denselben davon getragen wurde.
Wie im "Studenten Kinkel der Poet, wie im angehenden Manne der freisinnige
Gelehrte, so regte sich in dem mehr Gereiften der Politiker, der mit fast
elementarer Nedegewalt in den Streit der Parteien eingriff. Ein vielbewegtes
und prüfungsvolles Dasein war ihm beschieden. Und eine Fülle von guten
Göttergaben war ihm in die Seele gelegt. Er besaß in vorzüglichem Maße
die Fähigkeit, das Große und Schöne zu sehen, zu verstehn und zu deuten.
Eine elementare Macht der Beredsamkeit wohnte ihm inne: er fand für jedes
Gefühl, für jeden Gedanken den entsprechenden Ton in seiner Brust, und
darum hat er so gewinnend, so fesselnd, so anregend gewirkt, wo immer er
das Wort ergriff."

Durch sein ungewöhnlich herbes und hartes Schicksal, durch die über ihn
verhängte und wirklich vollstreckte Strafe, die noch strenger war als das
Gesetz, durch seine heldenmütige Aufopferung für seine Ansichten und sür seine
Partei lebt Kinkels Name im Munde des deutschen Volks, das mit treuer und
inniger Teilnahme auf den Wechsel seiner Schicksale sah. Er hat die Worte,
mit denen er sein Epos "Otto der Schütz" geschlossen hat, an sich selber
wahr gemacht:


Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.

Er hat sich selbst sein Schicksal geschaffen, er hat es aber auch selbst getragen
als ein echter deutscher Mann! Der nun schlafende Sänger sagt in seinem
Liede "Menschlichkeit," das ein hohes Lied der Menschheit genannt zu werden
verdient, mit der Resignation des Weltweisen von sich:

Mich irrt es nicht! Mit Liebesblicke
Schau ich der Zeiten Ringen "in
Es wechseln Völker und Geschicke,
Die Menschheit geht die gleiche Bahn.
Ein Ring bin ich in großer Kette
Der Zukunft, der Vergangenheit;
Und durch des Kampfes Brandung rette
Das Kleinod ich der Menschlichkeit.



Litterarisches Leben am Rhein

Bei der Beerdigung Kinkels (am 16. November 1882) zu Zürich entwarf
Johannes Scherr ein ergreifendes Bild von dem Lebensgange des Dichters.
Die Zeit der Jugend und der ersten Mannesjahre zog an den Hörern vorbei,
fast wie ein Idyll von den rebenumkränzten Ufern des Rheins. „Da kam
das Jahr 1848, sagte Scherr; nur wer jene Zeit erlebt hat, kann es begreifen,
wie jedes patriotisch fühlende Herz, jedes offne Gemüt, jeder frei denkende
Sinn in die Wogen hineingerissen und von denselben davon getragen wurde.
Wie im «Studenten Kinkel der Poet, wie im angehenden Manne der freisinnige
Gelehrte, so regte sich in dem mehr Gereiften der Politiker, der mit fast
elementarer Nedegewalt in den Streit der Parteien eingriff. Ein vielbewegtes
und prüfungsvolles Dasein war ihm beschieden. Und eine Fülle von guten
Göttergaben war ihm in die Seele gelegt. Er besaß in vorzüglichem Maße
die Fähigkeit, das Große und Schöne zu sehen, zu verstehn und zu deuten.
Eine elementare Macht der Beredsamkeit wohnte ihm inne: er fand für jedes
Gefühl, für jeden Gedanken den entsprechenden Ton in seiner Brust, und
darum hat er so gewinnend, so fesselnd, so anregend gewirkt, wo immer er
das Wort ergriff."

Durch sein ungewöhnlich herbes und hartes Schicksal, durch die über ihn
verhängte und wirklich vollstreckte Strafe, die noch strenger war als das
Gesetz, durch seine heldenmütige Aufopferung für seine Ansichten und sür seine
Partei lebt Kinkels Name im Munde des deutschen Volks, das mit treuer und
inniger Teilnahme auf den Wechsel seiner Schicksale sah. Er hat die Worte,
mit denen er sein Epos „Otto der Schütz" geschlossen hat, an sich selber
wahr gemacht:


Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.

Er hat sich selbst sein Schicksal geschaffen, er hat es aber auch selbst getragen
als ein echter deutscher Mann! Der nun schlafende Sänger sagt in seinem
Liede „Menschlichkeit," das ein hohes Lied der Menschheit genannt zu werden
verdient, mit der Resignation des Weltweisen von sich:

Mich irrt es nicht! Mit Liebesblicke
Schau ich der Zeiten Ringen «in
Es wechseln Völker und Geschicke,
Die Menschheit geht die gleiche Bahn.
Ein Ring bin ich in großer Kette
Der Zukunft, der Vergangenheit;
Und durch des Kampfes Brandung rette
Das Kleinod ich der Menschlichkeit.



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[0316] Litterarisches Leben am Rhein Bei der Beerdigung Kinkels (am 16. November 1882) zu Zürich entwarf Johannes Scherr ein ergreifendes Bild von dem Lebensgange des Dichters. Die Zeit der Jugend und der ersten Mannesjahre zog an den Hörern vorbei, fast wie ein Idyll von den rebenumkränzten Ufern des Rheins. „Da kam das Jahr 1848, sagte Scherr; nur wer jene Zeit erlebt hat, kann es begreifen, wie jedes patriotisch fühlende Herz, jedes offne Gemüt, jeder frei denkende Sinn in die Wogen hineingerissen und von denselben davon getragen wurde. Wie im «Studenten Kinkel der Poet, wie im angehenden Manne der freisinnige Gelehrte, so regte sich in dem mehr Gereiften der Politiker, der mit fast elementarer Nedegewalt in den Streit der Parteien eingriff. Ein vielbewegtes und prüfungsvolles Dasein war ihm beschieden. Und eine Fülle von guten Göttergaben war ihm in die Seele gelegt. Er besaß in vorzüglichem Maße die Fähigkeit, das Große und Schöne zu sehen, zu verstehn und zu deuten. Eine elementare Macht der Beredsamkeit wohnte ihm inne: er fand für jedes Gefühl, für jeden Gedanken den entsprechenden Ton in seiner Brust, und darum hat er so gewinnend, so fesselnd, so anregend gewirkt, wo immer er das Wort ergriff." Durch sein ungewöhnlich herbes und hartes Schicksal, durch die über ihn verhängte und wirklich vollstreckte Strafe, die noch strenger war als das Gesetz, durch seine heldenmütige Aufopferung für seine Ansichten und sür seine Partei lebt Kinkels Name im Munde des deutschen Volks, das mit treuer und inniger Teilnahme auf den Wechsel seiner Schicksale sah. Er hat die Worte, mit denen er sein Epos „Otto der Schütz" geschlossen hat, an sich selber wahr gemacht: Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann. Er hat sich selbst sein Schicksal geschaffen, er hat es aber auch selbst getragen als ein echter deutscher Mann! Der nun schlafende Sänger sagt in seinem Liede „Menschlichkeit," das ein hohes Lied der Menschheit genannt zu werden verdient, mit der Resignation des Weltweisen von sich: Mich irrt es nicht! Mit Liebesblicke Schau ich der Zeiten Ringen «in Es wechseln Völker und Geschicke, Die Menschheit geht die gleiche Bahn. Ein Ring bin ich in großer Kette Der Zukunft, der Vergangenheit; Und durch des Kampfes Brandung rette Das Kleinod ich der Menschlichkeit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/316>, abgerufen am 28.09.2024.