Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Aussichten des Rhein-Llbekanals

Verschiebungen. Die reichen Bezirke werden noch reicher, die armen noch ärmer
werden. Die sozialen Mißstände, an denen wir heute schon kranken, werden
nur noch weiter verschürft werden." Graf Kcmitz ist ein ernster, kluger Poli¬
tiker, der logisch denkt und die Rede in seltnem Maße in der Gewalt hat.
Wenn er, wie hier, in jedem Satz eine Verkehrtheit zu produzieren genötigt
war, so ist das der beste Beweis, wie es mit dem, was er versieht, in Wahr¬
heit aussieht. Der Minister Thielen hat ihm darauf geantwortet: "Meine
Herren, der lebhafte Beifall, welcher dieser Auffassung des Herrn Grafen Kanitz
zu teil geworden ist, muß mich zu der Annahme führen, daß auf diesem Stand¬
punkte seine gesamten Parteigenossen -- mit einigen Ausnahmen vielleicht --
stehn. Wenn dieser Standpunkt aber der maßgebende für unsre Zukunft sein
soll, dann ist es überhaupt mit unsrer Vcrkchrscntwicklung vorbei; dann können
wir weder eine Eisenbahn künftig bauen uoch einen Kanal, noch eine Klein¬
bahn, noch eine Chaussee, denn dieser Maßstab, an jeden Vorschlag zu einer
neuen Eisenbahn angelegt, muß zu einer unbedingten Verwerfung führen. Dem
ganzen Lande kommt niemals eine Eisenbahn, eine Kleinbahn oder uoch viel
weniger eine Chaussee zu gute, sondern immer nnr ganz bestimmten Landes¬
teilen. . . . Dann wird es allerdings dahin kommen, daß wir allmählich aus
der Reihe der entwicklungsfähigen, der leistungs- und wettbewerbsfähigen Länder
ausscheiden; dann wird es allerdings dahin kommen, daß Sie nicht mehr
-- wie es Gott sei Dank bisher immer noch der Fall ist -- einen intensiven
Betrieb in der Landwirtschaft haben, sondern extensiv wirtschaften und die
Schafe über ihre Bracher und Weiden werden gehn lassen oder den größten
Teil ihres Ackers anschonen."

Es ist wirklich eine geradezu abergläubische Furcht vor der weitern Ent¬
wicklung der industriellen Gütererzeugung und des Warenaustauschs, was die
Agrarier in die Opposition gegen den Mittellandkanal hineintreibe. Sie wissen
selbst nicht recht, was sie wollen und fürchten, und da ist doch wohl zu hoffen,
daß es der Negierung in den Kommissionsverhandlungen gelingen werde, die
ostelbische Gespensterfurcht mit einigem Erfolg zu bekämpfen, wenn sie selbst
sich der verhängnisvollen Gespensterfurcht entschlage, die sie seit Jahren immer
wieder zur Kapitulation vor der agrarischen Reaktion getrieben hat.

In hohem Grade zu beklagen ist es, daß die Vertreter der schlesischen
Montanindustrie und des schlesischen Handels der agrarischen Opposition eine
Bundesgenossenschaft leisten, die an Schärfe und Gehässigkeit des Tons die
Wortführer des Bundes der Landwirte bei weitem überbietet. Die Breslauer
Handelskammer und der Abgeordnete Gothein vor allem haben die schlesischen
Sonderinteressen gegen den Mittellandkanal in einer Weise ausgespielt, daß
ihnen jedes Recht abgesprochen werden muß, sich über die "Begehrlichkeit" der
ostelbischen Landwirte zu beschweren. Die Antwort, die der Minister Thielen
dem Grafen Kanitz hat zu teil werden lassen, gilt Wort für Wort auch für


Die Aussichten des Rhein-Llbekanals

Verschiebungen. Die reichen Bezirke werden noch reicher, die armen noch ärmer
werden. Die sozialen Mißstände, an denen wir heute schon kranken, werden
nur noch weiter verschürft werden." Graf Kcmitz ist ein ernster, kluger Poli¬
tiker, der logisch denkt und die Rede in seltnem Maße in der Gewalt hat.
Wenn er, wie hier, in jedem Satz eine Verkehrtheit zu produzieren genötigt
war, so ist das der beste Beweis, wie es mit dem, was er versieht, in Wahr¬
heit aussieht. Der Minister Thielen hat ihm darauf geantwortet: „Meine
Herren, der lebhafte Beifall, welcher dieser Auffassung des Herrn Grafen Kanitz
zu teil geworden ist, muß mich zu der Annahme führen, daß auf diesem Stand¬
punkte seine gesamten Parteigenossen — mit einigen Ausnahmen vielleicht —
stehn. Wenn dieser Standpunkt aber der maßgebende für unsre Zukunft sein
soll, dann ist es überhaupt mit unsrer Vcrkchrscntwicklung vorbei; dann können
wir weder eine Eisenbahn künftig bauen uoch einen Kanal, noch eine Klein¬
bahn, noch eine Chaussee, denn dieser Maßstab, an jeden Vorschlag zu einer
neuen Eisenbahn angelegt, muß zu einer unbedingten Verwerfung führen. Dem
ganzen Lande kommt niemals eine Eisenbahn, eine Kleinbahn oder uoch viel
weniger eine Chaussee zu gute, sondern immer nnr ganz bestimmten Landes¬
teilen. . . . Dann wird es allerdings dahin kommen, daß wir allmählich aus
der Reihe der entwicklungsfähigen, der leistungs- und wettbewerbsfähigen Länder
ausscheiden; dann wird es allerdings dahin kommen, daß Sie nicht mehr
— wie es Gott sei Dank bisher immer noch der Fall ist — einen intensiven
Betrieb in der Landwirtschaft haben, sondern extensiv wirtschaften und die
Schafe über ihre Bracher und Weiden werden gehn lassen oder den größten
Teil ihres Ackers anschonen."

Es ist wirklich eine geradezu abergläubische Furcht vor der weitern Ent¬
wicklung der industriellen Gütererzeugung und des Warenaustauschs, was die
Agrarier in die Opposition gegen den Mittellandkanal hineintreibe. Sie wissen
selbst nicht recht, was sie wollen und fürchten, und da ist doch wohl zu hoffen,
daß es der Negierung in den Kommissionsverhandlungen gelingen werde, die
ostelbische Gespensterfurcht mit einigem Erfolg zu bekämpfen, wenn sie selbst
sich der verhängnisvollen Gespensterfurcht entschlage, die sie seit Jahren immer
wieder zur Kapitulation vor der agrarischen Reaktion getrieben hat.

In hohem Grade zu beklagen ist es, daß die Vertreter der schlesischen
Montanindustrie und des schlesischen Handels der agrarischen Opposition eine
Bundesgenossenschaft leisten, die an Schärfe und Gehässigkeit des Tons die
Wortführer des Bundes der Landwirte bei weitem überbietet. Die Breslauer
Handelskammer und der Abgeordnete Gothein vor allem haben die schlesischen
Sonderinteressen gegen den Mittellandkanal in einer Weise ausgespielt, daß
ihnen jedes Recht abgesprochen werden muß, sich über die „Begehrlichkeit" der
ostelbischen Landwirte zu beschweren. Die Antwort, die der Minister Thielen
dem Grafen Kanitz hat zu teil werden lassen, gilt Wort für Wort auch für


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0294" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230726"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Aussichten des Rhein-Llbekanals</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_917" prev="#ID_916"> Verschiebungen. Die reichen Bezirke werden noch reicher, die armen noch ärmer<lb/>
werden. Die sozialen Mißstände, an denen wir heute schon kranken, werden<lb/>
nur noch weiter verschürft werden." Graf Kcmitz ist ein ernster, kluger Poli¬<lb/>
tiker, der logisch denkt und die Rede in seltnem Maße in der Gewalt hat.<lb/>
Wenn er, wie hier, in jedem Satz eine Verkehrtheit zu produzieren genötigt<lb/>
war, so ist das der beste Beweis, wie es mit dem, was er versieht, in Wahr¬<lb/>
heit aussieht. Der Minister Thielen hat ihm darauf geantwortet: &#x201E;Meine<lb/>
Herren, der lebhafte Beifall, welcher dieser Auffassung des Herrn Grafen Kanitz<lb/>
zu teil geworden ist, muß mich zu der Annahme führen, daß auf diesem Stand¬<lb/>
punkte seine gesamten Parteigenossen &#x2014; mit einigen Ausnahmen vielleicht &#x2014;<lb/>
stehn. Wenn dieser Standpunkt aber der maßgebende für unsre Zukunft sein<lb/>
soll, dann ist es überhaupt mit unsrer Vcrkchrscntwicklung vorbei; dann können<lb/>
wir weder eine Eisenbahn künftig bauen uoch einen Kanal, noch eine Klein¬<lb/>
bahn, noch eine Chaussee, denn dieser Maßstab, an jeden Vorschlag zu einer<lb/>
neuen Eisenbahn angelegt, muß zu einer unbedingten Verwerfung führen. Dem<lb/>
ganzen Lande kommt niemals eine Eisenbahn, eine Kleinbahn oder uoch viel<lb/>
weniger eine Chaussee zu gute, sondern immer nnr ganz bestimmten Landes¬<lb/>
teilen. . . . Dann wird es allerdings dahin kommen, daß wir allmählich aus<lb/>
der Reihe der entwicklungsfähigen, der leistungs- und wettbewerbsfähigen Länder<lb/>
ausscheiden; dann wird es allerdings dahin kommen, daß Sie nicht mehr<lb/>
&#x2014; wie es Gott sei Dank bisher immer noch der Fall ist &#x2014; einen intensiven<lb/>
Betrieb in der Landwirtschaft haben, sondern extensiv wirtschaften und die<lb/>
Schafe über ihre Bracher und Weiden werden gehn lassen oder den größten<lb/>
Teil ihres Ackers anschonen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_918"> Es ist wirklich eine geradezu abergläubische Furcht vor der weitern Ent¬<lb/>
wicklung der industriellen Gütererzeugung und des Warenaustauschs, was die<lb/>
Agrarier in die Opposition gegen den Mittellandkanal hineintreibe. Sie wissen<lb/>
selbst nicht recht, was sie wollen und fürchten, und da ist doch wohl zu hoffen,<lb/>
daß es der Negierung in den Kommissionsverhandlungen gelingen werde, die<lb/>
ostelbische Gespensterfurcht mit einigem Erfolg zu bekämpfen, wenn sie selbst<lb/>
sich der verhängnisvollen Gespensterfurcht entschlage, die sie seit Jahren immer<lb/>
wieder zur Kapitulation vor der agrarischen Reaktion getrieben hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_919" next="#ID_920"> In hohem Grade zu beklagen ist es, daß die Vertreter der schlesischen<lb/>
Montanindustrie und des schlesischen Handels der agrarischen Opposition eine<lb/>
Bundesgenossenschaft leisten, die an Schärfe und Gehässigkeit des Tons die<lb/>
Wortführer des Bundes der Landwirte bei weitem überbietet. Die Breslauer<lb/>
Handelskammer und der Abgeordnete Gothein vor allem haben die schlesischen<lb/>
Sonderinteressen gegen den Mittellandkanal in einer Weise ausgespielt, daß<lb/>
ihnen jedes Recht abgesprochen werden muß, sich über die &#x201E;Begehrlichkeit" der<lb/>
ostelbischen Landwirte zu beschweren. Die Antwort, die der Minister Thielen<lb/>
dem Grafen Kanitz hat zu teil werden lassen, gilt Wort für Wort auch für</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0294] Die Aussichten des Rhein-Llbekanals Verschiebungen. Die reichen Bezirke werden noch reicher, die armen noch ärmer werden. Die sozialen Mißstände, an denen wir heute schon kranken, werden nur noch weiter verschürft werden." Graf Kcmitz ist ein ernster, kluger Poli¬ tiker, der logisch denkt und die Rede in seltnem Maße in der Gewalt hat. Wenn er, wie hier, in jedem Satz eine Verkehrtheit zu produzieren genötigt war, so ist das der beste Beweis, wie es mit dem, was er versieht, in Wahr¬ heit aussieht. Der Minister Thielen hat ihm darauf geantwortet: „Meine Herren, der lebhafte Beifall, welcher dieser Auffassung des Herrn Grafen Kanitz zu teil geworden ist, muß mich zu der Annahme führen, daß auf diesem Stand¬ punkte seine gesamten Parteigenossen — mit einigen Ausnahmen vielleicht — stehn. Wenn dieser Standpunkt aber der maßgebende für unsre Zukunft sein soll, dann ist es überhaupt mit unsrer Vcrkchrscntwicklung vorbei; dann können wir weder eine Eisenbahn künftig bauen uoch einen Kanal, noch eine Klein¬ bahn, noch eine Chaussee, denn dieser Maßstab, an jeden Vorschlag zu einer neuen Eisenbahn angelegt, muß zu einer unbedingten Verwerfung führen. Dem ganzen Lande kommt niemals eine Eisenbahn, eine Kleinbahn oder uoch viel weniger eine Chaussee zu gute, sondern immer nnr ganz bestimmten Landes¬ teilen. . . . Dann wird es allerdings dahin kommen, daß wir allmählich aus der Reihe der entwicklungsfähigen, der leistungs- und wettbewerbsfähigen Länder ausscheiden; dann wird es allerdings dahin kommen, daß Sie nicht mehr — wie es Gott sei Dank bisher immer noch der Fall ist — einen intensiven Betrieb in der Landwirtschaft haben, sondern extensiv wirtschaften und die Schafe über ihre Bracher und Weiden werden gehn lassen oder den größten Teil ihres Ackers anschonen." Es ist wirklich eine geradezu abergläubische Furcht vor der weitern Ent¬ wicklung der industriellen Gütererzeugung und des Warenaustauschs, was die Agrarier in die Opposition gegen den Mittellandkanal hineintreibe. Sie wissen selbst nicht recht, was sie wollen und fürchten, und da ist doch wohl zu hoffen, daß es der Negierung in den Kommissionsverhandlungen gelingen werde, die ostelbische Gespensterfurcht mit einigem Erfolg zu bekämpfen, wenn sie selbst sich der verhängnisvollen Gespensterfurcht entschlage, die sie seit Jahren immer wieder zur Kapitulation vor der agrarischen Reaktion getrieben hat. In hohem Grade zu beklagen ist es, daß die Vertreter der schlesischen Montanindustrie und des schlesischen Handels der agrarischen Opposition eine Bundesgenossenschaft leisten, die an Schärfe und Gehässigkeit des Tons die Wortführer des Bundes der Landwirte bei weitem überbietet. Die Breslauer Handelskammer und der Abgeordnete Gothein vor allem haben die schlesischen Sonderinteressen gegen den Mittellandkanal in einer Weise ausgespielt, daß ihnen jedes Recht abgesprochen werden muß, sich über die „Begehrlichkeit" der ostelbischen Landwirte zu beschweren. Die Antwort, die der Minister Thielen dem Grafen Kanitz hat zu teil werden lassen, gilt Wort für Wort auch für

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/294
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/294>, abgerufen am 28.09.2024.