Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur 272 ordentlich in Form Rechtens in ihre Theorien und Systeme aufzunehmen. Die In einer Besprechung von Laubes "Reisenovellen" heißt es: "Der volle Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur 272 ordentlich in Form Rechtens in ihre Theorien und Systeme aufzunehmen. Die In einer Besprechung von Laubes „Reisenovellen" heißt es: „Der volle <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230712"/> <fw type="header" place="top"> Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_870" prev="#ID_869" next="#ID_871"> 272</p><lb/> <p xml:id="ID_871" prev="#ID_870"> ordentlich in Form Rechtens in ihre Theorien und Systeme aufzunehmen. Die<lb/> Zeit befindet sich ans Reisen, sie hat große Wanderungen vor und holt aus,<lb/> als wollte sie noch unermeßliche Berge überschreiten, ehe sie wieder Hütten<lb/> bauen wird in der Ruhe eines glücklichen Thales. Noch gar nicht absehen<lb/> lassen sich die Schritte ihrer befriedigungslosen Bewegung, wohin sie dieselben<lb/> endlich tragen wird, und wir alle setzen unser Leben ein, an ihre Bewegung,<lb/> die von Zukunft trunken scheint. Und daher das Unvollendete dieser Be-<lb/> wcguugsbücher, weil sie noch blos; von Zukunft trunken sind und keiner<lb/> Gegenwart voll." Obgleich Gutzkow wußte, daß die Tendenz in ihrer All¬<lb/> gemeinheit der Wahrheit des Individuums wie der Schönheit der Form er¬<lb/> mangelte, orakelte er dennoch: „Wüßten wir nicht, daß das neunzehnte Jahr¬<lb/> hundert um so viel poetischer ist, als das achtzehnte prosaisch war, so würden<lb/> wir nicht begreifen, wie in so kurzer Zeit sich alle Gesichtspunkte der Litte¬<lb/> ratur umwerfen konnten. Früher hielt man es für genialisch, der Zeit auf<lb/> den Fuß zu treten, ihr den Sand aus dem Stnndenglase zu verschütten, sie<lb/> zu ignorieren im gelindesten Falle, jetzt dagegen wird es für die Weihe des<lb/> Genius gehalten, die Freundschaft der Zeit zu besitzen, ihr junger Vertrauter,<lb/> ihr Herold und Apostel sein. — — Die Litteratur ist die Zuflucht geworden<lb/> für die Hoffnungen und Interessen, die eigentlich der Staat zu befriedigen<lb/> hat. In Zeiten der Tyrannei sucht man in der Poesie die Garantie seiner<lb/> natürlichen Freiheit. Die Strahlungen der Überzeugung und des freien Ge¬<lb/> dankens finden dann in der Litteratur ein Medium, das ihr Licht in das<lb/> milde Farbenspiel einer gebrochnen Reflexion leitet, welches eher Duldung<lb/> findet. — Die Tendenz ist kein Spiel, sie muß siegen oder besiegt werden,<lb/> weil sie auf Interessen beruht."</p><lb/> <p xml:id="ID_872" next="#ID_873"> In einer Besprechung von Laubes „Reisenovellen" heißt es: „Der volle<lb/> Augenblick schließt alles Wertvolle der Vergangenheit mit ein. In dem freudigen<lb/> Lebensgenuß, dem politischen Hochgefühl des freien Menschen liegt alles —<lb/> Laubes goldner Sonnenschimmer des Tags birgt Hölthschen Mondschein mit<lb/> obligater Wehmut, Goethischen Morgenglanz und Liebesseligkeit in sich." Diese<lb/> überschwängliche Kritik könnte man allenfalls für eine bloße Trompetenfanfare<lb/> halten, aber es ist offenbar bitter ernst gemeint, wenn Gutzkow erklärt: „So<lb/> ist mit einem Worte die neuere Poesie trotz ihrer Anknüpfungen an frühere<lb/> Zustände immer in unmittelbarer Nähe des Moments; sie bekämpft denselben,<lb/> sie unterwühlt oder sie verachtet ihn, indem sie ihn ignoriert. Es liegt in<lb/> all den beliebigen Richtungen, welche neuere Dichter genommen haben, doch<lb/> immer wieder eine Straße, wo sie auf die Gegenwart zurückkommen. — Zu<lb/> allen Zeiten hat es für eine Gattung der Poesie mehr Gunst der Umstände<lb/> gegeben, als für die andre. Im Roman hauptsächlich sprechen sich alle An¬<lb/> forderungen aus, welche die Menschen heut an die Poesie machen. Wie in<lb/> alten Zeiten das Drama alle Gattungen der Poesie in sich vereinigte, so soll<lb/> jetzt der Roman vom Wesen aller derselben einen Anklang geben, sodaß die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0280]
Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur
272
ordentlich in Form Rechtens in ihre Theorien und Systeme aufzunehmen. Die
Zeit befindet sich ans Reisen, sie hat große Wanderungen vor und holt aus,
als wollte sie noch unermeßliche Berge überschreiten, ehe sie wieder Hütten
bauen wird in der Ruhe eines glücklichen Thales. Noch gar nicht absehen
lassen sich die Schritte ihrer befriedigungslosen Bewegung, wohin sie dieselben
endlich tragen wird, und wir alle setzen unser Leben ein, an ihre Bewegung,
die von Zukunft trunken scheint. Und daher das Unvollendete dieser Be-
wcguugsbücher, weil sie noch blos; von Zukunft trunken sind und keiner
Gegenwart voll." Obgleich Gutzkow wußte, daß die Tendenz in ihrer All¬
gemeinheit der Wahrheit des Individuums wie der Schönheit der Form er¬
mangelte, orakelte er dennoch: „Wüßten wir nicht, daß das neunzehnte Jahr¬
hundert um so viel poetischer ist, als das achtzehnte prosaisch war, so würden
wir nicht begreifen, wie in so kurzer Zeit sich alle Gesichtspunkte der Litte¬
ratur umwerfen konnten. Früher hielt man es für genialisch, der Zeit auf
den Fuß zu treten, ihr den Sand aus dem Stnndenglase zu verschütten, sie
zu ignorieren im gelindesten Falle, jetzt dagegen wird es für die Weihe des
Genius gehalten, die Freundschaft der Zeit zu besitzen, ihr junger Vertrauter,
ihr Herold und Apostel sein. — — Die Litteratur ist die Zuflucht geworden
für die Hoffnungen und Interessen, die eigentlich der Staat zu befriedigen
hat. In Zeiten der Tyrannei sucht man in der Poesie die Garantie seiner
natürlichen Freiheit. Die Strahlungen der Überzeugung und des freien Ge¬
dankens finden dann in der Litteratur ein Medium, das ihr Licht in das
milde Farbenspiel einer gebrochnen Reflexion leitet, welches eher Duldung
findet. — Die Tendenz ist kein Spiel, sie muß siegen oder besiegt werden,
weil sie auf Interessen beruht."
In einer Besprechung von Laubes „Reisenovellen" heißt es: „Der volle
Augenblick schließt alles Wertvolle der Vergangenheit mit ein. In dem freudigen
Lebensgenuß, dem politischen Hochgefühl des freien Menschen liegt alles —
Laubes goldner Sonnenschimmer des Tags birgt Hölthschen Mondschein mit
obligater Wehmut, Goethischen Morgenglanz und Liebesseligkeit in sich." Diese
überschwängliche Kritik könnte man allenfalls für eine bloße Trompetenfanfare
halten, aber es ist offenbar bitter ernst gemeint, wenn Gutzkow erklärt: „So
ist mit einem Worte die neuere Poesie trotz ihrer Anknüpfungen an frühere
Zustände immer in unmittelbarer Nähe des Moments; sie bekämpft denselben,
sie unterwühlt oder sie verachtet ihn, indem sie ihn ignoriert. Es liegt in
all den beliebigen Richtungen, welche neuere Dichter genommen haben, doch
immer wieder eine Straße, wo sie auf die Gegenwart zurückkommen. — Zu
allen Zeiten hat es für eine Gattung der Poesie mehr Gunst der Umstände
gegeben, als für die andre. Im Roman hauptsächlich sprechen sich alle An¬
forderungen aus, welche die Menschen heut an die Poesie machen. Wie in
alten Zeiten das Drama alle Gattungen der Poesie in sich vereinigte, so soll
jetzt der Roman vom Wesen aller derselben einen Anklang geben, sodaß die
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |