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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

befehdete Dichter und Schriftsteller blieb Ludwig Tieck. Nicht die wirklichen
Mängel seines improvisatvrischen Talents und die Neigung des Dichters zum
geistreich Formlosen und Fragmentarischen, in denen er ganz entschieden Be¬
rührungspunkte mit Jungdeutschland hatte, sondern die Vorzüge des Dichters
und sein unverwüstliches Grundgefühl für das Ganze des Lebens und das
Elementare in der Poesie, die Größe seiner Litteraturauffassung und Litteratur-
kenntnis machten den Begründer der modernen Novelle zum Gegenstande der
gehässigsten, unablässigsten Angriffe.

Für die Modernen muß Paul Heyse die Rolle übernehmen, die die spätere,
die intime Romantik Goethe und das junge Deutschland Tieck zuteilten.
"Männer wie Paul Heyse, läßt sich Wilhelm Weigand vernehmen, sind bei
aller Begabung fast nie das Glück einer Litteratur, ja eher ein Unglück zu
nennen, insofern sie als Pfleger eines gealterten engen Geschmacks die Bildung
neuer Formen mit neuem Gehalt verhindern. Sie sind geborne Epigonen:
die Schönheit der übcrnommnen Form wird zur charakterlosen Glätte, die
Pflege des Idealen zur Feigheit vor den schrecklichen Seiten und Problemen
des Lebens, die bewußte Künstlerschaft zu seichtem Epikuräertum, und ehe
mau sichs versieht, ist auch die Manier da." Nun sind wir sicher der Meinung,
daß Paul Heyse weder ein Goethe noch ein Tieck ist, aber es stimmt zum
Nachdenken, daß nahezu mit denselben Worten Goethe von den Heißspornen
der Romantik und Tieck von denen des jungen Deutschlands charakterisiert
und "vernichtet" worden ist.

Die Vergleichung der drei litterarischen Revolutionen und der in ihnen
wiederkehrenden Erscheinungen könnte noch ein gutes Stück weiter verfolgt
werden. Nicht uninteressant würde es sein, mit dem jedesmal erklingenden
leidenschaftlichen Schrei nach Natur die ebenso jedesmal auftauchende Vorherr¬
schaft der gequältcsten Reflexion und die Lobpreisung abstruser litterarischer
Gelehrsamkeit im einzelnen zu vergleichen. Doch für unsern Hauptzweck haben
wir schon zu viel der Einzelheiten erörtert, und es gilt die entsprechenden
Folgerungen aus ihnen zu ziehen.

Sucht man den Kern der zahllosen theoretischen Schriften, die in allen
drei Revolutionen verfaßt worden sind und jedesmal einen Teil deS Publikums
mit fortgerissen, überzeugt oder doch in seinen Überzeugungen beirrt und un¬
sicher gemacht haben, so ist es überflüssig, auf die Grundverschiedenheit der
Anschauungen der Romantiker, der Jungdeutschen und der Modernen hinzu¬
weisen. Jedermann kennt sie, und eine beständig wachsende Litteratur sorgt,
wenigstens für die Romantik und das junge Deutschland, daß auch die ver¬
borgensten Einzelheiten und die unwesentlichsten persönlichen Schwankungen des
litterarische" Glaubensbekenntnisses bei den Vertreter" jeder Schule erörtert
werden. Von viel größerer Wichtigkeit ist eine allgemeine Erscheinung, die
sich bis auf diese Stunde in der ästhetisch-kritischen Agitation wiederholt, und
die darin besteht, daß durch eine entscheidende Weglassung aus richtigen, an


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

befehdete Dichter und Schriftsteller blieb Ludwig Tieck. Nicht die wirklichen
Mängel seines improvisatvrischen Talents und die Neigung des Dichters zum
geistreich Formlosen und Fragmentarischen, in denen er ganz entschieden Be¬
rührungspunkte mit Jungdeutschland hatte, sondern die Vorzüge des Dichters
und sein unverwüstliches Grundgefühl für das Ganze des Lebens und das
Elementare in der Poesie, die Größe seiner Litteraturauffassung und Litteratur-
kenntnis machten den Begründer der modernen Novelle zum Gegenstande der
gehässigsten, unablässigsten Angriffe.

Für die Modernen muß Paul Heyse die Rolle übernehmen, die die spätere,
die intime Romantik Goethe und das junge Deutschland Tieck zuteilten.
„Männer wie Paul Heyse, läßt sich Wilhelm Weigand vernehmen, sind bei
aller Begabung fast nie das Glück einer Litteratur, ja eher ein Unglück zu
nennen, insofern sie als Pfleger eines gealterten engen Geschmacks die Bildung
neuer Formen mit neuem Gehalt verhindern. Sie sind geborne Epigonen:
die Schönheit der übcrnommnen Form wird zur charakterlosen Glätte, die
Pflege des Idealen zur Feigheit vor den schrecklichen Seiten und Problemen
des Lebens, die bewußte Künstlerschaft zu seichtem Epikuräertum, und ehe
mau sichs versieht, ist auch die Manier da." Nun sind wir sicher der Meinung,
daß Paul Heyse weder ein Goethe noch ein Tieck ist, aber es stimmt zum
Nachdenken, daß nahezu mit denselben Worten Goethe von den Heißspornen
der Romantik und Tieck von denen des jungen Deutschlands charakterisiert
und „vernichtet" worden ist.

Die Vergleichung der drei litterarischen Revolutionen und der in ihnen
wiederkehrenden Erscheinungen könnte noch ein gutes Stück weiter verfolgt
werden. Nicht uninteressant würde es sein, mit dem jedesmal erklingenden
leidenschaftlichen Schrei nach Natur die ebenso jedesmal auftauchende Vorherr¬
schaft der gequältcsten Reflexion und die Lobpreisung abstruser litterarischer
Gelehrsamkeit im einzelnen zu vergleichen. Doch für unsern Hauptzweck haben
wir schon zu viel der Einzelheiten erörtert, und es gilt die entsprechenden
Folgerungen aus ihnen zu ziehen.

Sucht man den Kern der zahllosen theoretischen Schriften, die in allen
drei Revolutionen verfaßt worden sind und jedesmal einen Teil deS Publikums
mit fortgerissen, überzeugt oder doch in seinen Überzeugungen beirrt und un¬
sicher gemacht haben, so ist es überflüssig, auf die Grundverschiedenheit der
Anschauungen der Romantiker, der Jungdeutschen und der Modernen hinzu¬
weisen. Jedermann kennt sie, und eine beständig wachsende Litteratur sorgt,
wenigstens für die Romantik und das junge Deutschland, daß auch die ver¬
borgensten Einzelheiten und die unwesentlichsten persönlichen Schwankungen des
litterarische» Glaubensbekenntnisses bei den Vertreter» jeder Schule erörtert
werden. Von viel größerer Wichtigkeit ist eine allgemeine Erscheinung, die
sich bis auf diese Stunde in der ästhetisch-kritischen Agitation wiederholt, und
die darin besteht, daß durch eine entscheidende Weglassung aus richtigen, an


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[0277] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur befehdete Dichter und Schriftsteller blieb Ludwig Tieck. Nicht die wirklichen Mängel seines improvisatvrischen Talents und die Neigung des Dichters zum geistreich Formlosen und Fragmentarischen, in denen er ganz entschieden Be¬ rührungspunkte mit Jungdeutschland hatte, sondern die Vorzüge des Dichters und sein unverwüstliches Grundgefühl für das Ganze des Lebens und das Elementare in der Poesie, die Größe seiner Litteraturauffassung und Litteratur- kenntnis machten den Begründer der modernen Novelle zum Gegenstande der gehässigsten, unablässigsten Angriffe. Für die Modernen muß Paul Heyse die Rolle übernehmen, die die spätere, die intime Romantik Goethe und das junge Deutschland Tieck zuteilten. „Männer wie Paul Heyse, läßt sich Wilhelm Weigand vernehmen, sind bei aller Begabung fast nie das Glück einer Litteratur, ja eher ein Unglück zu nennen, insofern sie als Pfleger eines gealterten engen Geschmacks die Bildung neuer Formen mit neuem Gehalt verhindern. Sie sind geborne Epigonen: die Schönheit der übcrnommnen Form wird zur charakterlosen Glätte, die Pflege des Idealen zur Feigheit vor den schrecklichen Seiten und Problemen des Lebens, die bewußte Künstlerschaft zu seichtem Epikuräertum, und ehe mau sichs versieht, ist auch die Manier da." Nun sind wir sicher der Meinung, daß Paul Heyse weder ein Goethe noch ein Tieck ist, aber es stimmt zum Nachdenken, daß nahezu mit denselben Worten Goethe von den Heißspornen der Romantik und Tieck von denen des jungen Deutschlands charakterisiert und „vernichtet" worden ist. Die Vergleichung der drei litterarischen Revolutionen und der in ihnen wiederkehrenden Erscheinungen könnte noch ein gutes Stück weiter verfolgt werden. Nicht uninteressant würde es sein, mit dem jedesmal erklingenden leidenschaftlichen Schrei nach Natur die ebenso jedesmal auftauchende Vorherr¬ schaft der gequältcsten Reflexion und die Lobpreisung abstruser litterarischer Gelehrsamkeit im einzelnen zu vergleichen. Doch für unsern Hauptzweck haben wir schon zu viel der Einzelheiten erörtert, und es gilt die entsprechenden Folgerungen aus ihnen zu ziehen. Sucht man den Kern der zahllosen theoretischen Schriften, die in allen drei Revolutionen verfaßt worden sind und jedesmal einen Teil deS Publikums mit fortgerissen, überzeugt oder doch in seinen Überzeugungen beirrt und un¬ sicher gemacht haben, so ist es überflüssig, auf die Grundverschiedenheit der Anschauungen der Romantiker, der Jungdeutschen und der Modernen hinzu¬ weisen. Jedermann kennt sie, und eine beständig wachsende Litteratur sorgt, wenigstens für die Romantik und das junge Deutschland, daß auch die ver¬ borgensten Einzelheiten und die unwesentlichsten persönlichen Schwankungen des litterarische» Glaubensbekenntnisses bei den Vertreter» jeder Schule erörtert werden. Von viel größerer Wichtigkeit ist eine allgemeine Erscheinung, die sich bis auf diese Stunde in der ästhetisch-kritischen Agitation wiederholt, und die darin besteht, daß durch eine entscheidende Weglassung aus richtigen, an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/277>, abgerufen am 28.09.2024.