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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

sich für den Kulturästhetiker gar nichts weiter als die Thatsache aus, daß dem
modernen Menschen das Dogma der Nächstenliebe schon genug in Fleisch und
Blut, ins sinnliche Gemüt, ins Unwillkürliche übergegangen ist, um es um
entbehren zu können und im Kampf für neue seelenguter immer entbehr¬
licher zu machen. -- Die Menschheit wird sich vom Kampf um ethische Normen,
von Zwangseinrichtungen und Schutzvorschriften für das Jneinanderwirken der
Gesellschaft und des Einzelnen, überhaupt je länger je mehr befreien, je ästhe¬
tischer sie nämlich wird." Herr Richard Dehmel stellt uns dieses Jdealziel, dem
die symbolische Dichtung die Menschheit entgegenführen soll, und die Behaup¬
tung, daß der "autonome Egoismus um der Selbstergründung willen, ledig¬
lich ein Mittel zur Ersteigung abnormer Bewußtseinsstufen darstellt, also die
Gesellschaft fördert" nicht etwa im blutigen Hohn, sondern im vollen Ernst vor
Augen, denn "die Gattungstriebe treiben sich gegenseitig zur Entfaltung und
schützen einander vor Überwucherung." Die symbolische Dichtung schließt,
scheint es, alle Naturkraft und Weltfülle in sich, wie der -- autonome Egoismus
die -- Nächstenliebe.

Gemeinsames Kennzeichen aller Revolutionen, besonders der litterarischen,
ist endlich die leidenschaftliche Feindseligkeit gegen eine hervorragende Gestalt
aus dem Kreise der Gegner, die sich in politischen wie litterarischen Revolu¬
tionen in dem Maße steigert und erhitzt, wie sich die feindselig Schmähenden
bewußt werden, daß sie mit ihrer Leidenschaft allein stehen und die Welt gute
Gründe hat, die Lästerung vom Urteil zu unterscheiden. Ganz so sinnlos
gellend, wie die Pariser Jakobiner "Tod Pitt und Koburg!" schrieen, während
sie kaum wußten, wer die Leute waren, sind natürlich die Losungen litterarischer
Parteien nicht. Aber interessant und charakteristisch bleibt es, wie auf dem
Höhepunkte der romantischen Bewegung nach und nach Goethe (den die Ge¬
brüder Schlegel ursprünglich noch als den einzigen wahrhaften Dichter der
Gegenwart gepriesen hatten) an die Stelle Schillers trat, das heißt immer mehr
zum Zielpunkt des Mißwollens und Mißurteils der Romantiker wurde. Jmmer-
hin trugen die erbitterten Romantiker, bis auf wenige Ausnahmen, in sich eine
gewisse Scheu, ihre Geringschätzung und ihren leidenschaftlichen Ingrimm
öffentlich zu bekennen und tauschten sie zumeist in Briefen aus, die zum Teil
erst lauge nach ihrem Tode gedruckt worden sind.

Was sie in diesem Punkt etwa verabsäumt hatten, holten zwei Jahrzehnte
später die Jungdeutschen nach, vor allen Wolfgang Menzel, der trotz seiner
spätern Feindseligkeit gegen Gutzkow und dessen Genossen die hölzerne Brücke
von der Romantik zum jungen Deutschland schlug und den stillen und lauten
Haß gegen Goethe der neuen Generation von 1830 getreulich überlieferte.
Doch wurde schon um die Mitte der dreißiger Jahre vou den Jungdeutschen
eine Frontveränderung beliebt, und die "Theaterbildung" Goethes, von der
Theodor Mundt gesprochen hatte, verwandelte sich wieder in die tiefe und
freie Weltbildung. Der von den Jmigdeutschcn ohne Wandel und allseitig


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

sich für den Kulturästhetiker gar nichts weiter als die Thatsache aus, daß dem
modernen Menschen das Dogma der Nächstenliebe schon genug in Fleisch und
Blut, ins sinnliche Gemüt, ins Unwillkürliche übergegangen ist, um es um
entbehren zu können und im Kampf für neue seelenguter immer entbehr¬
licher zu machen. — Die Menschheit wird sich vom Kampf um ethische Normen,
von Zwangseinrichtungen und Schutzvorschriften für das Jneinanderwirken der
Gesellschaft und des Einzelnen, überhaupt je länger je mehr befreien, je ästhe¬
tischer sie nämlich wird." Herr Richard Dehmel stellt uns dieses Jdealziel, dem
die symbolische Dichtung die Menschheit entgegenführen soll, und die Behaup¬
tung, daß der „autonome Egoismus um der Selbstergründung willen, ledig¬
lich ein Mittel zur Ersteigung abnormer Bewußtseinsstufen darstellt, also die
Gesellschaft fördert" nicht etwa im blutigen Hohn, sondern im vollen Ernst vor
Augen, denn „die Gattungstriebe treiben sich gegenseitig zur Entfaltung und
schützen einander vor Überwucherung." Die symbolische Dichtung schließt,
scheint es, alle Naturkraft und Weltfülle in sich, wie der — autonome Egoismus
die — Nächstenliebe.

Gemeinsames Kennzeichen aller Revolutionen, besonders der litterarischen,
ist endlich die leidenschaftliche Feindseligkeit gegen eine hervorragende Gestalt
aus dem Kreise der Gegner, die sich in politischen wie litterarischen Revolu¬
tionen in dem Maße steigert und erhitzt, wie sich die feindselig Schmähenden
bewußt werden, daß sie mit ihrer Leidenschaft allein stehen und die Welt gute
Gründe hat, die Lästerung vom Urteil zu unterscheiden. Ganz so sinnlos
gellend, wie die Pariser Jakobiner „Tod Pitt und Koburg!" schrieen, während
sie kaum wußten, wer die Leute waren, sind natürlich die Losungen litterarischer
Parteien nicht. Aber interessant und charakteristisch bleibt es, wie auf dem
Höhepunkte der romantischen Bewegung nach und nach Goethe (den die Ge¬
brüder Schlegel ursprünglich noch als den einzigen wahrhaften Dichter der
Gegenwart gepriesen hatten) an die Stelle Schillers trat, das heißt immer mehr
zum Zielpunkt des Mißwollens und Mißurteils der Romantiker wurde. Jmmer-
hin trugen die erbitterten Romantiker, bis auf wenige Ausnahmen, in sich eine
gewisse Scheu, ihre Geringschätzung und ihren leidenschaftlichen Ingrimm
öffentlich zu bekennen und tauschten sie zumeist in Briefen aus, die zum Teil
erst lauge nach ihrem Tode gedruckt worden sind.

Was sie in diesem Punkt etwa verabsäumt hatten, holten zwei Jahrzehnte
später die Jungdeutschen nach, vor allen Wolfgang Menzel, der trotz seiner
spätern Feindseligkeit gegen Gutzkow und dessen Genossen die hölzerne Brücke
von der Romantik zum jungen Deutschland schlug und den stillen und lauten
Haß gegen Goethe der neuen Generation von 1830 getreulich überlieferte.
Doch wurde schon um die Mitte der dreißiger Jahre vou den Jungdeutschen
eine Frontveränderung beliebt, und die „Theaterbildung" Goethes, von der
Theodor Mundt gesprochen hatte, verwandelte sich wieder in die tiefe und
freie Weltbildung. Der von den Jmigdeutschcn ohne Wandel und allseitig


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[0276] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur sich für den Kulturästhetiker gar nichts weiter als die Thatsache aus, daß dem modernen Menschen das Dogma der Nächstenliebe schon genug in Fleisch und Blut, ins sinnliche Gemüt, ins Unwillkürliche übergegangen ist, um es um entbehren zu können und im Kampf für neue seelenguter immer entbehr¬ licher zu machen. — Die Menschheit wird sich vom Kampf um ethische Normen, von Zwangseinrichtungen und Schutzvorschriften für das Jneinanderwirken der Gesellschaft und des Einzelnen, überhaupt je länger je mehr befreien, je ästhe¬ tischer sie nämlich wird." Herr Richard Dehmel stellt uns dieses Jdealziel, dem die symbolische Dichtung die Menschheit entgegenführen soll, und die Behaup¬ tung, daß der „autonome Egoismus um der Selbstergründung willen, ledig¬ lich ein Mittel zur Ersteigung abnormer Bewußtseinsstufen darstellt, also die Gesellschaft fördert" nicht etwa im blutigen Hohn, sondern im vollen Ernst vor Augen, denn „die Gattungstriebe treiben sich gegenseitig zur Entfaltung und schützen einander vor Überwucherung." Die symbolische Dichtung schließt, scheint es, alle Naturkraft und Weltfülle in sich, wie der — autonome Egoismus die — Nächstenliebe. Gemeinsames Kennzeichen aller Revolutionen, besonders der litterarischen, ist endlich die leidenschaftliche Feindseligkeit gegen eine hervorragende Gestalt aus dem Kreise der Gegner, die sich in politischen wie litterarischen Revolu¬ tionen in dem Maße steigert und erhitzt, wie sich die feindselig Schmähenden bewußt werden, daß sie mit ihrer Leidenschaft allein stehen und die Welt gute Gründe hat, die Lästerung vom Urteil zu unterscheiden. Ganz so sinnlos gellend, wie die Pariser Jakobiner „Tod Pitt und Koburg!" schrieen, während sie kaum wußten, wer die Leute waren, sind natürlich die Losungen litterarischer Parteien nicht. Aber interessant und charakteristisch bleibt es, wie auf dem Höhepunkte der romantischen Bewegung nach und nach Goethe (den die Ge¬ brüder Schlegel ursprünglich noch als den einzigen wahrhaften Dichter der Gegenwart gepriesen hatten) an die Stelle Schillers trat, das heißt immer mehr zum Zielpunkt des Mißwollens und Mißurteils der Romantiker wurde. Jmmer- hin trugen die erbitterten Romantiker, bis auf wenige Ausnahmen, in sich eine gewisse Scheu, ihre Geringschätzung und ihren leidenschaftlichen Ingrimm öffentlich zu bekennen und tauschten sie zumeist in Briefen aus, die zum Teil erst lauge nach ihrem Tode gedruckt worden sind. Was sie in diesem Punkt etwa verabsäumt hatten, holten zwei Jahrzehnte später die Jungdeutschen nach, vor allen Wolfgang Menzel, der trotz seiner spätern Feindseligkeit gegen Gutzkow und dessen Genossen die hölzerne Brücke von der Romantik zum jungen Deutschland schlug und den stillen und lauten Haß gegen Goethe der neuen Generation von 1830 getreulich überlieferte. Doch wurde schon um die Mitte der dreißiger Jahre vou den Jungdeutschen eine Frontveränderung beliebt, und die „Theaterbildung" Goethes, von der Theodor Mundt gesprochen hatte, verwandelte sich wieder in die tiefe und freie Weltbildung. Der von den Jmigdeutschcn ohne Wandel und allseitig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/276>, abgerufen am 28.09.2024.