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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Jakob Burckhardts letztes ivort über die Renaissance

besten Idealismus und Realismus, alles Ruhende und dramatisch Bewegte
unter seine mächtige Obhut nimmt/' Nach diesen Vorbereitungen geht es an
die Betrachtung der eigentlichen Porträts jenes "klassischen" Stils. Interessant
ist schon die geographische Verteilung: Rom und Florenz bringen wenig, aber
ausgezeichnetes hervor, Neapel scheint ganz ausgefallen zu sein, von Siena ist
wenigstens heute kaum noch etwas nachweisbar, Genua lebte durchaus von
fremden Kräften, Mailand und Verona bieten mancherlei, alles aber steht zurück
hinter der Stadt Venedig und der ganzen Terra ferma von Friaul bis Ber¬
gamo, und wenn man bedenkt, daß dieses Gebiet "unter der Herrschaft des
heiligen Markus vielleicht seine besten, wenigstens seine ruhigsten Zeiten erlebt
hat, da die Familien auch in Gestalt der bildlichen Erinnerung ihr Wohl¬
ergehen aussprechen konnten, so schimmert uns ein Zustand entgegen beinahe
wie der von Holland im siebzehnten Jahrhundert, da die Porträtmaler kaum
zu zählen sind und ihre Werke als ein selbstverständliches Phänomen wirken."

Unter den Ansdrncksmitteln des neuen Porträtstils steht obenan ein etwas
größerer Maßstab, wenigstens die annähernde Lebensgröße, sodann daß noch
etwas mehr als die Büste gegeben wird, zum mindesten meistens die Hände,
bald auch Kniestück und ganze Figur. Ferner wird das reine Profil aufge¬
geben, und das Gesicht wirkt durch seine Formen größer als früher. Zu der
bloßen Ähnlichkeit des Dargestellten kommt aber noch etwas lebendigeres, die
Stunde der Darstellung, das Sprechende des Moments, die freiere Haltung
im Sitzen oder Stehen, eine Wendung, eine Richtung, eine für den Darge¬
stellten bezeichnende Bewegung, ein bestimmtes Handeln, ein charakteristisch ein¬
greifendes Attribut, was alles dein modellmüßigen Bildnismaler des fünfzehnten
Jahrhunderts noch ganz fern lag. Auch die Umgebung des Dargestellten wird
durch den neuen Stil verändert, eine zu sehr ausgeführte Landschaft oder
Architektur würde das Bildnis beeinträchtigen, hier entspricht die Vereinfachung
der Formen und sogar der häufig ganz neutrale Hintergrund dem Gefühl der
Hochrenaissance. Endlich das Beiwerk soll nicht täuschend und mikroskopisch,
sondern zur Wirkung im ganzen gegeben werden: ein Pelzkragen Sebastianos
del Piombo hat nicht die Illusion der spätern Niederländer. Zu dem neuen
Bildnis haben, wenn wir Lionardo und Naffael vorweg nehmen, die Vene¬
zianer das meiste beigetragen, Sebastian", Lorenzo Lotto und ihr größter,
Tizian. Venedig und das Porträt gehören seit der Zeit zusammen. Tizian
wird ausführlich gewürdigt, das über ihn Gesagte gehört zu dem Aller-
schönsten in dem ganzen Buche. Seine Weltstellung beruhe lange nicht bloß
auf seinem malerischen Können, sondern auf der Auffassung seiner Leute, dem
"Mysterium der guten Stunde." Das in der neuern Kunstsprache mißbrauchte
Wort "vornehm" müsse bei ihm noch einmal seinen ganz unentbehrlichen Dienst
thun. Ein ganz neuer Typus des Distinguierten, ganz verschieden von dem
spätern Vornehmen des Vcmdyck und der Maler Ludwigs XIV., werde durch
ihn den Bildnissen gegeben. Die Leute werden wirksam dargestellt, aber nicht


Jakob Burckhardts letztes ivort über die Renaissance

besten Idealismus und Realismus, alles Ruhende und dramatisch Bewegte
unter seine mächtige Obhut nimmt/' Nach diesen Vorbereitungen geht es an
die Betrachtung der eigentlichen Porträts jenes „klassischen" Stils. Interessant
ist schon die geographische Verteilung: Rom und Florenz bringen wenig, aber
ausgezeichnetes hervor, Neapel scheint ganz ausgefallen zu sein, von Siena ist
wenigstens heute kaum noch etwas nachweisbar, Genua lebte durchaus von
fremden Kräften, Mailand und Verona bieten mancherlei, alles aber steht zurück
hinter der Stadt Venedig und der ganzen Terra ferma von Friaul bis Ber¬
gamo, und wenn man bedenkt, daß dieses Gebiet „unter der Herrschaft des
heiligen Markus vielleicht seine besten, wenigstens seine ruhigsten Zeiten erlebt
hat, da die Familien auch in Gestalt der bildlichen Erinnerung ihr Wohl¬
ergehen aussprechen konnten, so schimmert uns ein Zustand entgegen beinahe
wie der von Holland im siebzehnten Jahrhundert, da die Porträtmaler kaum
zu zählen sind und ihre Werke als ein selbstverständliches Phänomen wirken."

Unter den Ansdrncksmitteln des neuen Porträtstils steht obenan ein etwas
größerer Maßstab, wenigstens die annähernde Lebensgröße, sodann daß noch
etwas mehr als die Büste gegeben wird, zum mindesten meistens die Hände,
bald auch Kniestück und ganze Figur. Ferner wird das reine Profil aufge¬
geben, und das Gesicht wirkt durch seine Formen größer als früher. Zu der
bloßen Ähnlichkeit des Dargestellten kommt aber noch etwas lebendigeres, die
Stunde der Darstellung, das Sprechende des Moments, die freiere Haltung
im Sitzen oder Stehen, eine Wendung, eine Richtung, eine für den Darge¬
stellten bezeichnende Bewegung, ein bestimmtes Handeln, ein charakteristisch ein¬
greifendes Attribut, was alles dein modellmüßigen Bildnismaler des fünfzehnten
Jahrhunderts noch ganz fern lag. Auch die Umgebung des Dargestellten wird
durch den neuen Stil verändert, eine zu sehr ausgeführte Landschaft oder
Architektur würde das Bildnis beeinträchtigen, hier entspricht die Vereinfachung
der Formen und sogar der häufig ganz neutrale Hintergrund dem Gefühl der
Hochrenaissance. Endlich das Beiwerk soll nicht täuschend und mikroskopisch,
sondern zur Wirkung im ganzen gegeben werden: ein Pelzkragen Sebastianos
del Piombo hat nicht die Illusion der spätern Niederländer. Zu dem neuen
Bildnis haben, wenn wir Lionardo und Naffael vorweg nehmen, die Vene¬
zianer das meiste beigetragen, Sebastian», Lorenzo Lotto und ihr größter,
Tizian. Venedig und das Porträt gehören seit der Zeit zusammen. Tizian
wird ausführlich gewürdigt, das über ihn Gesagte gehört zu dem Aller-
schönsten in dem ganzen Buche. Seine Weltstellung beruhe lange nicht bloß
auf seinem malerischen Können, sondern auf der Auffassung seiner Leute, dem
„Mysterium der guten Stunde." Das in der neuern Kunstsprache mißbrauchte
Wort „vornehm" müsse bei ihm noch einmal seinen ganz unentbehrlichen Dienst
thun. Ein ganz neuer Typus des Distinguierten, ganz verschieden von dem
spätern Vornehmen des Vcmdyck und der Maler Ludwigs XIV., werde durch
ihn den Bildnissen gegeben. Die Leute werden wirksam dargestellt, aber nicht


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[0269] Jakob Burckhardts letztes ivort über die Renaissance besten Idealismus und Realismus, alles Ruhende und dramatisch Bewegte unter seine mächtige Obhut nimmt/' Nach diesen Vorbereitungen geht es an die Betrachtung der eigentlichen Porträts jenes „klassischen" Stils. Interessant ist schon die geographische Verteilung: Rom und Florenz bringen wenig, aber ausgezeichnetes hervor, Neapel scheint ganz ausgefallen zu sein, von Siena ist wenigstens heute kaum noch etwas nachweisbar, Genua lebte durchaus von fremden Kräften, Mailand und Verona bieten mancherlei, alles aber steht zurück hinter der Stadt Venedig und der ganzen Terra ferma von Friaul bis Ber¬ gamo, und wenn man bedenkt, daß dieses Gebiet „unter der Herrschaft des heiligen Markus vielleicht seine besten, wenigstens seine ruhigsten Zeiten erlebt hat, da die Familien auch in Gestalt der bildlichen Erinnerung ihr Wohl¬ ergehen aussprechen konnten, so schimmert uns ein Zustand entgegen beinahe wie der von Holland im siebzehnten Jahrhundert, da die Porträtmaler kaum zu zählen sind und ihre Werke als ein selbstverständliches Phänomen wirken." Unter den Ansdrncksmitteln des neuen Porträtstils steht obenan ein etwas größerer Maßstab, wenigstens die annähernde Lebensgröße, sodann daß noch etwas mehr als die Büste gegeben wird, zum mindesten meistens die Hände, bald auch Kniestück und ganze Figur. Ferner wird das reine Profil aufge¬ geben, und das Gesicht wirkt durch seine Formen größer als früher. Zu der bloßen Ähnlichkeit des Dargestellten kommt aber noch etwas lebendigeres, die Stunde der Darstellung, das Sprechende des Moments, die freiere Haltung im Sitzen oder Stehen, eine Wendung, eine Richtung, eine für den Darge¬ stellten bezeichnende Bewegung, ein bestimmtes Handeln, ein charakteristisch ein¬ greifendes Attribut, was alles dein modellmüßigen Bildnismaler des fünfzehnten Jahrhunderts noch ganz fern lag. Auch die Umgebung des Dargestellten wird durch den neuen Stil verändert, eine zu sehr ausgeführte Landschaft oder Architektur würde das Bildnis beeinträchtigen, hier entspricht die Vereinfachung der Formen und sogar der häufig ganz neutrale Hintergrund dem Gefühl der Hochrenaissance. Endlich das Beiwerk soll nicht täuschend und mikroskopisch, sondern zur Wirkung im ganzen gegeben werden: ein Pelzkragen Sebastianos del Piombo hat nicht die Illusion der spätern Niederländer. Zu dem neuen Bildnis haben, wenn wir Lionardo und Naffael vorweg nehmen, die Vene¬ zianer das meiste beigetragen, Sebastian», Lorenzo Lotto und ihr größter, Tizian. Venedig und das Porträt gehören seit der Zeit zusammen. Tizian wird ausführlich gewürdigt, das über ihn Gesagte gehört zu dem Aller- schönsten in dem ganzen Buche. Seine Weltstellung beruhe lange nicht bloß auf seinem malerischen Können, sondern auf der Auffassung seiner Leute, dem „Mysterium der guten Stunde." Das in der neuern Kunstsprache mißbrauchte Wort „vornehm" müsse bei ihm noch einmal seinen ganz unentbehrlichen Dienst thun. Ein ganz neuer Typus des Distinguierten, ganz verschieden von dem spätern Vornehmen des Vcmdyck und der Maler Ludwigs XIV., werde durch ihn den Bildnissen gegeben. Die Leute werden wirksam dargestellt, aber nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/269>, abgerufen am 28.09.2024.