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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Jakob Burckhardts letztes Wort über die Renaissance

sprechung aller jetzt untergegangnen Fresken nach Schriftquellen zum Zwecke
von Vildnisbestimmungen. Wer aber kann so anziehend die Sammlungen der
Mediceer in Florenz nur nach Inventuren oder den Hausbesitz der Venezianer
aus Büchern (Marcantonio Michiel, Sansovino, Ridolfi) schildern! Und aus
dem einen Vasari, der jetzt viel zu wenig gelesen werde, hat er selbst in der
That noch sehr viel neues herausgelesen! Anstatt der Beispiele, die der Leser
sich selbst suchen mag, gebe ich nur eine allgemeine, echt Burckhardtsche Be¬
merkung über Vasari. Während in Frankreich und Deutschland und sogar in
Holland so vieles Alte zu Grunde ging, weil es vor dem spätern Kunst¬
geschmack keine Gnade fand, blieb in Italien manches Herrliche seit dem drei¬
zehnten Jahrhundert "über die Zeiten des Manierismus und des Barocco
hinaus gewiß nur deshalb erhalten, weil durch einen enormen Glücksfall, der
auch hätte ausbleiben können, durch das Dasein und die weite Verbreitung
des Vasari jenen Werken wenigstens diejenige Beachtung gesichert war, welche
das ganz leichtfertige und hochmütige Wegschaffen und Zerstören hinderte."
Wenn ferner seit den ersten Tagen des Cicerone die Kunsthistoriker unter
den Anregungen der Gegenwart und im Verkehr mit gebildeten Künstlern mehr
auf das eigentlich Malerische in den alten Bildern und auf die technischen Ab¬
sichten der alten Darsteller achtgeben lernten, so sieht man jetzt aus diesem
Buche, daß schon alle diese Probleme recht eigentlich in Burckhardts Ge¬
danken gewohnt haben: die Tiefenwirkung, die Raumdarstellung durch Hinter¬
grund, durch ausgeführte Architektur, die später auf wesentliche Formen be¬
schränkt abnimmt, durch Ausblick auf Garten und Landschaft, endlich durch
freie Luft mit Wolkenhimmel.

An Sinnesänderungen in der Auffassung ganzer Erscheinungen ist mir
aufgefallen, daß die Vorliebe des Verfassers des Cicerone für Fra Bartolommeo
als den Hauptmaler des Gnadenbildes noch zugenommen hat, und zugleich
mit ihm ist auch Andrea del Sarto gewachsen. Am meisten aber hat Correggio
gewonnen, gegen den der junge Burckhardt recht herbe sein konnte. Jetzt heißt
es z. B. anläßlich der Frage, weshalb wir keine Bildnisse von ihm haben,
sogar übertrieben, daß "schon alle seine Altarbilder ein höchstes Vermögen der
individuellen Darstellung beweisen." Das "Attribuieren" einzelner Bilder
pflegte Burckhardt prinzipiell zu verspotten; für sein praktisches Verhalten
wird folgende kleine Liste von Interesse sein. Die Verkündigung der Uffizien
lehnt er für Lionardo ab, die Auferstehung Christi in Berlin dagegen
giebt er zu, ebenso die dem Pier ti Cosimo und Pinturicchio neuerdings zu-
gesprochnen Teile der Sixtinischen Fresken in Rom, ferner das Berliner Mnnner-
portrcit (Giorgione), die Dorothea in Berlin, die Fornarina der Tribuna, den
Violinspieler (alle Sebastians del Piombo), sodann das grüne Damenbildnis
des Städelschen Instituts (Dosso Dossi) und den Goldschmied des Palazzo Pitti
(Franciabigio), endlich bleiben ganz unangefochten Correggios Magdalena in


Jakob Burckhardts letztes Wort über die Renaissance

sprechung aller jetzt untergegangnen Fresken nach Schriftquellen zum Zwecke
von Vildnisbestimmungen. Wer aber kann so anziehend die Sammlungen der
Mediceer in Florenz nur nach Inventuren oder den Hausbesitz der Venezianer
aus Büchern (Marcantonio Michiel, Sansovino, Ridolfi) schildern! Und aus
dem einen Vasari, der jetzt viel zu wenig gelesen werde, hat er selbst in der
That noch sehr viel neues herausgelesen! Anstatt der Beispiele, die der Leser
sich selbst suchen mag, gebe ich nur eine allgemeine, echt Burckhardtsche Be¬
merkung über Vasari. Während in Frankreich und Deutschland und sogar in
Holland so vieles Alte zu Grunde ging, weil es vor dem spätern Kunst¬
geschmack keine Gnade fand, blieb in Italien manches Herrliche seit dem drei¬
zehnten Jahrhundert „über die Zeiten des Manierismus und des Barocco
hinaus gewiß nur deshalb erhalten, weil durch einen enormen Glücksfall, der
auch hätte ausbleiben können, durch das Dasein und die weite Verbreitung
des Vasari jenen Werken wenigstens diejenige Beachtung gesichert war, welche
das ganz leichtfertige und hochmütige Wegschaffen und Zerstören hinderte."
Wenn ferner seit den ersten Tagen des Cicerone die Kunsthistoriker unter
den Anregungen der Gegenwart und im Verkehr mit gebildeten Künstlern mehr
auf das eigentlich Malerische in den alten Bildern und auf die technischen Ab¬
sichten der alten Darsteller achtgeben lernten, so sieht man jetzt aus diesem
Buche, daß schon alle diese Probleme recht eigentlich in Burckhardts Ge¬
danken gewohnt haben: die Tiefenwirkung, die Raumdarstellung durch Hinter¬
grund, durch ausgeführte Architektur, die später auf wesentliche Formen be¬
schränkt abnimmt, durch Ausblick auf Garten und Landschaft, endlich durch
freie Luft mit Wolkenhimmel.

An Sinnesänderungen in der Auffassung ganzer Erscheinungen ist mir
aufgefallen, daß die Vorliebe des Verfassers des Cicerone für Fra Bartolommeo
als den Hauptmaler des Gnadenbildes noch zugenommen hat, und zugleich
mit ihm ist auch Andrea del Sarto gewachsen. Am meisten aber hat Correggio
gewonnen, gegen den der junge Burckhardt recht herbe sein konnte. Jetzt heißt
es z. B. anläßlich der Frage, weshalb wir keine Bildnisse von ihm haben,
sogar übertrieben, daß „schon alle seine Altarbilder ein höchstes Vermögen der
individuellen Darstellung beweisen." Das „Attribuieren" einzelner Bilder
pflegte Burckhardt prinzipiell zu verspotten; für sein praktisches Verhalten
wird folgende kleine Liste von Interesse sein. Die Verkündigung der Uffizien
lehnt er für Lionardo ab, die Auferstehung Christi in Berlin dagegen
giebt er zu, ebenso die dem Pier ti Cosimo und Pinturicchio neuerdings zu-
gesprochnen Teile der Sixtinischen Fresken in Rom, ferner das Berliner Mnnner-
portrcit (Giorgione), die Dorothea in Berlin, die Fornarina der Tribuna, den
Violinspieler (alle Sebastians del Piombo), sodann das grüne Damenbildnis
des Städelschen Instituts (Dosso Dossi) und den Goldschmied des Palazzo Pitti
(Franciabigio), endlich bleiben ganz unangefochten Correggios Magdalena in


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[0263] Jakob Burckhardts letztes Wort über die Renaissance sprechung aller jetzt untergegangnen Fresken nach Schriftquellen zum Zwecke von Vildnisbestimmungen. Wer aber kann so anziehend die Sammlungen der Mediceer in Florenz nur nach Inventuren oder den Hausbesitz der Venezianer aus Büchern (Marcantonio Michiel, Sansovino, Ridolfi) schildern! Und aus dem einen Vasari, der jetzt viel zu wenig gelesen werde, hat er selbst in der That noch sehr viel neues herausgelesen! Anstatt der Beispiele, die der Leser sich selbst suchen mag, gebe ich nur eine allgemeine, echt Burckhardtsche Be¬ merkung über Vasari. Während in Frankreich und Deutschland und sogar in Holland so vieles Alte zu Grunde ging, weil es vor dem spätern Kunst¬ geschmack keine Gnade fand, blieb in Italien manches Herrliche seit dem drei¬ zehnten Jahrhundert „über die Zeiten des Manierismus und des Barocco hinaus gewiß nur deshalb erhalten, weil durch einen enormen Glücksfall, der auch hätte ausbleiben können, durch das Dasein und die weite Verbreitung des Vasari jenen Werken wenigstens diejenige Beachtung gesichert war, welche das ganz leichtfertige und hochmütige Wegschaffen und Zerstören hinderte." Wenn ferner seit den ersten Tagen des Cicerone die Kunsthistoriker unter den Anregungen der Gegenwart und im Verkehr mit gebildeten Künstlern mehr auf das eigentlich Malerische in den alten Bildern und auf die technischen Ab¬ sichten der alten Darsteller achtgeben lernten, so sieht man jetzt aus diesem Buche, daß schon alle diese Probleme recht eigentlich in Burckhardts Ge¬ danken gewohnt haben: die Tiefenwirkung, die Raumdarstellung durch Hinter¬ grund, durch ausgeführte Architektur, die später auf wesentliche Formen be¬ schränkt abnimmt, durch Ausblick auf Garten und Landschaft, endlich durch freie Luft mit Wolkenhimmel. An Sinnesänderungen in der Auffassung ganzer Erscheinungen ist mir aufgefallen, daß die Vorliebe des Verfassers des Cicerone für Fra Bartolommeo als den Hauptmaler des Gnadenbildes noch zugenommen hat, und zugleich mit ihm ist auch Andrea del Sarto gewachsen. Am meisten aber hat Correggio gewonnen, gegen den der junge Burckhardt recht herbe sein konnte. Jetzt heißt es z. B. anläßlich der Frage, weshalb wir keine Bildnisse von ihm haben, sogar übertrieben, daß „schon alle seine Altarbilder ein höchstes Vermögen der individuellen Darstellung beweisen." Das „Attribuieren" einzelner Bilder pflegte Burckhardt prinzipiell zu verspotten; für sein praktisches Verhalten wird folgende kleine Liste von Interesse sein. Die Verkündigung der Uffizien lehnt er für Lionardo ab, die Auferstehung Christi in Berlin dagegen giebt er zu, ebenso die dem Pier ti Cosimo und Pinturicchio neuerdings zu- gesprochnen Teile der Sixtinischen Fresken in Rom, ferner das Berliner Mnnner- portrcit (Giorgione), die Dorothea in Berlin, die Fornarina der Tribuna, den Violinspieler (alle Sebastians del Piombo), sodann das grüne Damenbildnis des Städelschen Instituts (Dosso Dossi) und den Goldschmied des Palazzo Pitti (Franciabigio), endlich bleiben ganz unangefochten Correggios Magdalena in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/263>, abgerufen am 28.09.2024.