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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Der Römerstaat

Das ist zwar nicht in allen Einzelheiten") aber doch im ganzen richtig.
Dennoch folgt daraus nicht, daß die Religionen der Alten ohne ethischen In¬
halt gewesen wären, und außerdem fragt es sich, ob es anders sein konnte,
ob es anders sein mußte und sollte, und ob das Christentum eine wesentliche
Änderung gegen früher hervorgebracht hat. Beantworten wir die drei Fragen
- auf die erste gehn wir noch genauer ein -- vorläufig ganz kurz! Der
ethische Inhalt ruhte im Volksgemüt, nicht in den Büchern oder Einrichtungen
einer Religionsgesellschaft; da aber der Volksgeist ethisch gerichtet war, so war
auch die Religion ethisch, indem man die Gottheit keineswegs bloß durch Unter¬
lassung von Opfern und durch rituelle Verfehlungen, sondern auch durch sitt¬
liche Frevel zu erzürnen glaubte. Eine allgemeine religiöse Veranstaltung zur
Verkündigung eines Sittenkodex und zur Besserung der Sitten war bei der
Absonderung der Völker des Altertums nicht möglich und wurde erst im rö¬
mischen Reiche und dnrch dieses möglich; die christliche Kirche konnte also nicht
früher gestiftet werden, als sie thatsächlich gestiftet worden ist, in der "Fülle
der Zeiten." Es mußte und sollte auch nicht anders sein, und man darf es
nicht bedauern, daß es nicht anders gewesen ist, als es sein konnte, denn die
Staatseinrichtungen der Alten, zu denen die Religion gehörte, haben den Zweck,
den man in solchen Dingen vernünftigerweise setzen kann, vollständig erfüllt. Die
christliche Kirche endlich war zwar eine geschichtliche Notwendigkeit, weil für
die Gebildeten der Polytheismus als Kult ein für allemal unmöglich geworden
war, und weil die Zeit der gesonderten Völkerentwicklung ein für allemal
vorüber, eine Kulturwelt hergestellt war, die eine gemeinsame Idealwelt besaß
und zur Bewahrung dieser Idealwelt einer Körperschaft bedürfte, die sie durch
alle politischen Wandlungen, vorübergehende Zusammenbruche und Verwüstungen
hindurchzuretten vermochte. Zu diesem Zwecke mußte die Religion aus der
bisherigen Einheit mit dem Staate gelöst, und mußte ihr die Pflege der
Moral übergeben werden, die bis dahin Staatssache gewesen war. Den Ruhm,
diese Aufgabe erfüllt zu haben, kann der christlichen Kirche auch niemand streitig
machen. Etwas andres aber ist die Frage, ob die Kirche mit ihrer Thätigkeit
die Völker auf eine höhere Stufe der Moralität gehoben hat, als die war, auf
der die alten Römer gestanden haben, und ob von all den schönen Sachen,
die man über die Erlösung und Heiligung, den Wandel vor Gott u. dergl.
liest, im Leben was zu spüren ist. Bei wenigen Einzelnen schon, beim Volke
-- dieses Wort in seiner weitesten Bedeutung genommen -- im ganzen gar
nicht. Weltlicher, selbstsüchtiger, kleinlicher, in eitle nichtige Sorgen verstrickter,
in Laster versunkner als wir Heutigen sind die Alten in der Zeit ihrer Kraft
und Blüte auch nicht gewesen. Die Lawräg-y Rsviow hat das letzte Weihnachts¬
fest mit einem Artikel gefeiert, dessen erster Teil das Christentum geradezu als



") Ist z, B> das- wsviviiun K vobis xroliiostot-o des Delphischen Apollo (Livius W, 11)
keine Moralvorschrift?
Der Römerstaat

Das ist zwar nicht in allen Einzelheiten") aber doch im ganzen richtig.
Dennoch folgt daraus nicht, daß die Religionen der Alten ohne ethischen In¬
halt gewesen wären, und außerdem fragt es sich, ob es anders sein konnte,
ob es anders sein mußte und sollte, und ob das Christentum eine wesentliche
Änderung gegen früher hervorgebracht hat. Beantworten wir die drei Fragen
- auf die erste gehn wir noch genauer ein — vorläufig ganz kurz! Der
ethische Inhalt ruhte im Volksgemüt, nicht in den Büchern oder Einrichtungen
einer Religionsgesellschaft; da aber der Volksgeist ethisch gerichtet war, so war
auch die Religion ethisch, indem man die Gottheit keineswegs bloß durch Unter¬
lassung von Opfern und durch rituelle Verfehlungen, sondern auch durch sitt¬
liche Frevel zu erzürnen glaubte. Eine allgemeine religiöse Veranstaltung zur
Verkündigung eines Sittenkodex und zur Besserung der Sitten war bei der
Absonderung der Völker des Altertums nicht möglich und wurde erst im rö¬
mischen Reiche und dnrch dieses möglich; die christliche Kirche konnte also nicht
früher gestiftet werden, als sie thatsächlich gestiftet worden ist, in der „Fülle
der Zeiten." Es mußte und sollte auch nicht anders sein, und man darf es
nicht bedauern, daß es nicht anders gewesen ist, als es sein konnte, denn die
Staatseinrichtungen der Alten, zu denen die Religion gehörte, haben den Zweck,
den man in solchen Dingen vernünftigerweise setzen kann, vollständig erfüllt. Die
christliche Kirche endlich war zwar eine geschichtliche Notwendigkeit, weil für
die Gebildeten der Polytheismus als Kult ein für allemal unmöglich geworden
war, und weil die Zeit der gesonderten Völkerentwicklung ein für allemal
vorüber, eine Kulturwelt hergestellt war, die eine gemeinsame Idealwelt besaß
und zur Bewahrung dieser Idealwelt einer Körperschaft bedürfte, die sie durch
alle politischen Wandlungen, vorübergehende Zusammenbruche und Verwüstungen
hindurchzuretten vermochte. Zu diesem Zwecke mußte die Religion aus der
bisherigen Einheit mit dem Staate gelöst, und mußte ihr die Pflege der
Moral übergeben werden, die bis dahin Staatssache gewesen war. Den Ruhm,
diese Aufgabe erfüllt zu haben, kann der christlichen Kirche auch niemand streitig
machen. Etwas andres aber ist die Frage, ob die Kirche mit ihrer Thätigkeit
die Völker auf eine höhere Stufe der Moralität gehoben hat, als die war, auf
der die alten Römer gestanden haben, und ob von all den schönen Sachen,
die man über die Erlösung und Heiligung, den Wandel vor Gott u. dergl.
liest, im Leben was zu spüren ist. Bei wenigen Einzelnen schon, beim Volke
— dieses Wort in seiner weitesten Bedeutung genommen — im ganzen gar
nicht. Weltlicher, selbstsüchtiger, kleinlicher, in eitle nichtige Sorgen verstrickter,
in Laster versunkner als wir Heutigen sind die Alten in der Zeit ihrer Kraft
und Blüte auch nicht gewesen. Die Lawräg-y Rsviow hat das letzte Weihnachts¬
fest mit einem Artikel gefeiert, dessen erster Teil das Christentum geradezu als



») Ist z, B> das- wsviviiun K vobis xroliiostot-o des Delphischen Apollo (Livius W, 11)
keine Moralvorschrift?
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[0259] Der Römerstaat Das ist zwar nicht in allen Einzelheiten") aber doch im ganzen richtig. Dennoch folgt daraus nicht, daß die Religionen der Alten ohne ethischen In¬ halt gewesen wären, und außerdem fragt es sich, ob es anders sein konnte, ob es anders sein mußte und sollte, und ob das Christentum eine wesentliche Änderung gegen früher hervorgebracht hat. Beantworten wir die drei Fragen - auf die erste gehn wir noch genauer ein — vorläufig ganz kurz! Der ethische Inhalt ruhte im Volksgemüt, nicht in den Büchern oder Einrichtungen einer Religionsgesellschaft; da aber der Volksgeist ethisch gerichtet war, so war auch die Religion ethisch, indem man die Gottheit keineswegs bloß durch Unter¬ lassung von Opfern und durch rituelle Verfehlungen, sondern auch durch sitt¬ liche Frevel zu erzürnen glaubte. Eine allgemeine religiöse Veranstaltung zur Verkündigung eines Sittenkodex und zur Besserung der Sitten war bei der Absonderung der Völker des Altertums nicht möglich und wurde erst im rö¬ mischen Reiche und dnrch dieses möglich; die christliche Kirche konnte also nicht früher gestiftet werden, als sie thatsächlich gestiftet worden ist, in der „Fülle der Zeiten." Es mußte und sollte auch nicht anders sein, und man darf es nicht bedauern, daß es nicht anders gewesen ist, als es sein konnte, denn die Staatseinrichtungen der Alten, zu denen die Religion gehörte, haben den Zweck, den man in solchen Dingen vernünftigerweise setzen kann, vollständig erfüllt. Die christliche Kirche endlich war zwar eine geschichtliche Notwendigkeit, weil für die Gebildeten der Polytheismus als Kult ein für allemal unmöglich geworden war, und weil die Zeit der gesonderten Völkerentwicklung ein für allemal vorüber, eine Kulturwelt hergestellt war, die eine gemeinsame Idealwelt besaß und zur Bewahrung dieser Idealwelt einer Körperschaft bedürfte, die sie durch alle politischen Wandlungen, vorübergehende Zusammenbruche und Verwüstungen hindurchzuretten vermochte. Zu diesem Zwecke mußte die Religion aus der bisherigen Einheit mit dem Staate gelöst, und mußte ihr die Pflege der Moral übergeben werden, die bis dahin Staatssache gewesen war. Den Ruhm, diese Aufgabe erfüllt zu haben, kann der christlichen Kirche auch niemand streitig machen. Etwas andres aber ist die Frage, ob die Kirche mit ihrer Thätigkeit die Völker auf eine höhere Stufe der Moralität gehoben hat, als die war, auf der die alten Römer gestanden haben, und ob von all den schönen Sachen, die man über die Erlösung und Heiligung, den Wandel vor Gott u. dergl. liest, im Leben was zu spüren ist. Bei wenigen Einzelnen schon, beim Volke — dieses Wort in seiner weitesten Bedeutung genommen — im ganzen gar nicht. Weltlicher, selbstsüchtiger, kleinlicher, in eitle nichtige Sorgen verstrickter, in Laster versunkner als wir Heutigen sind die Alten in der Zeit ihrer Kraft und Blüte auch nicht gewesen. Die Lawräg-y Rsviow hat das letzte Weihnachts¬ fest mit einem Artikel gefeiert, dessen erster Teil das Christentum geradezu als ») Ist z, B> das- wsviviiun K vobis xroliiostot-o des Delphischen Apollo (Livius W, 11) keine Moralvorschrift?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/259>, abgerufen am 28.09.2024.