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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Der Römerstaat

Überschwemmung aus, ist der Himmel wolkenleer, bebt die Erde, wütet eine
Seuche oder eine Hungersnot, sofort schreit der Pöbel: Die Christen vor die
Löwen! Diese Vorwürfe wurden zu der Zeit, da das innerlich morsche Reich
dem Ansturm der Barbaren zu unterliegen begann, von der immer noch ein¬
flußreichen Heidenpartei mit verdoppelter Stärke erhoben, besonders aber nach
der Einnahme und Plünderung Roms durch Alarichs Goten im Jahre 410. Die
damals gegen die christliche Religion erhobnen Anklagen waren es eben, die
Augustinus zur Abfassung des genannten Werkes bewogen. Und dem da¬
maligen Heidentum gegenüber hatte er ja insofern recht, als es nur noch ein
wüster, sittenverderbender Aberglaube war. Die alte römische Staatsreligion
bestand eben gar nicht mehr, seitdem, wie Juvenal klagt, der syrische Orontes
sein Wasser in den Tiber ergossen hatte. Der freilich sehr entschuldbare Irr¬
tum des Augustinus bestand darin, daß er die echt römische Religion von dem
Mischmaschaberglauben der spätern Zeit nicht zu unterscheiden vermochte, und
daß er den Spieß umkehren, die Leiden der Völker auf den Götzendienst zurück¬
führen zu dürfen glaubte, während uns eine anderthalbtausendjährige Er¬
fahrung gelehrt hat, daß das Christentum vor Leiden so wenig wie vor
Lastern schützt.

Eine andre Meinung Augustins, die von allen christlichen Theologen ge¬
teilt und namentlich von Döllinger nachdrücklich hervorgehoben wird, ist zwar
nicht geradezu falsch, aber nur halbe und schief ausgedrückte Wahrheit: die
heidnische Religion sei keine Veranstaltung zur Besserung der Sitten, vsos
pa^anorunr rirmczMm dens vivoväi Lg-uxissö äocitrinam, lautet die Überschrift
des sechsten Kapitels des zweiten Buches. Und Döllinger schreibt: "Der Be¬
griff der göttlichen Heiligkeit war, wenn wir von den Ahnungen einiger Philo¬
sophen absehen, den Alten im Leben und im Verkehr mit den Göttern völlig
fremd; sie kannten daher auch nicht die wahre, eben in dieser Heiligkeit ge¬
gründete Furcht Gottes, sondern nur ein Zerrbild davon: Angst vor der Macht
launenhafter tyrannischer Wesen, deren Gunst durch nichts andres als durch
stete Opfer und genauste Beobachtung von Zeremonien gewonnen und bewahrt
werden kann, durch eine zahllose Menge möglicher Versehen und Unterlassungen
verscherzt und in Zorn umgewandelt wird" (a. a. O. S. 618).^) "In den
Gebeten trug man nicht etwa seinen Seelenzustand der Gottheit vor; die Ge¬
danken, die innern Willensrichtungen des Menschen gingen die Gottheit nicht
näher an, sie kümmerte sich nicht darum; viele meinten auch, die Götter
wüßten nichts davon; ja die Vorstellung einer wahrhaft allwissenden Gottheit
hatte für viele etwas Furchtbares,^) sie konnten es nicht ertragen, daß sie nicht
mehr allein sein sollten mit ihren Gedanken und Wünschen" (S. 633). "Nie
dachte man daran, ethische Güter von der Gottheit zu erbitten" (S. 635).




') Genau dasselbe, was die Protestanten den Katholiken vorzuwerfen pflegen.
Heute etwa nichts
Der Römerstaat

Überschwemmung aus, ist der Himmel wolkenleer, bebt die Erde, wütet eine
Seuche oder eine Hungersnot, sofort schreit der Pöbel: Die Christen vor die
Löwen! Diese Vorwürfe wurden zu der Zeit, da das innerlich morsche Reich
dem Ansturm der Barbaren zu unterliegen begann, von der immer noch ein¬
flußreichen Heidenpartei mit verdoppelter Stärke erhoben, besonders aber nach
der Einnahme und Plünderung Roms durch Alarichs Goten im Jahre 410. Die
damals gegen die christliche Religion erhobnen Anklagen waren es eben, die
Augustinus zur Abfassung des genannten Werkes bewogen. Und dem da¬
maligen Heidentum gegenüber hatte er ja insofern recht, als es nur noch ein
wüster, sittenverderbender Aberglaube war. Die alte römische Staatsreligion
bestand eben gar nicht mehr, seitdem, wie Juvenal klagt, der syrische Orontes
sein Wasser in den Tiber ergossen hatte. Der freilich sehr entschuldbare Irr¬
tum des Augustinus bestand darin, daß er die echt römische Religion von dem
Mischmaschaberglauben der spätern Zeit nicht zu unterscheiden vermochte, und
daß er den Spieß umkehren, die Leiden der Völker auf den Götzendienst zurück¬
führen zu dürfen glaubte, während uns eine anderthalbtausendjährige Er¬
fahrung gelehrt hat, daß das Christentum vor Leiden so wenig wie vor
Lastern schützt.

Eine andre Meinung Augustins, die von allen christlichen Theologen ge¬
teilt und namentlich von Döllinger nachdrücklich hervorgehoben wird, ist zwar
nicht geradezu falsch, aber nur halbe und schief ausgedrückte Wahrheit: die
heidnische Religion sei keine Veranstaltung zur Besserung der Sitten, vsos
pa^anorunr rirmczMm dens vivoväi Lg-uxissö äocitrinam, lautet die Überschrift
des sechsten Kapitels des zweiten Buches. Und Döllinger schreibt: „Der Be¬
griff der göttlichen Heiligkeit war, wenn wir von den Ahnungen einiger Philo¬
sophen absehen, den Alten im Leben und im Verkehr mit den Göttern völlig
fremd; sie kannten daher auch nicht die wahre, eben in dieser Heiligkeit ge¬
gründete Furcht Gottes, sondern nur ein Zerrbild davon: Angst vor der Macht
launenhafter tyrannischer Wesen, deren Gunst durch nichts andres als durch
stete Opfer und genauste Beobachtung von Zeremonien gewonnen und bewahrt
werden kann, durch eine zahllose Menge möglicher Versehen und Unterlassungen
verscherzt und in Zorn umgewandelt wird" (a. a. O. S. 618).^) „In den
Gebeten trug man nicht etwa seinen Seelenzustand der Gottheit vor; die Ge¬
danken, die innern Willensrichtungen des Menschen gingen die Gottheit nicht
näher an, sie kümmerte sich nicht darum; viele meinten auch, die Götter
wüßten nichts davon; ja die Vorstellung einer wahrhaft allwissenden Gottheit
hatte für viele etwas Furchtbares,^) sie konnten es nicht ertragen, daß sie nicht
mehr allein sein sollten mit ihren Gedanken und Wünschen" (S. 633). „Nie
dachte man daran, ethische Güter von der Gottheit zu erbitten" (S. 635).




') Genau dasselbe, was die Protestanten den Katholiken vorzuwerfen pflegen.
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[0258] Der Römerstaat Überschwemmung aus, ist der Himmel wolkenleer, bebt die Erde, wütet eine Seuche oder eine Hungersnot, sofort schreit der Pöbel: Die Christen vor die Löwen! Diese Vorwürfe wurden zu der Zeit, da das innerlich morsche Reich dem Ansturm der Barbaren zu unterliegen begann, von der immer noch ein¬ flußreichen Heidenpartei mit verdoppelter Stärke erhoben, besonders aber nach der Einnahme und Plünderung Roms durch Alarichs Goten im Jahre 410. Die damals gegen die christliche Religion erhobnen Anklagen waren es eben, die Augustinus zur Abfassung des genannten Werkes bewogen. Und dem da¬ maligen Heidentum gegenüber hatte er ja insofern recht, als es nur noch ein wüster, sittenverderbender Aberglaube war. Die alte römische Staatsreligion bestand eben gar nicht mehr, seitdem, wie Juvenal klagt, der syrische Orontes sein Wasser in den Tiber ergossen hatte. Der freilich sehr entschuldbare Irr¬ tum des Augustinus bestand darin, daß er die echt römische Religion von dem Mischmaschaberglauben der spätern Zeit nicht zu unterscheiden vermochte, und daß er den Spieß umkehren, die Leiden der Völker auf den Götzendienst zurück¬ führen zu dürfen glaubte, während uns eine anderthalbtausendjährige Er¬ fahrung gelehrt hat, daß das Christentum vor Leiden so wenig wie vor Lastern schützt. Eine andre Meinung Augustins, die von allen christlichen Theologen ge¬ teilt und namentlich von Döllinger nachdrücklich hervorgehoben wird, ist zwar nicht geradezu falsch, aber nur halbe und schief ausgedrückte Wahrheit: die heidnische Religion sei keine Veranstaltung zur Besserung der Sitten, vsos pa^anorunr rirmczMm dens vivoväi Lg-uxissö äocitrinam, lautet die Überschrift des sechsten Kapitels des zweiten Buches. Und Döllinger schreibt: „Der Be¬ griff der göttlichen Heiligkeit war, wenn wir von den Ahnungen einiger Philo¬ sophen absehen, den Alten im Leben und im Verkehr mit den Göttern völlig fremd; sie kannten daher auch nicht die wahre, eben in dieser Heiligkeit ge¬ gründete Furcht Gottes, sondern nur ein Zerrbild davon: Angst vor der Macht launenhafter tyrannischer Wesen, deren Gunst durch nichts andres als durch stete Opfer und genauste Beobachtung von Zeremonien gewonnen und bewahrt werden kann, durch eine zahllose Menge möglicher Versehen und Unterlassungen verscherzt und in Zorn umgewandelt wird" (a. a. O. S. 618).^) „In den Gebeten trug man nicht etwa seinen Seelenzustand der Gottheit vor; die Ge¬ danken, die innern Willensrichtungen des Menschen gingen die Gottheit nicht näher an, sie kümmerte sich nicht darum; viele meinten auch, die Götter wüßten nichts davon; ja die Vorstellung einer wahrhaft allwissenden Gottheit hatte für viele etwas Furchtbares,^) sie konnten es nicht ertragen, daß sie nicht mehr allein sein sollten mit ihren Gedanken und Wünschen" (S. 633). „Nie dachte man daran, ethische Güter von der Gottheit zu erbitten" (S. 635). ') Genau dasselbe, was die Protestanten den Katholiken vorzuwerfen pflegen. Heute etwa nichts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/258>, abgerufen am 28.09.2024.