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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Die Reformfähigkeit der Türkei

läßt sich die Antwort des Ministers Münchhausen: "sein Kopf, aber nicht sein
Gewissen stehe dem Könige jederzeit zu Befehl" ruhig gefallen. Im Jahre 1772
verfügt der König: "Wir geben keine Entscheidungen, so die Kraft einer richter¬
lichen Tendenz haben." Stölzel*) bemerkt mit Recht hierzu: "Es war ein ge¬
waltiger Akt, diese Selbstentüußernng eines der bedeutungsvollsten Hoheitsrechte
der Krone; nur wer sich völlig in die Zeiten Friedrich Wilhelms I. und Fried¬
richs des Großen zu versetzen imstande ist, vermag das Opfer zu würdigen,
das der König im Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Weisheit seiner Gerichte
den Anschauungen der vorgeschrittensten Geister der Zeit brachte."

Die Stein-Hardenbergischen Reformen in Preußen und die Gewährung
der Verfassung 1848 kann man nicht freiwillige nennen; auch sie waren durch
die äußere und innere Not erzwungen worden. Über Osterreich beschränken
wir uns aus bundesfreundlicher Rücksicht auf die Bemerkung, daß gegenwärtig
der Mdiz-Kiosk zum osmanischen Reiche eine ähnliche Stellung einnimmt
wie die Hofburg zum Deutschen Reiche vou Ferdinand II. bis zu Karl VI.
Die Einführung der süddeutschen Verfassungen nach dem Wiener Kongreß be¬
ruhte zu sehr auf besondern, aus der eigentümlichen Lage dieser Regierungen
sich ergebenden Verhältnissen, als daß sie hier wesentlich ins Gewicht fallen
könnten. Wir folgern aus den Lehren der Geschichte, daß auch das Sultanat
niemals freiwillig seine Macht einschränken wird, und zu einer gewaltsamen
Einschränkung durch das eigne Volk halten wir dieses sür nicht stark genug
und das Papstkönigtum für zu mächtig. Es kommt dazu, daß von den zwei
Millionen Türken, die auf der Balkanhalbinsel etwa vor zwanzig Jahren
wohnten, mehr als die Hälfte nach dem letzten russischen Kriege nach Klein¬
asien ausgewandert ist.

So bleibt also nur das Geständnis übrig, daß sich bei den entgegen¬
gesetzten Interessen und Ansprüchen der verschiednen Völker der Balkanhalb¬
insel, der Griechen, Bulgaren, Serben, Montenegriner, Türken, Armenier und
Juden kein bestimmter, mit Bewußtsein anzustrebender Zukunftsplan aufstellen
läßt, wie das Herr von Bülow ja auch kürzlich im Reichstag in einer
der ihm eignen hübschen Umschreibungen zugestanden hat. Dem drohenden
Ausbruch des Kampfes aller gegen alle ist das türkische Regiment mit allen
seinen Fehlern immer noch vorzuziehen, zumal wenn man berücksichtigt, wie
leicht ein solcher Kampf auch die angrenzenden Großmächte in seine Wogen
hineinziehen kann. Da wo die Übelstände das Maß des Erträglichen über¬
steigen, wird in möglichst eng gehaltnen Grenzen eine Korrektur vorgenommen,
die im ganzen immer Ähnlichkeit mit den sich stetig erneuernden Jndianer-
"Verträgen" der Vereinigten Staaten haben wird.

Innerhalb räumlich beschränkter Gebiete und bei allmählichen Übergängen



Fünfzehn Vortrüge aus der brnndenburgisch-preußischen Rechts- und Staatsgeschichte,
Die Reformfähigkeit der Türkei

läßt sich die Antwort des Ministers Münchhausen: „sein Kopf, aber nicht sein
Gewissen stehe dem Könige jederzeit zu Befehl" ruhig gefallen. Im Jahre 1772
verfügt der König: „Wir geben keine Entscheidungen, so die Kraft einer richter¬
lichen Tendenz haben." Stölzel*) bemerkt mit Recht hierzu: „Es war ein ge¬
waltiger Akt, diese Selbstentüußernng eines der bedeutungsvollsten Hoheitsrechte
der Krone; nur wer sich völlig in die Zeiten Friedrich Wilhelms I. und Fried¬
richs des Großen zu versetzen imstande ist, vermag das Opfer zu würdigen,
das der König im Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Weisheit seiner Gerichte
den Anschauungen der vorgeschrittensten Geister der Zeit brachte."

Die Stein-Hardenbergischen Reformen in Preußen und die Gewährung
der Verfassung 1848 kann man nicht freiwillige nennen; auch sie waren durch
die äußere und innere Not erzwungen worden. Über Osterreich beschränken
wir uns aus bundesfreundlicher Rücksicht auf die Bemerkung, daß gegenwärtig
der Mdiz-Kiosk zum osmanischen Reiche eine ähnliche Stellung einnimmt
wie die Hofburg zum Deutschen Reiche vou Ferdinand II. bis zu Karl VI.
Die Einführung der süddeutschen Verfassungen nach dem Wiener Kongreß be¬
ruhte zu sehr auf besondern, aus der eigentümlichen Lage dieser Regierungen
sich ergebenden Verhältnissen, als daß sie hier wesentlich ins Gewicht fallen
könnten. Wir folgern aus den Lehren der Geschichte, daß auch das Sultanat
niemals freiwillig seine Macht einschränken wird, und zu einer gewaltsamen
Einschränkung durch das eigne Volk halten wir dieses sür nicht stark genug
und das Papstkönigtum für zu mächtig. Es kommt dazu, daß von den zwei
Millionen Türken, die auf der Balkanhalbinsel etwa vor zwanzig Jahren
wohnten, mehr als die Hälfte nach dem letzten russischen Kriege nach Klein¬
asien ausgewandert ist.

So bleibt also nur das Geständnis übrig, daß sich bei den entgegen¬
gesetzten Interessen und Ansprüchen der verschiednen Völker der Balkanhalb¬
insel, der Griechen, Bulgaren, Serben, Montenegriner, Türken, Armenier und
Juden kein bestimmter, mit Bewußtsein anzustrebender Zukunftsplan aufstellen
läßt, wie das Herr von Bülow ja auch kürzlich im Reichstag in einer
der ihm eignen hübschen Umschreibungen zugestanden hat. Dem drohenden
Ausbruch des Kampfes aller gegen alle ist das türkische Regiment mit allen
seinen Fehlern immer noch vorzuziehen, zumal wenn man berücksichtigt, wie
leicht ein solcher Kampf auch die angrenzenden Großmächte in seine Wogen
hineinziehen kann. Da wo die Übelstände das Maß des Erträglichen über¬
steigen, wird in möglichst eng gehaltnen Grenzen eine Korrektur vorgenommen,
die im ganzen immer Ähnlichkeit mit den sich stetig erneuernden Jndianer-
„Verträgen" der Vereinigten Staaten haben wird.

Innerhalb räumlich beschränkter Gebiete und bei allmählichen Übergängen



Fünfzehn Vortrüge aus der brnndenburgisch-preußischen Rechts- und Staatsgeschichte,
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[0236] Die Reformfähigkeit der Türkei läßt sich die Antwort des Ministers Münchhausen: „sein Kopf, aber nicht sein Gewissen stehe dem Könige jederzeit zu Befehl" ruhig gefallen. Im Jahre 1772 verfügt der König: „Wir geben keine Entscheidungen, so die Kraft einer richter¬ lichen Tendenz haben." Stölzel*) bemerkt mit Recht hierzu: „Es war ein ge¬ waltiger Akt, diese Selbstentüußernng eines der bedeutungsvollsten Hoheitsrechte der Krone; nur wer sich völlig in die Zeiten Friedrich Wilhelms I. und Fried¬ richs des Großen zu versetzen imstande ist, vermag das Opfer zu würdigen, das der König im Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Weisheit seiner Gerichte den Anschauungen der vorgeschrittensten Geister der Zeit brachte." Die Stein-Hardenbergischen Reformen in Preußen und die Gewährung der Verfassung 1848 kann man nicht freiwillige nennen; auch sie waren durch die äußere und innere Not erzwungen worden. Über Osterreich beschränken wir uns aus bundesfreundlicher Rücksicht auf die Bemerkung, daß gegenwärtig der Mdiz-Kiosk zum osmanischen Reiche eine ähnliche Stellung einnimmt wie die Hofburg zum Deutschen Reiche vou Ferdinand II. bis zu Karl VI. Die Einführung der süddeutschen Verfassungen nach dem Wiener Kongreß be¬ ruhte zu sehr auf besondern, aus der eigentümlichen Lage dieser Regierungen sich ergebenden Verhältnissen, als daß sie hier wesentlich ins Gewicht fallen könnten. Wir folgern aus den Lehren der Geschichte, daß auch das Sultanat niemals freiwillig seine Macht einschränken wird, und zu einer gewaltsamen Einschränkung durch das eigne Volk halten wir dieses sür nicht stark genug und das Papstkönigtum für zu mächtig. Es kommt dazu, daß von den zwei Millionen Türken, die auf der Balkanhalbinsel etwa vor zwanzig Jahren wohnten, mehr als die Hälfte nach dem letzten russischen Kriege nach Klein¬ asien ausgewandert ist. So bleibt also nur das Geständnis übrig, daß sich bei den entgegen¬ gesetzten Interessen und Ansprüchen der verschiednen Völker der Balkanhalb¬ insel, der Griechen, Bulgaren, Serben, Montenegriner, Türken, Armenier und Juden kein bestimmter, mit Bewußtsein anzustrebender Zukunftsplan aufstellen läßt, wie das Herr von Bülow ja auch kürzlich im Reichstag in einer der ihm eignen hübschen Umschreibungen zugestanden hat. Dem drohenden Ausbruch des Kampfes aller gegen alle ist das türkische Regiment mit allen seinen Fehlern immer noch vorzuziehen, zumal wenn man berücksichtigt, wie leicht ein solcher Kampf auch die angrenzenden Großmächte in seine Wogen hineinziehen kann. Da wo die Übelstände das Maß des Erträglichen über¬ steigen, wird in möglichst eng gehaltnen Grenzen eine Korrektur vorgenommen, die im ganzen immer Ähnlichkeit mit den sich stetig erneuernden Jndianer- „Verträgen" der Vereinigten Staaten haben wird. Innerhalb räumlich beschränkter Gebiete und bei allmählichen Übergängen Fünfzehn Vortrüge aus der brnndenburgisch-preußischen Rechts- und Staatsgeschichte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/236>, abgerufen am 28.09.2024.