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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Die Reformfähigkeit der Türkei

ist gutmütig, friedliebend, gehorsam und voller Ehrfurcht für den Fürsten.
Was der Padischah will, das ist Gottes Wille. Die Büreaukratie und die
Kamarilla des Palastes sind das Hindernis. Die gebildeten Klassen der Türken
hegen den Wunsch nach Freiheit und nach einem modernen Regierungssystem,
die oberste Behörde ist zu reformieren; nicht der Palast, sondern eine mit
Europäern besetzte Pforte muß regieren. Zwischen dein edeln, begabten aber
unglücklichen Volke und dein Sultan, d. h. dem Regierungssystem ist scharf
zu unterscheiden. Ja freilich, aber wir glauben, daß sich Vambery ebenso
gern ans ein Pulverfaß mit brennender Lunte setzen, wie daß der Sultan
solchen Reformen jemals seine Zustimmung geben wird.

Es ist leicht gesagt, der Absolutismus oder vielmehr Despotismus muß ge¬
brochen werden, aber wer soll ihn denn brechen? Dazu gehört doch eine über¬
legne Kraft. Dem Machtspruch des vereinten Europas muß sich der Sultan
wohl fügen, aber Europa ist in diesem Punkte nicht einig, denn Rußland will
die Reformen eben nicht -- wie Vambery selber ausführt. Rußland will die
Artischocke erst gründlich ki3ut Amik gewinnen lassen und dann allein verspeisen;
es ist an den türkischen Mißständen geradezu interessiert. Im Indiz-Kiosk
hört man natürlich gern auf den dunkeln Begleiter "zur Linken," man huldigt
der Auffassung: der Liberalismus hat in Europa Anarchie und Revolution
erzeugt, der Absolutismus hat Rußland dagegen stark, groß und gefürchtet
gemacht, wir wollen uus an Nußland und nicht am übrigen Europa ein Beispiel
nehmen. Das unbeschränkte Papstkönigtnm müssen auch wir gerade wegen der
Fülle seiner Allmacht, deren Erhaltung längst zum Selbstzweck geworden ist,
als das Grundübel der Türken und das Haupthindernis aller Reformen be¬
zeichnen. Man darf nicht hoffen, daß die Moslimcn aus eigner Kraft diese
Macht einschränken, wie sie früher von Ulemas und Janitscharen thatsächlich
eingeschränkt worden ist -- die nliiiNÄ r-illo des Orientalismus; 1s üöLvotisiriv
nwävrö pg.r I'ii8Lg.Wiiig.t ist nicht mehr gebräuchlich und würde auch leine
wesentliche Besserung herbeiführen.

Denken wir an die furchtbaren Kämpfe zurück, die die Einschränkung des
Absolutismus im Abendlande verursacht hat. In England und in Frankreich
kosteten sie einem Könige das Leben und in einer zweiten Revolution der
Dynastie die Krone. In Preußen ist es allein der in seiner Größe unerreichte
Friedrich der Große, der sich aus freier Initiative der Machtsprüche in Rechts¬
sachen begeben hat. Im Jahre 1752 schreibt der König, er wolle, daß alles
den Rechten und Landesgesetzen gemäß traktiert werde, da er sich selbst solchen
in seinen eignen Sachen unterwerfe; 1765 ist die Meinung des Königs, daß
ein Monarch, der über freie Männer herrsche und sie den Gesetzen gemäß
regiere, nie das Richteramt üben dürfe, weil selbst die gerechtesten Entschei¬
dungen der Herrscher ungesetzlich seien und der Staatsverfassung widersprächen.
Und auch im Einzelfalle trägt der König dem Grundsatze Rechnung, denn er


Die Reformfähigkeit der Türkei

ist gutmütig, friedliebend, gehorsam und voller Ehrfurcht für den Fürsten.
Was der Padischah will, das ist Gottes Wille. Die Büreaukratie und die
Kamarilla des Palastes sind das Hindernis. Die gebildeten Klassen der Türken
hegen den Wunsch nach Freiheit und nach einem modernen Regierungssystem,
die oberste Behörde ist zu reformieren; nicht der Palast, sondern eine mit
Europäern besetzte Pforte muß regieren. Zwischen dein edeln, begabten aber
unglücklichen Volke und dein Sultan, d. h. dem Regierungssystem ist scharf
zu unterscheiden. Ja freilich, aber wir glauben, daß sich Vambery ebenso
gern ans ein Pulverfaß mit brennender Lunte setzen, wie daß der Sultan
solchen Reformen jemals seine Zustimmung geben wird.

Es ist leicht gesagt, der Absolutismus oder vielmehr Despotismus muß ge¬
brochen werden, aber wer soll ihn denn brechen? Dazu gehört doch eine über¬
legne Kraft. Dem Machtspruch des vereinten Europas muß sich der Sultan
wohl fügen, aber Europa ist in diesem Punkte nicht einig, denn Rußland will
die Reformen eben nicht — wie Vambery selber ausführt. Rußland will die
Artischocke erst gründlich ki3ut Amik gewinnen lassen und dann allein verspeisen;
es ist an den türkischen Mißständen geradezu interessiert. Im Indiz-Kiosk
hört man natürlich gern auf den dunkeln Begleiter „zur Linken," man huldigt
der Auffassung: der Liberalismus hat in Europa Anarchie und Revolution
erzeugt, der Absolutismus hat Rußland dagegen stark, groß und gefürchtet
gemacht, wir wollen uus an Nußland und nicht am übrigen Europa ein Beispiel
nehmen. Das unbeschränkte Papstkönigtnm müssen auch wir gerade wegen der
Fülle seiner Allmacht, deren Erhaltung längst zum Selbstzweck geworden ist,
als das Grundübel der Türken und das Haupthindernis aller Reformen be¬
zeichnen. Man darf nicht hoffen, daß die Moslimcn aus eigner Kraft diese
Macht einschränken, wie sie früher von Ulemas und Janitscharen thatsächlich
eingeschränkt worden ist — die nliiiNÄ r-illo des Orientalismus; 1s üöLvotisiriv
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wesentliche Besserung herbeiführen.

Denken wir an die furchtbaren Kämpfe zurück, die die Einschränkung des
Absolutismus im Abendlande verursacht hat. In England und in Frankreich
kosteten sie einem Könige das Leben und in einer zweiten Revolution der
Dynastie die Krone. In Preußen ist es allein der in seiner Größe unerreichte
Friedrich der Große, der sich aus freier Initiative der Machtsprüche in Rechts¬
sachen begeben hat. Im Jahre 1752 schreibt der König, er wolle, daß alles
den Rechten und Landesgesetzen gemäß traktiert werde, da er sich selbst solchen
in seinen eignen Sachen unterwerfe; 1765 ist die Meinung des Königs, daß
ein Monarch, der über freie Männer herrsche und sie den Gesetzen gemäß
regiere, nie das Richteramt üben dürfe, weil selbst die gerechtesten Entschei¬
dungen der Herrscher ungesetzlich seien und der Staatsverfassung widersprächen.
Und auch im Einzelfalle trägt der König dem Grundsatze Rechnung, denn er


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[0235] Die Reformfähigkeit der Türkei ist gutmütig, friedliebend, gehorsam und voller Ehrfurcht für den Fürsten. Was der Padischah will, das ist Gottes Wille. Die Büreaukratie und die Kamarilla des Palastes sind das Hindernis. Die gebildeten Klassen der Türken hegen den Wunsch nach Freiheit und nach einem modernen Regierungssystem, die oberste Behörde ist zu reformieren; nicht der Palast, sondern eine mit Europäern besetzte Pforte muß regieren. Zwischen dein edeln, begabten aber unglücklichen Volke und dein Sultan, d. h. dem Regierungssystem ist scharf zu unterscheiden. Ja freilich, aber wir glauben, daß sich Vambery ebenso gern ans ein Pulverfaß mit brennender Lunte setzen, wie daß der Sultan solchen Reformen jemals seine Zustimmung geben wird. Es ist leicht gesagt, der Absolutismus oder vielmehr Despotismus muß ge¬ brochen werden, aber wer soll ihn denn brechen? Dazu gehört doch eine über¬ legne Kraft. Dem Machtspruch des vereinten Europas muß sich der Sultan wohl fügen, aber Europa ist in diesem Punkte nicht einig, denn Rußland will die Reformen eben nicht — wie Vambery selber ausführt. Rußland will die Artischocke erst gründlich ki3ut Amik gewinnen lassen und dann allein verspeisen; es ist an den türkischen Mißständen geradezu interessiert. Im Indiz-Kiosk hört man natürlich gern auf den dunkeln Begleiter „zur Linken," man huldigt der Auffassung: der Liberalismus hat in Europa Anarchie und Revolution erzeugt, der Absolutismus hat Rußland dagegen stark, groß und gefürchtet gemacht, wir wollen uus an Nußland und nicht am übrigen Europa ein Beispiel nehmen. Das unbeschränkte Papstkönigtnm müssen auch wir gerade wegen der Fülle seiner Allmacht, deren Erhaltung längst zum Selbstzweck geworden ist, als das Grundübel der Türken und das Haupthindernis aller Reformen be¬ zeichnen. Man darf nicht hoffen, daß die Moslimcn aus eigner Kraft diese Macht einschränken, wie sie früher von Ulemas und Janitscharen thatsächlich eingeschränkt worden ist — die nliiiNÄ r-illo des Orientalismus; 1s üöLvotisiriv nwävrö pg.r I'ii8Lg.Wiiig.t ist nicht mehr gebräuchlich und würde auch leine wesentliche Besserung herbeiführen. Denken wir an die furchtbaren Kämpfe zurück, die die Einschränkung des Absolutismus im Abendlande verursacht hat. In England und in Frankreich kosteten sie einem Könige das Leben und in einer zweiten Revolution der Dynastie die Krone. In Preußen ist es allein der in seiner Größe unerreichte Friedrich der Große, der sich aus freier Initiative der Machtsprüche in Rechts¬ sachen begeben hat. Im Jahre 1752 schreibt der König, er wolle, daß alles den Rechten und Landesgesetzen gemäß traktiert werde, da er sich selbst solchen in seinen eignen Sachen unterwerfe; 1765 ist die Meinung des Königs, daß ein Monarch, der über freie Männer herrsche und sie den Gesetzen gemäß regiere, nie das Richteramt üben dürfe, weil selbst die gerechtesten Entschei¬ dungen der Herrscher ungesetzlich seien und der Staatsverfassung widersprächen. Und auch im Einzelfalle trägt der König dem Grundsatze Rechnung, denn er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/235>, abgerufen am 28.09.2024.