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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Die RefonnfÄhigkeit der Türkei

ist, da ein Vergleich der heutigen Türkei mit der vor vierzig Jahren jeden Be¬
obachter von den bisher eingeführten Neuerungen und Verbesserungen über¬
zeugen müsse; drittens, daß das bisher auf dem Gebiete des gesellschaftlichen
und politischen Lebens Erreichte einerseits die vorherrschende Ansicht von der
Unbeweglichkeit und Neformfeindlichkeit des Islams widerlegt, andrerseits aber
die nicht minder irrige Meinung von der Kulturunfnhigkeit des türkischen
Volkselements gi>8nräum führt. Wir müssen ihm zugeben, daß sich der
Islam, trotz der innigen Religiosität seiner Anhänger, weniger spröde und
widerhaarig gezeigt hat als die Lehre Christi. Dasselbe kann auch mit Bezug
auf die ethischen Eigenheiten des Türkentnms gesagt werden.

So weit stimmen wir Vambery zu; auch wir haben neuerdings nach¬
gewiesen, daß weder der Islam noch der wenn auch zu Trägheit und Indolenz
neigende Charakter der Türken mit der Zivilisation unvereinbar sind. Trotz¬
dem können wir den Optimismus des wohlmeinenden Verfassers über die
Fähigkeit der Türkei, sich ans eigner Kraft zu reformieren, nicht teilen und
müssen in diesem Punkte dem staatsknndigen Herzog zustimmen. Dieser sieht
die Dinge vom Standpunkte der Regierenden, er kennt die Eigentümlichkeit
der türkischen Regierung genau, ihre Triebfedern und die Schwierigkeit, besser
gesagt Unmöglichkeit, auf sie im Sinne des gemeinen Nutzens oder der s^lus
pulilieg. einzuwirken. Vambery ist kein Politiker, er sieht die Verhältnisse
wesentlich vom Standpunkt der Regierten, und nachdem er am Ende aller
seiner optimistischen Vorschläge denn doch notgedrungen das Zugeständnis ge¬
macht hat, daß alle politischen Fragen im letzten Grunde Machtfragen sind,
verläuft sich der weitere Schluß im Sande.

Soll es Politik sein, wenn Vambery versichert: eine Heilung der heutige"
Übelstände wäre natürlich nur dann möglich, wenn in der Zentralverwaltung,
d. h. an der Pforte selbst, Europäer zusammen mit tüchtigen und befähigten
türkischen Beamten Anstellung fänden, und wenn im Rate des Sultans die
Höflinge durch ernste und patriotisch gesinnte Würdenträger ersetzt würden.
Er meint, daß in diesem Falle Europa auch die finanziellen Mittel mit ruhigem
Gewissen gewähren könnte. Man kann sich des Lächelns über solche Ansichten
kaum enthalten; man vergegenwärtige sich nur die Schwierigkeiten, die ein
solcher Ersatz der Höflinge dnrch "ernste und patriotisch gesinnte Würdenträger"
an manchem konstitutionellen abendländischen Hofe haben würde. Vielleicht
kennt Vambery einen Hof ohne Höflinge und mit Männern, die in uneigen¬
nütziger Weise um die öffentliche Wohlfahrt besorgt sind. Nur in den
günstigsten Verhältnissen werden die Hof- und Staatsverhältnisse durchgängig
so viel Licht und Kritik vertragen, wie in dem Deutschland Wilhelms I., und
doch ist eine der ernstesten und immer wiederkehrenden Klagen Bismarcks die
über die höfischen Einflüsse.

Dagegen -ist es ganz richtig, wenn Vambeky sagt, der eigentliche Türke


Die RefonnfÄhigkeit der Türkei

ist, da ein Vergleich der heutigen Türkei mit der vor vierzig Jahren jeden Be¬
obachter von den bisher eingeführten Neuerungen und Verbesserungen über¬
zeugen müsse; drittens, daß das bisher auf dem Gebiete des gesellschaftlichen
und politischen Lebens Erreichte einerseits die vorherrschende Ansicht von der
Unbeweglichkeit und Neformfeindlichkeit des Islams widerlegt, andrerseits aber
die nicht minder irrige Meinung von der Kulturunfnhigkeit des türkischen
Volkselements gi>8nräum führt. Wir müssen ihm zugeben, daß sich der
Islam, trotz der innigen Religiosität seiner Anhänger, weniger spröde und
widerhaarig gezeigt hat als die Lehre Christi. Dasselbe kann auch mit Bezug
auf die ethischen Eigenheiten des Türkentnms gesagt werden.

So weit stimmen wir Vambery zu; auch wir haben neuerdings nach¬
gewiesen, daß weder der Islam noch der wenn auch zu Trägheit und Indolenz
neigende Charakter der Türken mit der Zivilisation unvereinbar sind. Trotz¬
dem können wir den Optimismus des wohlmeinenden Verfassers über die
Fähigkeit der Türkei, sich ans eigner Kraft zu reformieren, nicht teilen und
müssen in diesem Punkte dem staatsknndigen Herzog zustimmen. Dieser sieht
die Dinge vom Standpunkte der Regierenden, er kennt die Eigentümlichkeit
der türkischen Regierung genau, ihre Triebfedern und die Schwierigkeit, besser
gesagt Unmöglichkeit, auf sie im Sinne des gemeinen Nutzens oder der s^lus
pulilieg. einzuwirken. Vambery ist kein Politiker, er sieht die Verhältnisse
wesentlich vom Standpunkt der Regierten, und nachdem er am Ende aller
seiner optimistischen Vorschläge denn doch notgedrungen das Zugeständnis ge¬
macht hat, daß alle politischen Fragen im letzten Grunde Machtfragen sind,
verläuft sich der weitere Schluß im Sande.

Soll es Politik sein, wenn Vambery versichert: eine Heilung der heutige»
Übelstände wäre natürlich nur dann möglich, wenn in der Zentralverwaltung,
d. h. an der Pforte selbst, Europäer zusammen mit tüchtigen und befähigten
türkischen Beamten Anstellung fänden, und wenn im Rate des Sultans die
Höflinge durch ernste und patriotisch gesinnte Würdenträger ersetzt würden.
Er meint, daß in diesem Falle Europa auch die finanziellen Mittel mit ruhigem
Gewissen gewähren könnte. Man kann sich des Lächelns über solche Ansichten
kaum enthalten; man vergegenwärtige sich nur die Schwierigkeiten, die ein
solcher Ersatz der Höflinge dnrch „ernste und patriotisch gesinnte Würdenträger"
an manchem konstitutionellen abendländischen Hofe haben würde. Vielleicht
kennt Vambery einen Hof ohne Höflinge und mit Männern, die in uneigen¬
nütziger Weise um die öffentliche Wohlfahrt besorgt sind. Nur in den
günstigsten Verhältnissen werden die Hof- und Staatsverhältnisse durchgängig
so viel Licht und Kritik vertragen, wie in dem Deutschland Wilhelms I., und
doch ist eine der ernstesten und immer wiederkehrenden Klagen Bismarcks die
über die höfischen Einflüsse.

Dagegen -ist es ganz richtig, wenn Vambeky sagt, der eigentliche Türke


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[0234] Die RefonnfÄhigkeit der Türkei ist, da ein Vergleich der heutigen Türkei mit der vor vierzig Jahren jeden Be¬ obachter von den bisher eingeführten Neuerungen und Verbesserungen über¬ zeugen müsse; drittens, daß das bisher auf dem Gebiete des gesellschaftlichen und politischen Lebens Erreichte einerseits die vorherrschende Ansicht von der Unbeweglichkeit und Neformfeindlichkeit des Islams widerlegt, andrerseits aber die nicht minder irrige Meinung von der Kulturunfnhigkeit des türkischen Volkselements gi>8nräum führt. Wir müssen ihm zugeben, daß sich der Islam, trotz der innigen Religiosität seiner Anhänger, weniger spröde und widerhaarig gezeigt hat als die Lehre Christi. Dasselbe kann auch mit Bezug auf die ethischen Eigenheiten des Türkentnms gesagt werden. So weit stimmen wir Vambery zu; auch wir haben neuerdings nach¬ gewiesen, daß weder der Islam noch der wenn auch zu Trägheit und Indolenz neigende Charakter der Türken mit der Zivilisation unvereinbar sind. Trotz¬ dem können wir den Optimismus des wohlmeinenden Verfassers über die Fähigkeit der Türkei, sich ans eigner Kraft zu reformieren, nicht teilen und müssen in diesem Punkte dem staatsknndigen Herzog zustimmen. Dieser sieht die Dinge vom Standpunkte der Regierenden, er kennt die Eigentümlichkeit der türkischen Regierung genau, ihre Triebfedern und die Schwierigkeit, besser gesagt Unmöglichkeit, auf sie im Sinne des gemeinen Nutzens oder der s^lus pulilieg. einzuwirken. Vambery ist kein Politiker, er sieht die Verhältnisse wesentlich vom Standpunkt der Regierten, und nachdem er am Ende aller seiner optimistischen Vorschläge denn doch notgedrungen das Zugeständnis ge¬ macht hat, daß alle politischen Fragen im letzten Grunde Machtfragen sind, verläuft sich der weitere Schluß im Sande. Soll es Politik sein, wenn Vambery versichert: eine Heilung der heutige» Übelstände wäre natürlich nur dann möglich, wenn in der Zentralverwaltung, d. h. an der Pforte selbst, Europäer zusammen mit tüchtigen und befähigten türkischen Beamten Anstellung fänden, und wenn im Rate des Sultans die Höflinge durch ernste und patriotisch gesinnte Würdenträger ersetzt würden. Er meint, daß in diesem Falle Europa auch die finanziellen Mittel mit ruhigem Gewissen gewähren könnte. Man kann sich des Lächelns über solche Ansichten kaum enthalten; man vergegenwärtige sich nur die Schwierigkeiten, die ein solcher Ersatz der Höflinge dnrch „ernste und patriotisch gesinnte Würdenträger" an manchem konstitutionellen abendländischen Hofe haben würde. Vielleicht kennt Vambery einen Hof ohne Höflinge und mit Männern, die in uneigen¬ nütziger Weise um die öffentliche Wohlfahrt besorgt sind. Nur in den günstigsten Verhältnissen werden die Hof- und Staatsverhältnisse durchgängig so viel Licht und Kritik vertragen, wie in dem Deutschland Wilhelms I., und doch ist eine der ernstesten und immer wiederkehrenden Klagen Bismarcks die über die höfischen Einflüsse. Dagegen -ist es ganz richtig, wenn Vambeky sagt, der eigentliche Türke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/234>, abgerufen am 28.09.2024.