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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Winckelmanns Lebe" von Justi

blühende Rokokokunst seiner Zeit und die Meißner Porzellaufigureu, er über¬
schätzt Raffael Mengs, er will keinen andern Maßstab gelten lassen als das
Griechentum. Sein Biograph muß nun ihm gegenüber das Recht der nach¬
antiken Kunst vertreten, und er zeigt uns, was man für das Verständnis von
Renaissance und Neuzeit gewinnt, wenn man sie mit dem Altertum vergleicht.
Winckelmann hat aber ferner als historischer Darsteller bei uns in Deutschland
zuerst die stoffliche, unpersönliche Betrachtungsweise geübt, die außer den poli¬
tischen Ursachen noch Klima und Boden, Rasse und Sitte für die Kulturent¬
wicklung mit heranzieht. Diese wirkungsvolle und jetzt wieder mit Recht be¬
liebte Darstellnngsart können unsre heutigen Schriftsteller, deren Kenntnis nicht
bis Winckelmann zurückreicht, und die sie darum für etwas ganz modernes zu
halte"? pflegen, nun bei Justi auf das beste studieren. Winckelmann achtete
aber die zufällige Geschichte mit ihren persönlichen Kräften zu gering, und
darum warnt Insel wieder mit Recht vor dem Übertreiben der höhern, hinter
dem offenkundiger Geschehen liegenden Kausalität, der "biologischen oder zoolo¬
gischen Analogie," wodurch sich die Geschichte in Philosophie verwandle. "Die
zoologische Vetrachtnngsweise hat genützt als Leitfaden zur Feststellung der
Deszendenz oder Genealogie der Erscheinungen, aber sie hat auch das Hinein¬
tragen hypothetischer und erkünstelter Zusammenhänge in die Darstellung der
geschichtlichen Folge befördert. Es giebt wohl kein historisches Prinzip, in
dessen Namen so viel leeres Stroh gedroschen wird."

Schließlich möchte ich alle, die für bildende Kunst Interesse haben, auf
die ästhetischen Partien in Justis Buche aufmerksam machen. Man kümmert
sich ja heute bei allem Wirklichkeitsbedürfnis wieder etwas mehr, und wäre
es auch zunächst nur, um das Gebiet des Ausdrucks zu erweitern und das
Instrument der Kunstbeschreibung zu verfeinern, um die Ästhetik der Philo¬
sophen. Aber es sind immer zweierlei Wege gewesen, die die Angehörigen der
Kunstwelt gingen und solche, die sich zur Beförderung ihrer spekulativen Ideen
mit der Kunst beschäftigten. Die philosophische Ästhetik hat das Kunstver¬
ständnis kaum an einem Punkte gefördert, und das einzige in dieser Hinsicht
nützliche Buch eines Philosophen, das ich kenne, die zweite Auflage von
Wischers Ästhetik (Das Schöne und die Kunst 1898), ist eben durchaus kein
philosophisches mehr, sondern nur das Buch eines persönlich sehr kunstver¬
ständigen Mannes. Winckelmann teilte die Abneigung der Kunsthistoriker gegen
die ästhetisierenden Philosophen, früher urteilte er geringschätzig über Wolf
und Baumgarten, später machte er sich selbst eine Art Theorie mit Hilfe pla¬
tonischer Begriffe und vieler Kunstbücher, namentlich französischer und eng¬
lischer, die er auszog; und so finden sich denn bei ihm immer reichlichere Er¬
örterungen ein über das Verhältnis der Kunst zur Natur und die Frage der
Nachahmung, über das Ideal, über den Begriff der Schönheit und über Ruhe
und Leidenschaft im Ausdruck der Kunstwerke. Er will darin nicht uuumstvß-


Winckelmanns Lebe» von Justi

blühende Rokokokunst seiner Zeit und die Meißner Porzellaufigureu, er über¬
schätzt Raffael Mengs, er will keinen andern Maßstab gelten lassen als das
Griechentum. Sein Biograph muß nun ihm gegenüber das Recht der nach¬
antiken Kunst vertreten, und er zeigt uns, was man für das Verständnis von
Renaissance und Neuzeit gewinnt, wenn man sie mit dem Altertum vergleicht.
Winckelmann hat aber ferner als historischer Darsteller bei uns in Deutschland
zuerst die stoffliche, unpersönliche Betrachtungsweise geübt, die außer den poli¬
tischen Ursachen noch Klima und Boden, Rasse und Sitte für die Kulturent¬
wicklung mit heranzieht. Diese wirkungsvolle und jetzt wieder mit Recht be¬
liebte Darstellnngsart können unsre heutigen Schriftsteller, deren Kenntnis nicht
bis Winckelmann zurückreicht, und die sie darum für etwas ganz modernes zu
halte«? pflegen, nun bei Justi auf das beste studieren. Winckelmann achtete
aber die zufällige Geschichte mit ihren persönlichen Kräften zu gering, und
darum warnt Insel wieder mit Recht vor dem Übertreiben der höhern, hinter
dem offenkundiger Geschehen liegenden Kausalität, der „biologischen oder zoolo¬
gischen Analogie," wodurch sich die Geschichte in Philosophie verwandle. „Die
zoologische Vetrachtnngsweise hat genützt als Leitfaden zur Feststellung der
Deszendenz oder Genealogie der Erscheinungen, aber sie hat auch das Hinein¬
tragen hypothetischer und erkünstelter Zusammenhänge in die Darstellung der
geschichtlichen Folge befördert. Es giebt wohl kein historisches Prinzip, in
dessen Namen so viel leeres Stroh gedroschen wird."

Schließlich möchte ich alle, die für bildende Kunst Interesse haben, auf
die ästhetischen Partien in Justis Buche aufmerksam machen. Man kümmert
sich ja heute bei allem Wirklichkeitsbedürfnis wieder etwas mehr, und wäre
es auch zunächst nur, um das Gebiet des Ausdrucks zu erweitern und das
Instrument der Kunstbeschreibung zu verfeinern, um die Ästhetik der Philo¬
sophen. Aber es sind immer zweierlei Wege gewesen, die die Angehörigen der
Kunstwelt gingen und solche, die sich zur Beförderung ihrer spekulativen Ideen
mit der Kunst beschäftigten. Die philosophische Ästhetik hat das Kunstver¬
ständnis kaum an einem Punkte gefördert, und das einzige in dieser Hinsicht
nützliche Buch eines Philosophen, das ich kenne, die zweite Auflage von
Wischers Ästhetik (Das Schöne und die Kunst 1898), ist eben durchaus kein
philosophisches mehr, sondern nur das Buch eines persönlich sehr kunstver¬
ständigen Mannes. Winckelmann teilte die Abneigung der Kunsthistoriker gegen
die ästhetisierenden Philosophen, früher urteilte er geringschätzig über Wolf
und Baumgarten, später machte er sich selbst eine Art Theorie mit Hilfe pla¬
tonischer Begriffe und vieler Kunstbücher, namentlich französischer und eng¬
lischer, die er auszog; und so finden sich denn bei ihm immer reichlichere Er¬
örterungen ein über das Verhältnis der Kunst zur Natur und die Frage der
Nachahmung, über das Ideal, über den Begriff der Schönheit und über Ruhe
und Leidenschaft im Ausdruck der Kunstwerke. Er will darin nicht uuumstvß-


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[0143] Winckelmanns Lebe» von Justi blühende Rokokokunst seiner Zeit und die Meißner Porzellaufigureu, er über¬ schätzt Raffael Mengs, er will keinen andern Maßstab gelten lassen als das Griechentum. Sein Biograph muß nun ihm gegenüber das Recht der nach¬ antiken Kunst vertreten, und er zeigt uns, was man für das Verständnis von Renaissance und Neuzeit gewinnt, wenn man sie mit dem Altertum vergleicht. Winckelmann hat aber ferner als historischer Darsteller bei uns in Deutschland zuerst die stoffliche, unpersönliche Betrachtungsweise geübt, die außer den poli¬ tischen Ursachen noch Klima und Boden, Rasse und Sitte für die Kulturent¬ wicklung mit heranzieht. Diese wirkungsvolle und jetzt wieder mit Recht be¬ liebte Darstellnngsart können unsre heutigen Schriftsteller, deren Kenntnis nicht bis Winckelmann zurückreicht, und die sie darum für etwas ganz modernes zu halte«? pflegen, nun bei Justi auf das beste studieren. Winckelmann achtete aber die zufällige Geschichte mit ihren persönlichen Kräften zu gering, und darum warnt Insel wieder mit Recht vor dem Übertreiben der höhern, hinter dem offenkundiger Geschehen liegenden Kausalität, der „biologischen oder zoolo¬ gischen Analogie," wodurch sich die Geschichte in Philosophie verwandle. „Die zoologische Vetrachtnngsweise hat genützt als Leitfaden zur Feststellung der Deszendenz oder Genealogie der Erscheinungen, aber sie hat auch das Hinein¬ tragen hypothetischer und erkünstelter Zusammenhänge in die Darstellung der geschichtlichen Folge befördert. Es giebt wohl kein historisches Prinzip, in dessen Namen so viel leeres Stroh gedroschen wird." Schließlich möchte ich alle, die für bildende Kunst Interesse haben, auf die ästhetischen Partien in Justis Buche aufmerksam machen. Man kümmert sich ja heute bei allem Wirklichkeitsbedürfnis wieder etwas mehr, und wäre es auch zunächst nur, um das Gebiet des Ausdrucks zu erweitern und das Instrument der Kunstbeschreibung zu verfeinern, um die Ästhetik der Philo¬ sophen. Aber es sind immer zweierlei Wege gewesen, die die Angehörigen der Kunstwelt gingen und solche, die sich zur Beförderung ihrer spekulativen Ideen mit der Kunst beschäftigten. Die philosophische Ästhetik hat das Kunstver¬ ständnis kaum an einem Punkte gefördert, und das einzige in dieser Hinsicht nützliche Buch eines Philosophen, das ich kenne, die zweite Auflage von Wischers Ästhetik (Das Schöne und die Kunst 1898), ist eben durchaus kein philosophisches mehr, sondern nur das Buch eines persönlich sehr kunstver¬ ständigen Mannes. Winckelmann teilte die Abneigung der Kunsthistoriker gegen die ästhetisierenden Philosophen, früher urteilte er geringschätzig über Wolf und Baumgarten, später machte er sich selbst eine Art Theorie mit Hilfe pla¬ tonischer Begriffe und vieler Kunstbücher, namentlich französischer und eng¬ lischer, die er auszog; und so finden sich denn bei ihm immer reichlichere Er¬ örterungen ein über das Verhältnis der Kunst zur Natur und die Frage der Nachahmung, über das Ideal, über den Begriff der Schönheit und über Ruhe und Leidenschaft im Ausdruck der Kunstwerke. Er will darin nicht uuumstvß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/143>, abgerufen am 28.09.2024.