Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
winckelmcmns Leben von Justi

seiner Rückkehr, 1778, ließ der Landgraf durch seine Akademie eine Lobschrift
auf Winckelmann als Preisaufgabe ausschreiben, wobei Heyne in Göttinge"
den Preis gewann. Endlich ist in diesem dritten Bande das höchst wichtige
zweite Kapitel, die Analyse der Winckelmannschen Kunstgeschichte, zum großen
Teil neu geschrieben. Hier sind aber nicht etwa bloß gelehrte Thatsachen nach¬
getragen oder berichtigt, sondern die ganze theoretische Auffassung, die Kunst¬
lehre des Verfassers ist weiter ausgeführt worden. Was wollte Winckelmann
in seiner Zeit? Was kann seine Meinung und die Beschäftigung mit ihm
uns heute noch sein? Weil Justi, wie schon bemerkt wurde, nicht nur die
Antike, sondern auch die ganze folgende Kunst kennt, und weil er ferner, gerade
wie einst Winckelmann, die Kunst seiner eignen Zeit teilnehmend und kritisch
genießend oder ablehnend verfolgt: so hat dieses ganze zweite Kapitel einen
sehr hohen und eigentümlichen Wert. Es enthält außerdem Beobachtungen
über die allerneusten Kunstrichtungen, die sich dem Verfasser seit 1872 auf¬
gedrängt haben, und ähnliche Bemerkungen finden sich auch an andern Stellen
seines Werkes. Diese kürzern Zusätze sind alle im Ausdruck sehr lebhaft ge¬
stimmt, und sie enthalten viel Wahrheit. Einige Beispiele werden das zeigen.

Im ersten Bande, bei der Behandlung der Dresdner Bauwerke, unmittel¬
bar vor einer ganz kurzen Prachtschilderung des Zwingers, spricht Justi von
der Hinwendung zum Entgegengesetzten bei gleichzeitigen oder unmittelbar auf¬
einanderfolgenden Kunstrichtungen; es sei also kein Zufall, daß man mitten
unter den Wundern des Barocks, zwischen Zwinger und Hofkirche, die Stimme
des Klassizismus vernehme und die Rede von der rettenden Nachahmung der
Griechen um jeden Preis. Eine Anmerkung giebt dazu folgenden Wink für
die Gegenwart: "Nachdem der neufranzösische Realismus mit der veralteten
Vorstellung von der Kunst als einer von den Sprachformen des Menschen¬
geistes aufgeräumt hatte, und bald auch Handlung, Gestalt und der ganze
interessante Menschenkehricht nur noch als unbequemes Beiwerk eines exakt¬
listigen ErHaschens farbigen oder farblosen Dunstes angesehen wurde, konnte
man voraussehen, daß demnächst das Bedürfnis der Anbetung mehr oder
weniger unverständlicher Symbole erwachen werde, am liebsten im Gewand
des Unnatürlichen und Widernatürlichen. Nachdem Pallas und die Musen
ihre Sitze an Marsyas und seinen Schwarm abgetreten hatten, schien die Zeit
reif für den Affen Hanemann und seinen Geister- und Gespensterspuk; und
auch dieser wird wahrscheinlich, noch ehe dies gedruckt und gelesen wird, der
Götzendämmerung verfallen sein." Gleich darauf kommt er auf die Dürftigkeit
des Materials, woran Winckelmann seine Anschauung nährte, zu sprechen: Auf¬
merksamkeit ist die Grundeigenschaft der Intelligenz, und dies ist der Schlüssel
des intuitiver Hellsehens, das uns bei den Anfängern der Wissenschaft über¬
rascht. Die Betrachtung liegt nahe, daß auch der Reichtum seine Schatten¬
seiten hat. "Wir sind heute schon so verwöhnt, daß wir für das Anhören
einer halbstündigen Rede kaum noch die Geduld haben, wenn nicht ein Stück


winckelmcmns Leben von Justi

seiner Rückkehr, 1778, ließ der Landgraf durch seine Akademie eine Lobschrift
auf Winckelmann als Preisaufgabe ausschreiben, wobei Heyne in Göttinge»
den Preis gewann. Endlich ist in diesem dritten Bande das höchst wichtige
zweite Kapitel, die Analyse der Winckelmannschen Kunstgeschichte, zum großen
Teil neu geschrieben. Hier sind aber nicht etwa bloß gelehrte Thatsachen nach¬
getragen oder berichtigt, sondern die ganze theoretische Auffassung, die Kunst¬
lehre des Verfassers ist weiter ausgeführt worden. Was wollte Winckelmann
in seiner Zeit? Was kann seine Meinung und die Beschäftigung mit ihm
uns heute noch sein? Weil Justi, wie schon bemerkt wurde, nicht nur die
Antike, sondern auch die ganze folgende Kunst kennt, und weil er ferner, gerade
wie einst Winckelmann, die Kunst seiner eignen Zeit teilnehmend und kritisch
genießend oder ablehnend verfolgt: so hat dieses ganze zweite Kapitel einen
sehr hohen und eigentümlichen Wert. Es enthält außerdem Beobachtungen
über die allerneusten Kunstrichtungen, die sich dem Verfasser seit 1872 auf¬
gedrängt haben, und ähnliche Bemerkungen finden sich auch an andern Stellen
seines Werkes. Diese kürzern Zusätze sind alle im Ausdruck sehr lebhaft ge¬
stimmt, und sie enthalten viel Wahrheit. Einige Beispiele werden das zeigen.

Im ersten Bande, bei der Behandlung der Dresdner Bauwerke, unmittel¬
bar vor einer ganz kurzen Prachtschilderung des Zwingers, spricht Justi von
der Hinwendung zum Entgegengesetzten bei gleichzeitigen oder unmittelbar auf¬
einanderfolgenden Kunstrichtungen; es sei also kein Zufall, daß man mitten
unter den Wundern des Barocks, zwischen Zwinger und Hofkirche, die Stimme
des Klassizismus vernehme und die Rede von der rettenden Nachahmung der
Griechen um jeden Preis. Eine Anmerkung giebt dazu folgenden Wink für
die Gegenwart: „Nachdem der neufranzösische Realismus mit der veralteten
Vorstellung von der Kunst als einer von den Sprachformen des Menschen¬
geistes aufgeräumt hatte, und bald auch Handlung, Gestalt und der ganze
interessante Menschenkehricht nur noch als unbequemes Beiwerk eines exakt¬
listigen ErHaschens farbigen oder farblosen Dunstes angesehen wurde, konnte
man voraussehen, daß demnächst das Bedürfnis der Anbetung mehr oder
weniger unverständlicher Symbole erwachen werde, am liebsten im Gewand
des Unnatürlichen und Widernatürlichen. Nachdem Pallas und die Musen
ihre Sitze an Marsyas und seinen Schwarm abgetreten hatten, schien die Zeit
reif für den Affen Hanemann und seinen Geister- und Gespensterspuk; und
auch dieser wird wahrscheinlich, noch ehe dies gedruckt und gelesen wird, der
Götzendämmerung verfallen sein." Gleich darauf kommt er auf die Dürftigkeit
des Materials, woran Winckelmann seine Anschauung nährte, zu sprechen: Auf¬
merksamkeit ist die Grundeigenschaft der Intelligenz, und dies ist der Schlüssel
des intuitiver Hellsehens, das uns bei den Anfängern der Wissenschaft über¬
rascht. Die Betrachtung liegt nahe, daß auch der Reichtum seine Schatten¬
seiten hat. „Wir sind heute schon so verwöhnt, daß wir für das Anhören
einer halbstündigen Rede kaum noch die Geduld haben, wenn nicht ein Stück


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0141" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230573"/>
          <fw type="header" place="top"> winckelmcmns Leben von Justi</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_442" prev="#ID_441"> seiner Rückkehr, 1778, ließ der Landgraf durch seine Akademie eine Lobschrift<lb/>
auf Winckelmann als Preisaufgabe ausschreiben, wobei Heyne in Göttinge»<lb/>
den Preis gewann. Endlich ist in diesem dritten Bande das höchst wichtige<lb/>
zweite Kapitel, die Analyse der Winckelmannschen Kunstgeschichte, zum großen<lb/>
Teil neu geschrieben. Hier sind aber nicht etwa bloß gelehrte Thatsachen nach¬<lb/>
getragen oder berichtigt, sondern die ganze theoretische Auffassung, die Kunst¬<lb/>
lehre des Verfassers ist weiter ausgeführt worden. Was wollte Winckelmann<lb/>
in seiner Zeit? Was kann seine Meinung und die Beschäftigung mit ihm<lb/>
uns heute noch sein? Weil Justi, wie schon bemerkt wurde, nicht nur die<lb/>
Antike, sondern auch die ganze folgende Kunst kennt, und weil er ferner, gerade<lb/>
wie einst Winckelmann, die Kunst seiner eignen Zeit teilnehmend und kritisch<lb/>
genießend oder ablehnend verfolgt: so hat dieses ganze zweite Kapitel einen<lb/>
sehr hohen und eigentümlichen Wert. Es enthält außerdem Beobachtungen<lb/>
über die allerneusten Kunstrichtungen, die sich dem Verfasser seit 1872 auf¬<lb/>
gedrängt haben, und ähnliche Bemerkungen finden sich auch an andern Stellen<lb/>
seines Werkes. Diese kürzern Zusätze sind alle im Ausdruck sehr lebhaft ge¬<lb/>
stimmt, und sie enthalten viel Wahrheit. Einige Beispiele werden das zeigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_443" next="#ID_444"> Im ersten Bande, bei der Behandlung der Dresdner Bauwerke, unmittel¬<lb/>
bar vor einer ganz kurzen Prachtschilderung des Zwingers, spricht Justi von<lb/>
der Hinwendung zum Entgegengesetzten bei gleichzeitigen oder unmittelbar auf¬<lb/>
einanderfolgenden Kunstrichtungen; es sei also kein Zufall, daß man mitten<lb/>
unter den Wundern des Barocks, zwischen Zwinger und Hofkirche, die Stimme<lb/>
des Klassizismus vernehme und die Rede von der rettenden Nachahmung der<lb/>
Griechen um jeden Preis. Eine Anmerkung giebt dazu folgenden Wink für<lb/>
die Gegenwart: &#x201E;Nachdem der neufranzösische Realismus mit der veralteten<lb/>
Vorstellung von der Kunst als einer von den Sprachformen des Menschen¬<lb/>
geistes aufgeräumt hatte, und bald auch Handlung, Gestalt und der ganze<lb/>
interessante Menschenkehricht nur noch als unbequemes Beiwerk eines exakt¬<lb/>
listigen ErHaschens farbigen oder farblosen Dunstes angesehen wurde, konnte<lb/>
man voraussehen, daß demnächst das Bedürfnis der Anbetung mehr oder<lb/>
weniger unverständlicher Symbole erwachen werde, am liebsten im Gewand<lb/>
des Unnatürlichen und Widernatürlichen. Nachdem Pallas und die Musen<lb/>
ihre Sitze an Marsyas und seinen Schwarm abgetreten hatten, schien die Zeit<lb/>
reif für den Affen Hanemann und seinen Geister- und Gespensterspuk; und<lb/>
auch dieser wird wahrscheinlich, noch ehe dies gedruckt und gelesen wird, der<lb/>
Götzendämmerung verfallen sein." Gleich darauf kommt er auf die Dürftigkeit<lb/>
des Materials, woran Winckelmann seine Anschauung nährte, zu sprechen: Auf¬<lb/>
merksamkeit ist die Grundeigenschaft der Intelligenz, und dies ist der Schlüssel<lb/>
des intuitiver Hellsehens, das uns bei den Anfängern der Wissenschaft über¬<lb/>
rascht. Die Betrachtung liegt nahe, daß auch der Reichtum seine Schatten¬<lb/>
seiten hat. &#x201E;Wir sind heute schon so verwöhnt, daß wir für das Anhören<lb/>
einer halbstündigen Rede kaum noch die Geduld haben, wenn nicht ein Stück</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0141] winckelmcmns Leben von Justi seiner Rückkehr, 1778, ließ der Landgraf durch seine Akademie eine Lobschrift auf Winckelmann als Preisaufgabe ausschreiben, wobei Heyne in Göttinge» den Preis gewann. Endlich ist in diesem dritten Bande das höchst wichtige zweite Kapitel, die Analyse der Winckelmannschen Kunstgeschichte, zum großen Teil neu geschrieben. Hier sind aber nicht etwa bloß gelehrte Thatsachen nach¬ getragen oder berichtigt, sondern die ganze theoretische Auffassung, die Kunst¬ lehre des Verfassers ist weiter ausgeführt worden. Was wollte Winckelmann in seiner Zeit? Was kann seine Meinung und die Beschäftigung mit ihm uns heute noch sein? Weil Justi, wie schon bemerkt wurde, nicht nur die Antike, sondern auch die ganze folgende Kunst kennt, und weil er ferner, gerade wie einst Winckelmann, die Kunst seiner eignen Zeit teilnehmend und kritisch genießend oder ablehnend verfolgt: so hat dieses ganze zweite Kapitel einen sehr hohen und eigentümlichen Wert. Es enthält außerdem Beobachtungen über die allerneusten Kunstrichtungen, die sich dem Verfasser seit 1872 auf¬ gedrängt haben, und ähnliche Bemerkungen finden sich auch an andern Stellen seines Werkes. Diese kürzern Zusätze sind alle im Ausdruck sehr lebhaft ge¬ stimmt, und sie enthalten viel Wahrheit. Einige Beispiele werden das zeigen. Im ersten Bande, bei der Behandlung der Dresdner Bauwerke, unmittel¬ bar vor einer ganz kurzen Prachtschilderung des Zwingers, spricht Justi von der Hinwendung zum Entgegengesetzten bei gleichzeitigen oder unmittelbar auf¬ einanderfolgenden Kunstrichtungen; es sei also kein Zufall, daß man mitten unter den Wundern des Barocks, zwischen Zwinger und Hofkirche, die Stimme des Klassizismus vernehme und die Rede von der rettenden Nachahmung der Griechen um jeden Preis. Eine Anmerkung giebt dazu folgenden Wink für die Gegenwart: „Nachdem der neufranzösische Realismus mit der veralteten Vorstellung von der Kunst als einer von den Sprachformen des Menschen¬ geistes aufgeräumt hatte, und bald auch Handlung, Gestalt und der ganze interessante Menschenkehricht nur noch als unbequemes Beiwerk eines exakt¬ listigen ErHaschens farbigen oder farblosen Dunstes angesehen wurde, konnte man voraussehen, daß demnächst das Bedürfnis der Anbetung mehr oder weniger unverständlicher Symbole erwachen werde, am liebsten im Gewand des Unnatürlichen und Widernatürlichen. Nachdem Pallas und die Musen ihre Sitze an Marsyas und seinen Schwarm abgetreten hatten, schien die Zeit reif für den Affen Hanemann und seinen Geister- und Gespensterspuk; und auch dieser wird wahrscheinlich, noch ehe dies gedruckt und gelesen wird, der Götzendämmerung verfallen sein." Gleich darauf kommt er auf die Dürftigkeit des Materials, woran Winckelmann seine Anschauung nährte, zu sprechen: Auf¬ merksamkeit ist die Grundeigenschaft der Intelligenz, und dies ist der Schlüssel des intuitiver Hellsehens, das uns bei den Anfängern der Wissenschaft über¬ rascht. Die Betrachtung liegt nahe, daß auch der Reichtum seine Schatten¬ seiten hat. „Wir sind heute schon so verwöhnt, daß wir für das Anhören einer halbstündigen Rede kaum noch die Geduld haben, wenn nicht ein Stück

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/141
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/141>, abgerufen am 28.09.2024.