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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Tagelöhnerhäuser

und freier als viele Leute des Mittelstands. Zum Beispiel der Zwang, das;
die Frau in der Ernte mitarbeiten muß -- die meisten kleinen Besitzer ver¬
langen das --, ist manchem beinahe ehrenrührig. Ich kenne einen Arbeiter
mit großer Familie, der deshalb im November den Dienst verließ, obwohl er
mit seinem Herrn zufrieden war, sich also für den Winter brotlos machte und
in die kleine Stadt zog, wo um diese Zeit doch die geringste Nachfrage nach
Arbeitern ist. Er trug mir das vor mit den Worten: Man kriegt immer
Arbeit; aber meine Frau soll bei den Kindern bleiben. Dieser Freiheitstvlz,
nicht der Glaube, daß sie in der Stadt weiter kommen könnten, treibt die Leute
von einem Herrn zum andern und schließlich in die Stadt und sorgt dafür,
daß der Stand der Tagelöhner keinen tüchtigen Nachwuchs bekommt. In der
Stadt haben sie Freiheit, ihre Herren zu wählen und zu wechseln und sozusagen
die Herren ihres Herrn zu sein. Das ist es, was sie ganz mit Recht lockt.
Wenn auch die Gutsherren ihnen die komfortabelsten Häuser hinbauten, die
Leute würden doch nach der Stadt gehn, nach der Freiheit, die sie suchen.

Würde man dagegen den Leuten ihre Tagelöhnerhäuser zu eigen geben,
oder sie zur Miete wohnen lassen, aber nicht bei ihrem Herrn, sondern bei
einem unbeteiligten dritten, sodaß sie ihre kleinen Wirtschaften fortführen und
verbessern und doch von einem Herrn zum andern laufen könnten, so bin ich
überzeugt, es würden sich auch die Tüchtigsten halten lassen. Denn unter
solchen Umständen sind sie wieder ans dem Lande freier als in der Stadt.
Sie würden vielleicht seltner den Dienst wechseln als jetzt und bei dem Herrn
dauernd arbeiten, vor dessen Thorweg sie wohnen. Aber sie hätten doch die
Macht, ihm jeden Tag den Stuhl vor die Thür zu setzen, ohne dadurch ob¬
dachlos zu werden, und sie würden sich nicht scheuen, ein ganzes Jahr lang
täglich ein bis zwei Stunden über Land zu einem andern zu laufen, um ihre
Freiheit zu beweisen. Ich kenne Leute -- sie gehören zu den besten Arbeitern --,
die eine Stunde vor der kleinen Stadt wohnen, in der sie arbeiten, nur um
die Freiheiten des Landlebens zu genießen. Sie haben ein Häuschen, worin
sie allein wohnen, Viehwirtschaft und ein paar Morgen Land und dazu die
Sicherheit, nicht gekündigt zu werden, so lange sie pünktlich Miet- und Pacht¬
zins zahlen. Sie sind zu Hause ihre Herren. Da spielt der Weg keine Rolle.
Aber eben diese Freiheit fehlt den heimatlosen Tagelöhnern.

Gesetzt, die Versicherungsanstalt Sachsen-Anhalt baute neben die alten
Tagelöhnerhütten neue Arbeiterhäuser mit kleinen Gärten und vermietete sie an
den freien Arbeiter nach den gewöhnlichen Mietgebränchen, so wäre das er¬
reicht, was bis jetzt fehlt. Die Leute hätten eine Wohnung, aus der sie nicht
getrieben werden könnten, so lange sie ihre Miete zahlen, wobei ich annehme,
daß die Behörde auch gelegentlich ein Vierteljahr Geduld haben würde. Je
mehr solcher Arbeiterhäuser, desto mehr unabhängige, wenn auch besitzlose
Landarbeiter würde es geben. Das zwecklose und verderbliche Umherziehen


Tagelöhnerhäuser

und freier als viele Leute des Mittelstands. Zum Beispiel der Zwang, das;
die Frau in der Ernte mitarbeiten muß — die meisten kleinen Besitzer ver¬
langen das —, ist manchem beinahe ehrenrührig. Ich kenne einen Arbeiter
mit großer Familie, der deshalb im November den Dienst verließ, obwohl er
mit seinem Herrn zufrieden war, sich also für den Winter brotlos machte und
in die kleine Stadt zog, wo um diese Zeit doch die geringste Nachfrage nach
Arbeitern ist. Er trug mir das vor mit den Worten: Man kriegt immer
Arbeit; aber meine Frau soll bei den Kindern bleiben. Dieser Freiheitstvlz,
nicht der Glaube, daß sie in der Stadt weiter kommen könnten, treibt die Leute
von einem Herrn zum andern und schließlich in die Stadt und sorgt dafür,
daß der Stand der Tagelöhner keinen tüchtigen Nachwuchs bekommt. In der
Stadt haben sie Freiheit, ihre Herren zu wählen und zu wechseln und sozusagen
die Herren ihres Herrn zu sein. Das ist es, was sie ganz mit Recht lockt.
Wenn auch die Gutsherren ihnen die komfortabelsten Häuser hinbauten, die
Leute würden doch nach der Stadt gehn, nach der Freiheit, die sie suchen.

Würde man dagegen den Leuten ihre Tagelöhnerhäuser zu eigen geben,
oder sie zur Miete wohnen lassen, aber nicht bei ihrem Herrn, sondern bei
einem unbeteiligten dritten, sodaß sie ihre kleinen Wirtschaften fortführen und
verbessern und doch von einem Herrn zum andern laufen könnten, so bin ich
überzeugt, es würden sich auch die Tüchtigsten halten lassen. Denn unter
solchen Umständen sind sie wieder ans dem Lande freier als in der Stadt.
Sie würden vielleicht seltner den Dienst wechseln als jetzt und bei dem Herrn
dauernd arbeiten, vor dessen Thorweg sie wohnen. Aber sie hätten doch die
Macht, ihm jeden Tag den Stuhl vor die Thür zu setzen, ohne dadurch ob¬
dachlos zu werden, und sie würden sich nicht scheuen, ein ganzes Jahr lang
täglich ein bis zwei Stunden über Land zu einem andern zu laufen, um ihre
Freiheit zu beweisen. Ich kenne Leute — sie gehören zu den besten Arbeitern —,
die eine Stunde vor der kleinen Stadt wohnen, in der sie arbeiten, nur um
die Freiheiten des Landlebens zu genießen. Sie haben ein Häuschen, worin
sie allein wohnen, Viehwirtschaft und ein paar Morgen Land und dazu die
Sicherheit, nicht gekündigt zu werden, so lange sie pünktlich Miet- und Pacht¬
zins zahlen. Sie sind zu Hause ihre Herren. Da spielt der Weg keine Rolle.
Aber eben diese Freiheit fehlt den heimatlosen Tagelöhnern.

Gesetzt, die Versicherungsanstalt Sachsen-Anhalt baute neben die alten
Tagelöhnerhütten neue Arbeiterhäuser mit kleinen Gärten und vermietete sie an
den freien Arbeiter nach den gewöhnlichen Mietgebränchen, so wäre das er¬
reicht, was bis jetzt fehlt. Die Leute hätten eine Wohnung, aus der sie nicht
getrieben werden könnten, so lange sie ihre Miete zahlen, wobei ich annehme,
daß die Behörde auch gelegentlich ein Vierteljahr Geduld haben würde. Je
mehr solcher Arbeiterhäuser, desto mehr unabhängige, wenn auch besitzlose
Landarbeiter würde es geben. Das zwecklose und verderbliche Umherziehen


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[0125] Tagelöhnerhäuser und freier als viele Leute des Mittelstands. Zum Beispiel der Zwang, das; die Frau in der Ernte mitarbeiten muß — die meisten kleinen Besitzer ver¬ langen das —, ist manchem beinahe ehrenrührig. Ich kenne einen Arbeiter mit großer Familie, der deshalb im November den Dienst verließ, obwohl er mit seinem Herrn zufrieden war, sich also für den Winter brotlos machte und in die kleine Stadt zog, wo um diese Zeit doch die geringste Nachfrage nach Arbeitern ist. Er trug mir das vor mit den Worten: Man kriegt immer Arbeit; aber meine Frau soll bei den Kindern bleiben. Dieser Freiheitstvlz, nicht der Glaube, daß sie in der Stadt weiter kommen könnten, treibt die Leute von einem Herrn zum andern und schließlich in die Stadt und sorgt dafür, daß der Stand der Tagelöhner keinen tüchtigen Nachwuchs bekommt. In der Stadt haben sie Freiheit, ihre Herren zu wählen und zu wechseln und sozusagen die Herren ihres Herrn zu sein. Das ist es, was sie ganz mit Recht lockt. Wenn auch die Gutsherren ihnen die komfortabelsten Häuser hinbauten, die Leute würden doch nach der Stadt gehn, nach der Freiheit, die sie suchen. Würde man dagegen den Leuten ihre Tagelöhnerhäuser zu eigen geben, oder sie zur Miete wohnen lassen, aber nicht bei ihrem Herrn, sondern bei einem unbeteiligten dritten, sodaß sie ihre kleinen Wirtschaften fortführen und verbessern und doch von einem Herrn zum andern laufen könnten, so bin ich überzeugt, es würden sich auch die Tüchtigsten halten lassen. Denn unter solchen Umständen sind sie wieder ans dem Lande freier als in der Stadt. Sie würden vielleicht seltner den Dienst wechseln als jetzt und bei dem Herrn dauernd arbeiten, vor dessen Thorweg sie wohnen. Aber sie hätten doch die Macht, ihm jeden Tag den Stuhl vor die Thür zu setzen, ohne dadurch ob¬ dachlos zu werden, und sie würden sich nicht scheuen, ein ganzes Jahr lang täglich ein bis zwei Stunden über Land zu einem andern zu laufen, um ihre Freiheit zu beweisen. Ich kenne Leute — sie gehören zu den besten Arbeitern —, die eine Stunde vor der kleinen Stadt wohnen, in der sie arbeiten, nur um die Freiheiten des Landlebens zu genießen. Sie haben ein Häuschen, worin sie allein wohnen, Viehwirtschaft und ein paar Morgen Land und dazu die Sicherheit, nicht gekündigt zu werden, so lange sie pünktlich Miet- und Pacht¬ zins zahlen. Sie sind zu Hause ihre Herren. Da spielt der Weg keine Rolle. Aber eben diese Freiheit fehlt den heimatlosen Tagelöhnern. Gesetzt, die Versicherungsanstalt Sachsen-Anhalt baute neben die alten Tagelöhnerhütten neue Arbeiterhäuser mit kleinen Gärten und vermietete sie an den freien Arbeiter nach den gewöhnlichen Mietgebränchen, so wäre das er¬ reicht, was bis jetzt fehlt. Die Leute hätten eine Wohnung, aus der sie nicht getrieben werden könnten, so lange sie ihre Miete zahlen, wobei ich annehme, daß die Behörde auch gelegentlich ein Vierteljahr Geduld haben würde. Je mehr solcher Arbeiterhäuser, desto mehr unabhängige, wenn auch besitzlose Landarbeiter würde es geben. Das zwecklose und verderbliche Umherziehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/125>, abgerufen am 28.09.2024.