Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.Das tolle Jahr in einer kleine" Stadt zu nehmen; sie erwähnte selbst nicht mit den bescheidensten Worten die Eröffnung Religiöse Bewegungen pflegen dem Ausdruck) sozialer und politischer Kämpfe Die Hingebung an das preußische Herrscherhaus konnte bei einer Bevölkerung, Grenzboten II 189" 13
Das tolle Jahr in einer kleine» Stadt zu nehmen; sie erwähnte selbst nicht mit den bescheidensten Worten die Eröffnung Religiöse Bewegungen pflegen dem Ausdruck) sozialer und politischer Kämpfe Die Hingebung an das preußische Herrscherhaus konnte bei einer Bevölkerung, Grenzboten II 189» 13
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0105" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230537"/> <fw type="header" place="top"> Das tolle Jahr in einer kleine» Stadt</fw><lb/> <p xml:id="ID_339" prev="#ID_338"> zu nehmen; sie erwähnte selbst nicht mit den bescheidensten Worten die Eröffnung<lb/> der Bahnlinie Halle-Naumburg-Weimar: ein Bahuhofsdroschkentarif ist der einzige<lb/> Fingerzeig eins den Beginn des Eisenbahnverkehrs. seichter Anekdotenkram, fade<lb/> moralische Abhandlungen und ein paar amtliche Bekanntmachungen sind die saftlose<lb/> Speise, die in vier dürftigen Quartseiten wöchentlich einmal — seit 1345 zwei¬<lb/> mal — dem genügsamen Leser aufgetischt wurden, nachdem die Zensnrbehörde in<lb/> Merseburg vorher umständlich die Druckerlaubnis erteilt hatte. Eine größere<lb/> Zeitung von auswärts zu beziehen, die Preußische Stantszeitung oder den Hallische»<lb/> Kurier, war ein Luxus, den sich nur wenige anspruchsvolle Geister gönnten; und<lb/> so war der Bürger ohne die Schulung der Presse auf politischem Gebiete knabenhaft<lb/> unreif, als die Springflut neuer Ideen in seinen Winkel brach und tausend un¬<lb/> gelöste Frage« ein Urteil von seinem Verstände forderten.</p><lb/> <p xml:id="ID_340"> Religiöse Bewegungen pflegen dem Ausdruck) sozialer und politischer Kämpfe<lb/> voranzugehen. Auf kirchlichem Gebiete regte sich zuerst der fortschrittliche Volksgeist<lb/> auch in unsrer Stadt. Am 9. Juli l 845 sammelten sich über tausend Menschen<lb/> um deu Führer der freien Gemeinde, den Pastor Nhlich, nnter dem freien Himmel<lb/> des Bürgergartens, und „der protestantische O'Connel" sprach „über das Losungs¬<lb/> wort unsrer Zeit, die mit lauter Stimme Vorwärts ruft." In dem Meeting dieser<lb/> „protestantischen Freunde" oder „Lichtfreunde" gewahrte man auch den Freiheits¬<lb/> sänger Prutz und deu nlteu Jahr. Auch die geistesverwandte Bewegung der<lb/> Rongischen Deutschkatholiken fand in der Stadt einen trefflichen Wurzelboden. Bald<lb/> hielt der exkommunizierte Pfarrer Kerbler in der protestantischen Otmarskirche in<lb/> Gegenwart der protestantischen Geistlichen einen Gottesdienst und veranlaßte damit<lb/> die Gründung einer „christkatholischen" Gemeinde. Das Bemerkenswerte dieser<lb/> Vorgänge liegt in der Thatsache, daß das religiöse Bewußtsein jeuer Tage in allen<lb/> Kreisen der Einwohnerschaft kräftig angestachelt war. Selbst zwei der städtischen<lb/> Pastoren bekannten öffentlich ihre Sympathie mit den freireligiösen Ideen; und<lb/> diese Strömung brachte einen so wenig illoyalen Hauch mit sich, daß an einem<lb/> großen allgemeinen Festmahle zu Ehren Uhlichs der Oberlandesgerichtsprnsident<lb/> ein „Bürgerlich" vortrug, das er verfaßt hatte. Es heißt darin: „Ob wir können<lb/> präsidieren, oder müssen Bogen schmieren, ohne Rast und ohne Ruh; ob wir just<lb/> Kollegien lesen, oder ob wir drehen Besen — das thut nichts dazu. . . Aber ob<lb/> wir neues bauen, oder altes nur verdauen, wie das Gras die .Kuh; ob wir für<lb/> die Welt was schaffen, oder mir die Welt begassen — das thut was dazu!" Ein<lb/> Dämpfer ward dem Schwärmer sehr bald aufgesetzt, als die Polizei die Abhaltung<lb/> eiuer zweiten freireligiösen Versammlung verbot.</p><lb/> <p xml:id="ID_341"> Die Hingebung an das preußische Herrscherhaus konnte bei einer Bevölkerung,<lb/> die erst seit dreißig Jahren unter dem Adlerwappen stand, noch nicht durch ge¬<lb/> schichtliche Tradition gekräftigt sein; aber es war doch in der patriarchalischen Zeit<lb/> ein großes Freudenfest, als der König Friedrich Wilhelm IV. mit seiner Gemahlin<lb/> auf der Reise nach dem Schlosse Stolzenfels am 24. und 25. Juli 1345 in der<lb/> Stadt verweilte. Da ist es um ein fremdartiger Ton, der mitten dnrch das<lb/> Preislied der Empfangsfeierlichkeiten bricht: „Bei der Huld und Freundlichkeit des<lb/> geliebten Königs fühlte es ein jeder, daß demselben keine Schuld beizumessen ist,<lb/> wenn hier und da eine mißmutige Stimmung sich erhebt, was zu unsrer unzu¬<lb/> friednen Zeit in allen Staaten nichts seltenes ist. . . . Gewiß dürfen wir ans<lb/> Besserung hoffen, sofern dieselbe in unsers Königs Macht liegt, sowie auch die<lb/> Hoffnung auf eine reichsständische Verfassung durch manche königliche Äußerungen<lb/> wieder auftaucht."</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 189» 13</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0105]
Das tolle Jahr in einer kleine» Stadt
zu nehmen; sie erwähnte selbst nicht mit den bescheidensten Worten die Eröffnung
der Bahnlinie Halle-Naumburg-Weimar: ein Bahuhofsdroschkentarif ist der einzige
Fingerzeig eins den Beginn des Eisenbahnverkehrs. seichter Anekdotenkram, fade
moralische Abhandlungen und ein paar amtliche Bekanntmachungen sind die saftlose
Speise, die in vier dürftigen Quartseiten wöchentlich einmal — seit 1345 zwei¬
mal — dem genügsamen Leser aufgetischt wurden, nachdem die Zensnrbehörde in
Merseburg vorher umständlich die Druckerlaubnis erteilt hatte. Eine größere
Zeitung von auswärts zu beziehen, die Preußische Stantszeitung oder den Hallische»
Kurier, war ein Luxus, den sich nur wenige anspruchsvolle Geister gönnten; und
so war der Bürger ohne die Schulung der Presse auf politischem Gebiete knabenhaft
unreif, als die Springflut neuer Ideen in seinen Winkel brach und tausend un¬
gelöste Frage« ein Urteil von seinem Verstände forderten.
Religiöse Bewegungen pflegen dem Ausdruck) sozialer und politischer Kämpfe
voranzugehen. Auf kirchlichem Gebiete regte sich zuerst der fortschrittliche Volksgeist
auch in unsrer Stadt. Am 9. Juli l 845 sammelten sich über tausend Menschen
um deu Führer der freien Gemeinde, den Pastor Nhlich, nnter dem freien Himmel
des Bürgergartens, und „der protestantische O'Connel" sprach „über das Losungs¬
wort unsrer Zeit, die mit lauter Stimme Vorwärts ruft." In dem Meeting dieser
„protestantischen Freunde" oder „Lichtfreunde" gewahrte man auch den Freiheits¬
sänger Prutz und deu nlteu Jahr. Auch die geistesverwandte Bewegung der
Rongischen Deutschkatholiken fand in der Stadt einen trefflichen Wurzelboden. Bald
hielt der exkommunizierte Pfarrer Kerbler in der protestantischen Otmarskirche in
Gegenwart der protestantischen Geistlichen einen Gottesdienst und veranlaßte damit
die Gründung einer „christkatholischen" Gemeinde. Das Bemerkenswerte dieser
Vorgänge liegt in der Thatsache, daß das religiöse Bewußtsein jeuer Tage in allen
Kreisen der Einwohnerschaft kräftig angestachelt war. Selbst zwei der städtischen
Pastoren bekannten öffentlich ihre Sympathie mit den freireligiösen Ideen; und
diese Strömung brachte einen so wenig illoyalen Hauch mit sich, daß an einem
großen allgemeinen Festmahle zu Ehren Uhlichs der Oberlandesgerichtsprnsident
ein „Bürgerlich" vortrug, das er verfaßt hatte. Es heißt darin: „Ob wir können
präsidieren, oder müssen Bogen schmieren, ohne Rast und ohne Ruh; ob wir just
Kollegien lesen, oder ob wir drehen Besen — das thut nichts dazu. . . Aber ob
wir neues bauen, oder altes nur verdauen, wie das Gras die .Kuh; ob wir für
die Welt was schaffen, oder mir die Welt begassen — das thut was dazu!" Ein
Dämpfer ward dem Schwärmer sehr bald aufgesetzt, als die Polizei die Abhaltung
eiuer zweiten freireligiösen Versammlung verbot.
Die Hingebung an das preußische Herrscherhaus konnte bei einer Bevölkerung,
die erst seit dreißig Jahren unter dem Adlerwappen stand, noch nicht durch ge¬
schichtliche Tradition gekräftigt sein; aber es war doch in der patriarchalischen Zeit
ein großes Freudenfest, als der König Friedrich Wilhelm IV. mit seiner Gemahlin
auf der Reise nach dem Schlosse Stolzenfels am 24. und 25. Juli 1345 in der
Stadt verweilte. Da ist es um ein fremdartiger Ton, der mitten dnrch das
Preislied der Empfangsfeierlichkeiten bricht: „Bei der Huld und Freundlichkeit des
geliebten Königs fühlte es ein jeder, daß demselben keine Schuld beizumessen ist,
wenn hier und da eine mißmutige Stimmung sich erhebt, was zu unsrer unzu¬
friednen Zeit in allen Staaten nichts seltenes ist. . . . Gewiß dürfen wir ans
Besserung hoffen, sofern dieselbe in unsers Königs Macht liegt, sowie auch die
Hoffnung auf eine reichsständische Verfassung durch manche königliche Äußerungen
wieder auftaucht."
Grenzboten II 189» 13
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |