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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gorhcirt i^auptmann und sein Biograph

es nicht verwerflich finden, daß sich ein Dichter durch seinen Stoff genötigt
sieht, psychologische Beobachtungen bis zu psychopathischen Schlußfolgerungen
hinzutreiben. Und wer das gelten laßt, wird die strenge, herbe, ernste Form,
in ders im "Friedensfest" geschieht, künstlerisch bewerten." Hierin liegt wiederum
eine ästhetische Unklarheit, die auf der Unklarheit der sittlichen Lebensanschauung
beruht. Haben wir vorhin nachgewiesen, daß die Handlung eines dramatischen
Helden ans der Folgerichtigkeit beruht, daß auf gewisse Voraussetzungen bestimmte
Folgen eintreten müssen, daß bestimmte Charaktereigenschaften entsprechende Hand¬
lungen zeitigen müssen, so muß hier darauf hingewiesen werden, daß die Entwicklung
der dramatischen Handlung auf der Verantwortlichkeit des Helden ruht. Nur
wenn der vorgeführte Charakter für seiue Worte und Thaten verantwortlich
ist, wenn seine Lebensäußerungen die Folgen haben, die wir aus Vernunft
und Erfahrung als notwendige ansehen gelernt haben, können wir ihm das
Interesse entgegenbringen, das, wie es sich im Drama gehört, zur allerpersön-
lichsten Teilnahme des Zuschauers wird. Man erschrecke nicht, wenn wir ganz
unmodern sagen, wir erwarten den Sieg des Guten und den Untergang des
Bösen. Bei Sophokles, Shakespeare, Goethe, Schiller und den hundert
Dramatikern von Belang bis auf die Gegenwart ist es doch so. und es ist
noch sehr die Frage und noch lange nicht ausgemacht, ob wir wegen Schlenthers
moralloser Weltanschauung diese Begriffe umwerten und unser ästhetisches wie
moralisches Gefühl völlig umlernen müssen.

Das alles aber besteht nur, wenn es einen Unterschied von Gut und
Böse giebt, und wenn der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist.
Das ist ° er aber nur, wenn er im Besitz seiner normalen Geisteskräfte ist.
Schon einen leiblichen Kranken gewöhnlicher Art machen wir nicht für alles
verantwortlich, was er sagt oder thut. Ebensowenig einen Gemütskranken,
dessen inneres Gleichgewicht etwa durch ein großes Leid gestört ist, am wenigsten
aber einen Geisteskranken, der nicht Herr über sich selbst ist. Ein solcher wird
Gegenstand unsers Mitleids im gewöhnlichen, philanthropischen Sinne, d. h.
wir bedauern ihn und suchen für ihn die Hilfe des Arztes -- aber zum
dramatischen Helden können wir ihn nicht brauchen. Seine anormale Geistes-
beschafsenheit macht ihn dazu ungeeignet. Die wenigen Ausnahmen, die die
Litteratur in dieser Hinsicht aufweist, sprechen durchaus für unsre Auffassung.

In den "Einsamen Menschen," die auf das "Friedensfest" folgten, sieht
Schlenther mit Recht einen entschiednen Fortschritt. Seine Analyse des Dramas
ist klar und fein, seine Gruudauffasfung aber nicht die unsre. Der Vorzug
des Stückes liegt in der Folgerichtigkeit der dargestellten Vorgänge und
in der durchsichtigen Charakterzeichnung des Haupthelden. Der junge Gelehrte
Johannes Vvckerath ist den altväterischen Vorstellungen seiner Familie entwachsen,
hat den festen Grund, der in ihnen lag, unter den Füßen verloren, seitdem er
auf Kosten des Christentums Haeckelicmer geworden ist. Aber er hat nicht die


Gorhcirt i^auptmann und sein Biograph

es nicht verwerflich finden, daß sich ein Dichter durch seinen Stoff genötigt
sieht, psychologische Beobachtungen bis zu psychopathischen Schlußfolgerungen
hinzutreiben. Und wer das gelten laßt, wird die strenge, herbe, ernste Form,
in ders im »Friedensfest« geschieht, künstlerisch bewerten." Hierin liegt wiederum
eine ästhetische Unklarheit, die auf der Unklarheit der sittlichen Lebensanschauung
beruht. Haben wir vorhin nachgewiesen, daß die Handlung eines dramatischen
Helden ans der Folgerichtigkeit beruht, daß auf gewisse Voraussetzungen bestimmte
Folgen eintreten müssen, daß bestimmte Charaktereigenschaften entsprechende Hand¬
lungen zeitigen müssen, so muß hier darauf hingewiesen werden, daß die Entwicklung
der dramatischen Handlung auf der Verantwortlichkeit des Helden ruht. Nur
wenn der vorgeführte Charakter für seiue Worte und Thaten verantwortlich
ist, wenn seine Lebensäußerungen die Folgen haben, die wir aus Vernunft
und Erfahrung als notwendige ansehen gelernt haben, können wir ihm das
Interesse entgegenbringen, das, wie es sich im Drama gehört, zur allerpersön-
lichsten Teilnahme des Zuschauers wird. Man erschrecke nicht, wenn wir ganz
unmodern sagen, wir erwarten den Sieg des Guten und den Untergang des
Bösen. Bei Sophokles, Shakespeare, Goethe, Schiller und den hundert
Dramatikern von Belang bis auf die Gegenwart ist es doch so. und es ist
noch sehr die Frage und noch lange nicht ausgemacht, ob wir wegen Schlenthers
moralloser Weltanschauung diese Begriffe umwerten und unser ästhetisches wie
moralisches Gefühl völlig umlernen müssen.

Das alles aber besteht nur, wenn es einen Unterschied von Gut und
Böse giebt, und wenn der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist.
Das ist ° er aber nur, wenn er im Besitz seiner normalen Geisteskräfte ist.
Schon einen leiblichen Kranken gewöhnlicher Art machen wir nicht für alles
verantwortlich, was er sagt oder thut. Ebensowenig einen Gemütskranken,
dessen inneres Gleichgewicht etwa durch ein großes Leid gestört ist, am wenigsten
aber einen Geisteskranken, der nicht Herr über sich selbst ist. Ein solcher wird
Gegenstand unsers Mitleids im gewöhnlichen, philanthropischen Sinne, d. h.
wir bedauern ihn und suchen für ihn die Hilfe des Arztes — aber zum
dramatischen Helden können wir ihn nicht brauchen. Seine anormale Geistes-
beschafsenheit macht ihn dazu ungeeignet. Die wenigen Ausnahmen, die die
Litteratur in dieser Hinsicht aufweist, sprechen durchaus für unsre Auffassung.

In den „Einsamen Menschen," die auf das „Friedensfest" folgten, sieht
Schlenther mit Recht einen entschiednen Fortschritt. Seine Analyse des Dramas
ist klar und fein, seine Gruudauffasfung aber nicht die unsre. Der Vorzug
des Stückes liegt in der Folgerichtigkeit der dargestellten Vorgänge und
in der durchsichtigen Charakterzeichnung des Haupthelden. Der junge Gelehrte
Johannes Vvckerath ist den altväterischen Vorstellungen seiner Familie entwachsen,
hat den festen Grund, der in ihnen lag, unter den Füßen verloren, seitdem er
auf Kosten des Christentums Haeckelicmer geworden ist. Aber er hat nicht die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/98>, abgerufen am 23.07.2024.