Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Politik und Finanzen in Rußland

Ausbau ihres Vahnnetzes und durch billige Frachttarife die Erzeugung von
Getreide zum Versand ins Ausland zu steigern. Der Bau jeder neuen Bahn
hatte zur Folge, daß sich große Strecken brach oder uuter Weide liegenden
Bodens in Acker verwandelten, was dann allerdings eine Ausfuhrzahl an Ge¬
treide ergab, die sich schon im Jahre 1884 auf 310 Millionen Rubel belief.
Diese Ausdehnung des Kornbaues war nur möglich unter der Voraussetzung,
daß er zum größten Teil als Raubbau betrieben wurde, indem alles ackcr-
fähige Land umgebrochen und Jahr für Jahr mit Getreide bestellt wurde,
ohne Düngung als höchstens mit Kunstdünger, ohne intensive Ackerung; und
während die Wiesen zu Gunsten des Kornbaues verschwanden, sank dann auch
der Viehbestand hinab. Wenn man von den Grenzgebieten mit fremder Natio¬
nalität, höherer Kultur, dürftigerm Boden und dementsprechend intensiverm
Landbau absieht, so ruht die gesamte Getreideausfuhr Rußlands auf Raubbau.
Der weitaus größte Teil der Brotfrüchte wird in den fetten Gebieten des
südlichen, östlichen, südwestlichen und mittlern Rußlands gewonnen, wo der
Großgrundbesitzer nur wenig, der Bauer gar uicht den Acker düngt. Daß
im Durchschnitt Raubbau getrieben wird, geht auch daraus hervor, daß sich
Rußland, während z. B. England 18 Korn von seinem Acker erntet, mit
41/2 Korn begnügt; und da das Kornverhültnis gerade in den ärmern, aber
intensiv bebauten Grenzländern besser ist (6--7 Korn von der Aussaat), so
folgt daraus, daß die russischen Ebenen nicht einmal vier Korn ernten. Auf
so außerordentlich fruchtbarem Boden bedeutet das offenbar Raubbau.

Von großer Bedeutung ferner ist der Umstand, daß der russische Bauer
(ich nehme die Grenzler wieder aus) nur wenig Getreide für den Export baut.
Sein Acker von vier Hektar nährt ihn bei dem Raubbau nicht; vielmehr muß
er sich außerhalb noch Zuschuß erwerben und Brotfrucht kaufen, und wo er
mehr Land besitzt, da verkauft er doch wenig, geht dafür aber auch nicht nach
Nebenverdienst aus. Verkauft der Bauer Getreide -- und das geschieht aller¬
dings vielfach --, so ist es im Herbst, um schnell Steuern oder Schulden zu
decken; und überall pflegt der Bauer im Frühling Brotfrucht und Saat zu
kaufen, weil er im Herbst hatte verkaufen müssen, sodaß rund herum kaum
etwas zur Ausfuhr übrig bleibt. Einen verkäuflichen Überschuß an Getreide
erarbeitet nur der Großbesitzer, und von seinen Ernten hängen die Getreide¬
ausfuhr des Reichs und weiter auch die Handelsbilanz uno die Zahlfähig¬
keit ab.

(Schluß folgt)




Politik und Finanzen in Rußland

Ausbau ihres Vahnnetzes und durch billige Frachttarife die Erzeugung von
Getreide zum Versand ins Ausland zu steigern. Der Bau jeder neuen Bahn
hatte zur Folge, daß sich große Strecken brach oder uuter Weide liegenden
Bodens in Acker verwandelten, was dann allerdings eine Ausfuhrzahl an Ge¬
treide ergab, die sich schon im Jahre 1884 auf 310 Millionen Rubel belief.
Diese Ausdehnung des Kornbaues war nur möglich unter der Voraussetzung,
daß er zum größten Teil als Raubbau betrieben wurde, indem alles ackcr-
fähige Land umgebrochen und Jahr für Jahr mit Getreide bestellt wurde,
ohne Düngung als höchstens mit Kunstdünger, ohne intensive Ackerung; und
während die Wiesen zu Gunsten des Kornbaues verschwanden, sank dann auch
der Viehbestand hinab. Wenn man von den Grenzgebieten mit fremder Natio¬
nalität, höherer Kultur, dürftigerm Boden und dementsprechend intensiverm
Landbau absieht, so ruht die gesamte Getreideausfuhr Rußlands auf Raubbau.
Der weitaus größte Teil der Brotfrüchte wird in den fetten Gebieten des
südlichen, östlichen, südwestlichen und mittlern Rußlands gewonnen, wo der
Großgrundbesitzer nur wenig, der Bauer gar uicht den Acker düngt. Daß
im Durchschnitt Raubbau getrieben wird, geht auch daraus hervor, daß sich
Rußland, während z. B. England 18 Korn von seinem Acker erntet, mit
41/2 Korn begnügt; und da das Kornverhültnis gerade in den ärmern, aber
intensiv bebauten Grenzländern besser ist (6—7 Korn von der Aussaat), so
folgt daraus, daß die russischen Ebenen nicht einmal vier Korn ernten. Auf
so außerordentlich fruchtbarem Boden bedeutet das offenbar Raubbau.

Von großer Bedeutung ferner ist der Umstand, daß der russische Bauer
(ich nehme die Grenzler wieder aus) nur wenig Getreide für den Export baut.
Sein Acker von vier Hektar nährt ihn bei dem Raubbau nicht; vielmehr muß
er sich außerhalb noch Zuschuß erwerben und Brotfrucht kaufen, und wo er
mehr Land besitzt, da verkauft er doch wenig, geht dafür aber auch nicht nach
Nebenverdienst aus. Verkauft der Bauer Getreide — und das geschieht aller¬
dings vielfach —, so ist es im Herbst, um schnell Steuern oder Schulden zu
decken; und überall pflegt der Bauer im Frühling Brotfrucht und Saat zu
kaufen, weil er im Herbst hatte verkaufen müssen, sodaß rund herum kaum
etwas zur Ausfuhr übrig bleibt. Einen verkäuflichen Überschuß an Getreide
erarbeitet nur der Großbesitzer, und von seinen Ernten hängen die Getreide¬
ausfuhr des Reichs und weiter auch die Handelsbilanz uno die Zahlfähig¬
keit ab.

(Schluß folgt)




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0088" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229774"/>
          <fw type="header" place="top"> Politik und Finanzen in Rußland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_325" prev="#ID_324"> Ausbau ihres Vahnnetzes und durch billige Frachttarife die Erzeugung von<lb/>
Getreide zum Versand ins Ausland zu steigern. Der Bau jeder neuen Bahn<lb/>
hatte zur Folge, daß sich große Strecken brach oder uuter Weide liegenden<lb/>
Bodens in Acker verwandelten, was dann allerdings eine Ausfuhrzahl an Ge¬<lb/>
treide ergab, die sich schon im Jahre 1884 auf 310 Millionen Rubel belief.<lb/>
Diese Ausdehnung des Kornbaues war nur möglich unter der Voraussetzung,<lb/>
daß er zum größten Teil als Raubbau betrieben wurde, indem alles ackcr-<lb/>
fähige Land umgebrochen und Jahr für Jahr mit Getreide bestellt wurde,<lb/>
ohne Düngung als höchstens mit Kunstdünger, ohne intensive Ackerung; und<lb/>
während die Wiesen zu Gunsten des Kornbaues verschwanden, sank dann auch<lb/>
der Viehbestand hinab. Wenn man von den Grenzgebieten mit fremder Natio¬<lb/>
nalität, höherer Kultur, dürftigerm Boden und dementsprechend intensiverm<lb/>
Landbau absieht, so ruht die gesamte Getreideausfuhr Rußlands auf Raubbau.<lb/>
Der weitaus größte Teil der Brotfrüchte wird in den fetten Gebieten des<lb/>
südlichen, östlichen, südwestlichen und mittlern Rußlands gewonnen, wo der<lb/>
Großgrundbesitzer nur wenig, der Bauer gar uicht den Acker düngt. Daß<lb/>
im Durchschnitt Raubbau getrieben wird, geht auch daraus hervor, daß sich<lb/>
Rußland, während z. B. England 18 Korn von seinem Acker erntet, mit<lb/>
41/2 Korn begnügt; und da das Kornverhültnis gerade in den ärmern, aber<lb/>
intensiv bebauten Grenzländern besser ist (6&#x2014;7 Korn von der Aussaat), so<lb/>
folgt daraus, daß die russischen Ebenen nicht einmal vier Korn ernten. Auf<lb/>
so außerordentlich fruchtbarem Boden bedeutet das offenbar Raubbau.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_326"> Von großer Bedeutung ferner ist der Umstand, daß der russische Bauer<lb/>
(ich nehme die Grenzler wieder aus) nur wenig Getreide für den Export baut.<lb/>
Sein Acker von vier Hektar nährt ihn bei dem Raubbau nicht; vielmehr muß<lb/>
er sich außerhalb noch Zuschuß erwerben und Brotfrucht kaufen, und wo er<lb/>
mehr Land besitzt, da verkauft er doch wenig, geht dafür aber auch nicht nach<lb/>
Nebenverdienst aus. Verkauft der Bauer Getreide &#x2014; und das geschieht aller¬<lb/>
dings vielfach &#x2014;, so ist es im Herbst, um schnell Steuern oder Schulden zu<lb/>
decken; und überall pflegt der Bauer im Frühling Brotfrucht und Saat zu<lb/>
kaufen, weil er im Herbst hatte verkaufen müssen, sodaß rund herum kaum<lb/>
etwas zur Ausfuhr übrig bleibt. Einen verkäuflichen Überschuß an Getreide<lb/>
erarbeitet nur der Großbesitzer, und von seinen Ernten hängen die Getreide¬<lb/>
ausfuhr des Reichs und weiter auch die Handelsbilanz uno die Zahlfähig¬<lb/>
keit ab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_327"> (Schluß folgt)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0088] Politik und Finanzen in Rußland Ausbau ihres Vahnnetzes und durch billige Frachttarife die Erzeugung von Getreide zum Versand ins Ausland zu steigern. Der Bau jeder neuen Bahn hatte zur Folge, daß sich große Strecken brach oder uuter Weide liegenden Bodens in Acker verwandelten, was dann allerdings eine Ausfuhrzahl an Ge¬ treide ergab, die sich schon im Jahre 1884 auf 310 Millionen Rubel belief. Diese Ausdehnung des Kornbaues war nur möglich unter der Voraussetzung, daß er zum größten Teil als Raubbau betrieben wurde, indem alles ackcr- fähige Land umgebrochen und Jahr für Jahr mit Getreide bestellt wurde, ohne Düngung als höchstens mit Kunstdünger, ohne intensive Ackerung; und während die Wiesen zu Gunsten des Kornbaues verschwanden, sank dann auch der Viehbestand hinab. Wenn man von den Grenzgebieten mit fremder Natio¬ nalität, höherer Kultur, dürftigerm Boden und dementsprechend intensiverm Landbau absieht, so ruht die gesamte Getreideausfuhr Rußlands auf Raubbau. Der weitaus größte Teil der Brotfrüchte wird in den fetten Gebieten des südlichen, östlichen, südwestlichen und mittlern Rußlands gewonnen, wo der Großgrundbesitzer nur wenig, der Bauer gar uicht den Acker düngt. Daß im Durchschnitt Raubbau getrieben wird, geht auch daraus hervor, daß sich Rußland, während z. B. England 18 Korn von seinem Acker erntet, mit 41/2 Korn begnügt; und da das Kornverhültnis gerade in den ärmern, aber intensiv bebauten Grenzländern besser ist (6—7 Korn von der Aussaat), so folgt daraus, daß die russischen Ebenen nicht einmal vier Korn ernten. Auf so außerordentlich fruchtbarem Boden bedeutet das offenbar Raubbau. Von großer Bedeutung ferner ist der Umstand, daß der russische Bauer (ich nehme die Grenzler wieder aus) nur wenig Getreide für den Export baut. Sein Acker von vier Hektar nährt ihn bei dem Raubbau nicht; vielmehr muß er sich außerhalb noch Zuschuß erwerben und Brotfrucht kaufen, und wo er mehr Land besitzt, da verkauft er doch wenig, geht dafür aber auch nicht nach Nebenverdienst aus. Verkauft der Bauer Getreide — und das geschieht aller¬ dings vielfach —, so ist es im Herbst, um schnell Steuern oder Schulden zu decken; und überall pflegt der Bauer im Frühling Brotfrucht und Saat zu kaufen, weil er im Herbst hatte verkaufen müssen, sodaß rund herum kaum etwas zur Ausfuhr übrig bleibt. Einen verkäuflichen Überschuß an Getreide erarbeitet nur der Großbesitzer, und von seinen Ernten hängen die Getreide¬ ausfuhr des Reichs und weiter auch die Handelsbilanz uno die Zahlfähig¬ keit ab. (Schluß folgt)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/88
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/88>, abgerufen am 23.07.2024.