Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Politik und Finanzen in Rußland

Führung seiner Geldwirtschaft, die Aufrechthaltung des Rubelkurses sehr er¬
leichtert. Das Hereinziehen fremden Goldes liegt im Interesse sowohl der
industriellen Entwicklung des Landes als der finanziellen Kräftigung. Jede
Million Mark oder Franken, die ins Land kommt, um ein industrielles Unter¬
nehmen zu fördern, dient zur Befestigung des Rubelkurses und hilft der
Staatsbank ihr Papiergeld vom Auslande zurückbringen. Dieser Umstand wird
von Herrn Jssajew übersehen, indem er in der Zahlungsbilanz an das Aus¬
land nächst der staatlichen Zinszahlung als zweiten bedeutendsten Posten die
Summen in Anschlag bringt, die von russischen Reisenden im Auslande aus¬
gegeben werden. Die Kapitalbewegung nach und aus dem russischen Reich ist
schwer zu schätzen. Indessen dürften die von Reisenden ins Ausland abge¬
führten Summen, so groß sie sein mögen, bei weitem nicht dem Kapital gleich¬
kommen, das jährlich von außen her in Nußland, wenigstens seit einer Reihe
von Jahren, Anlage findet; und schon aus dem Bedürfnisse, das Gold im
Lande zu halten, wird der Minister auch künftig bestrebt sein müssen, fremdes
Gold der russischen Industrie zuzuführen. Stärker noch drängt hierzu der
Mangel an mobilem, der Industrie zufließenden Kapital im Lande selbst.
Wenn aber Herr Jssajew darauf hinweist, daß zwar viel russisches Geld durch
Lustreisende ins Ausland, sehr wenig fremdes aber auf diesem Wege nach
Rußland gebracht werde, so darf doch auch dessen gedacht werden, daß um¬
gekehrt erkleckliche Summen durch Handelsreisende nach Rußland gehen, aber
sehr wenig auf diesem Wege von dort kommen. Endlich sei auch noch darauf
hingewiesen, daß in der Zahlungsbilanz die Zinsen der in Rußland angelegten
industriellen Kapitale zum größten Teil ins Ausland abfließen, also einen
Debetposten schaffen.

Alle diese Dinge werden jedoch bei dem Mangel an fremden Werten die
russische Zahlungsbilanz nur dann und solange zu halten vermögen, wenn und
solange eine gute, d. h. aktive Handelsbilanz zu Grunde liegt. Die englische
Handelsbilanz zeigt ein stetes Defizit vou mehr als einer Milliarde; diese aber
wird voll gedeckt und weit überdeckt von den Zinsen, die für fremde Werte oder
aus Dividenden von Unternehmungen, die mit englischem Gelde in allen Teilen
der Welt geführt werden, nach England fließen. Rußland hat im Auslande
weder Schuldner, die ihm Zinsen zahlen, noch industrielle oder andre Anlagen,
deren Erträge ihm zufließen, ist vielmehr in beiden Beziehungen dem Aus¬
lande stark verpflichtet. So wird seine Zahlfähigkeit hauptsächlich davon ab¬
hängen, ob es nach wie vor mehr an das Ausland verkaufen kann, als es
kauft. Und da die Hälfte aller ausgeführten Waren in Lebensmitteln, von
der andern Hälfte aber der größte Teil in land- und forstwirtschaftlichen Pro¬
dukten besteht, so hängt die Zahlfähigkeit Rußlands an das Ausland nicht
von seiner Industrie, sondern von seiner Landwirtschaft ab.

Etwa seit dreißig Jahren ist die russische Negierung bemüht, durch den


Politik und Finanzen in Rußland

Führung seiner Geldwirtschaft, die Aufrechthaltung des Rubelkurses sehr er¬
leichtert. Das Hereinziehen fremden Goldes liegt im Interesse sowohl der
industriellen Entwicklung des Landes als der finanziellen Kräftigung. Jede
Million Mark oder Franken, die ins Land kommt, um ein industrielles Unter¬
nehmen zu fördern, dient zur Befestigung des Rubelkurses und hilft der
Staatsbank ihr Papiergeld vom Auslande zurückbringen. Dieser Umstand wird
von Herrn Jssajew übersehen, indem er in der Zahlungsbilanz an das Aus¬
land nächst der staatlichen Zinszahlung als zweiten bedeutendsten Posten die
Summen in Anschlag bringt, die von russischen Reisenden im Auslande aus¬
gegeben werden. Die Kapitalbewegung nach und aus dem russischen Reich ist
schwer zu schätzen. Indessen dürften die von Reisenden ins Ausland abge¬
führten Summen, so groß sie sein mögen, bei weitem nicht dem Kapital gleich¬
kommen, das jährlich von außen her in Nußland, wenigstens seit einer Reihe
von Jahren, Anlage findet; und schon aus dem Bedürfnisse, das Gold im
Lande zu halten, wird der Minister auch künftig bestrebt sein müssen, fremdes
Gold der russischen Industrie zuzuführen. Stärker noch drängt hierzu der
Mangel an mobilem, der Industrie zufließenden Kapital im Lande selbst.
Wenn aber Herr Jssajew darauf hinweist, daß zwar viel russisches Geld durch
Lustreisende ins Ausland, sehr wenig fremdes aber auf diesem Wege nach
Rußland gebracht werde, so darf doch auch dessen gedacht werden, daß um¬
gekehrt erkleckliche Summen durch Handelsreisende nach Rußland gehen, aber
sehr wenig auf diesem Wege von dort kommen. Endlich sei auch noch darauf
hingewiesen, daß in der Zahlungsbilanz die Zinsen der in Rußland angelegten
industriellen Kapitale zum größten Teil ins Ausland abfließen, also einen
Debetposten schaffen.

Alle diese Dinge werden jedoch bei dem Mangel an fremden Werten die
russische Zahlungsbilanz nur dann und solange zu halten vermögen, wenn und
solange eine gute, d. h. aktive Handelsbilanz zu Grunde liegt. Die englische
Handelsbilanz zeigt ein stetes Defizit vou mehr als einer Milliarde; diese aber
wird voll gedeckt und weit überdeckt von den Zinsen, die für fremde Werte oder
aus Dividenden von Unternehmungen, die mit englischem Gelde in allen Teilen
der Welt geführt werden, nach England fließen. Rußland hat im Auslande
weder Schuldner, die ihm Zinsen zahlen, noch industrielle oder andre Anlagen,
deren Erträge ihm zufließen, ist vielmehr in beiden Beziehungen dem Aus¬
lande stark verpflichtet. So wird seine Zahlfähigkeit hauptsächlich davon ab¬
hängen, ob es nach wie vor mehr an das Ausland verkaufen kann, als es
kauft. Und da die Hälfte aller ausgeführten Waren in Lebensmitteln, von
der andern Hälfte aber der größte Teil in land- und forstwirtschaftlichen Pro¬
dukten besteht, so hängt die Zahlfähigkeit Rußlands an das Ausland nicht
von seiner Industrie, sondern von seiner Landwirtschaft ab.

Etwa seit dreißig Jahren ist die russische Negierung bemüht, durch den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0087" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229773"/>
          <fw type="header" place="top"> Politik und Finanzen in Rußland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_322" prev="#ID_321"> Führung seiner Geldwirtschaft, die Aufrechthaltung des Rubelkurses sehr er¬<lb/>
leichtert. Das Hereinziehen fremden Goldes liegt im Interesse sowohl der<lb/>
industriellen Entwicklung des Landes als der finanziellen Kräftigung. Jede<lb/>
Million Mark oder Franken, die ins Land kommt, um ein industrielles Unter¬<lb/>
nehmen zu fördern, dient zur Befestigung des Rubelkurses und hilft der<lb/>
Staatsbank ihr Papiergeld vom Auslande zurückbringen. Dieser Umstand wird<lb/>
von Herrn Jssajew übersehen, indem er in der Zahlungsbilanz an das Aus¬<lb/>
land nächst der staatlichen Zinszahlung als zweiten bedeutendsten Posten die<lb/>
Summen in Anschlag bringt, die von russischen Reisenden im Auslande aus¬<lb/>
gegeben werden. Die Kapitalbewegung nach und aus dem russischen Reich ist<lb/>
schwer zu schätzen. Indessen dürften die von Reisenden ins Ausland abge¬<lb/>
führten Summen, so groß sie sein mögen, bei weitem nicht dem Kapital gleich¬<lb/>
kommen, das jährlich von außen her in Nußland, wenigstens seit einer Reihe<lb/>
von Jahren, Anlage findet; und schon aus dem Bedürfnisse, das Gold im<lb/>
Lande zu halten, wird der Minister auch künftig bestrebt sein müssen, fremdes<lb/>
Gold der russischen Industrie zuzuführen. Stärker noch drängt hierzu der<lb/>
Mangel an mobilem, der Industrie zufließenden Kapital im Lande selbst.<lb/>
Wenn aber Herr Jssajew darauf hinweist, daß zwar viel russisches Geld durch<lb/>
Lustreisende ins Ausland, sehr wenig fremdes aber auf diesem Wege nach<lb/>
Rußland gebracht werde, so darf doch auch dessen gedacht werden, daß um¬<lb/>
gekehrt erkleckliche Summen durch Handelsreisende nach Rußland gehen, aber<lb/>
sehr wenig auf diesem Wege von dort kommen. Endlich sei auch noch darauf<lb/>
hingewiesen, daß in der Zahlungsbilanz die Zinsen der in Rußland angelegten<lb/>
industriellen Kapitale zum größten Teil ins Ausland abfließen, also einen<lb/>
Debetposten schaffen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_323"> Alle diese Dinge werden jedoch bei dem Mangel an fremden Werten die<lb/>
russische Zahlungsbilanz nur dann und solange zu halten vermögen, wenn und<lb/>
solange eine gute, d. h. aktive Handelsbilanz zu Grunde liegt. Die englische<lb/>
Handelsbilanz zeigt ein stetes Defizit vou mehr als einer Milliarde; diese aber<lb/>
wird voll gedeckt und weit überdeckt von den Zinsen, die für fremde Werte oder<lb/>
aus Dividenden von Unternehmungen, die mit englischem Gelde in allen Teilen<lb/>
der Welt geführt werden, nach England fließen. Rußland hat im Auslande<lb/>
weder Schuldner, die ihm Zinsen zahlen, noch industrielle oder andre Anlagen,<lb/>
deren Erträge ihm zufließen, ist vielmehr in beiden Beziehungen dem Aus¬<lb/>
lande stark verpflichtet. So wird seine Zahlfähigkeit hauptsächlich davon ab¬<lb/>
hängen, ob es nach wie vor mehr an das Ausland verkaufen kann, als es<lb/>
kauft. Und da die Hälfte aller ausgeführten Waren in Lebensmitteln, von<lb/>
der andern Hälfte aber der größte Teil in land- und forstwirtschaftlichen Pro¬<lb/>
dukten besteht, so hängt die Zahlfähigkeit Rußlands an das Ausland nicht<lb/>
von seiner Industrie, sondern von seiner Landwirtschaft ab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_324" next="#ID_325"> Etwa seit dreißig Jahren ist die russische Negierung bemüht, durch den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0087] Politik und Finanzen in Rußland Führung seiner Geldwirtschaft, die Aufrechthaltung des Rubelkurses sehr er¬ leichtert. Das Hereinziehen fremden Goldes liegt im Interesse sowohl der industriellen Entwicklung des Landes als der finanziellen Kräftigung. Jede Million Mark oder Franken, die ins Land kommt, um ein industrielles Unter¬ nehmen zu fördern, dient zur Befestigung des Rubelkurses und hilft der Staatsbank ihr Papiergeld vom Auslande zurückbringen. Dieser Umstand wird von Herrn Jssajew übersehen, indem er in der Zahlungsbilanz an das Aus¬ land nächst der staatlichen Zinszahlung als zweiten bedeutendsten Posten die Summen in Anschlag bringt, die von russischen Reisenden im Auslande aus¬ gegeben werden. Die Kapitalbewegung nach und aus dem russischen Reich ist schwer zu schätzen. Indessen dürften die von Reisenden ins Ausland abge¬ führten Summen, so groß sie sein mögen, bei weitem nicht dem Kapital gleich¬ kommen, das jährlich von außen her in Nußland, wenigstens seit einer Reihe von Jahren, Anlage findet; und schon aus dem Bedürfnisse, das Gold im Lande zu halten, wird der Minister auch künftig bestrebt sein müssen, fremdes Gold der russischen Industrie zuzuführen. Stärker noch drängt hierzu der Mangel an mobilem, der Industrie zufließenden Kapital im Lande selbst. Wenn aber Herr Jssajew darauf hinweist, daß zwar viel russisches Geld durch Lustreisende ins Ausland, sehr wenig fremdes aber auf diesem Wege nach Rußland gebracht werde, so darf doch auch dessen gedacht werden, daß um¬ gekehrt erkleckliche Summen durch Handelsreisende nach Rußland gehen, aber sehr wenig auf diesem Wege von dort kommen. Endlich sei auch noch darauf hingewiesen, daß in der Zahlungsbilanz die Zinsen der in Rußland angelegten industriellen Kapitale zum größten Teil ins Ausland abfließen, also einen Debetposten schaffen. Alle diese Dinge werden jedoch bei dem Mangel an fremden Werten die russische Zahlungsbilanz nur dann und solange zu halten vermögen, wenn und solange eine gute, d. h. aktive Handelsbilanz zu Grunde liegt. Die englische Handelsbilanz zeigt ein stetes Defizit vou mehr als einer Milliarde; diese aber wird voll gedeckt und weit überdeckt von den Zinsen, die für fremde Werte oder aus Dividenden von Unternehmungen, die mit englischem Gelde in allen Teilen der Welt geführt werden, nach England fließen. Rußland hat im Auslande weder Schuldner, die ihm Zinsen zahlen, noch industrielle oder andre Anlagen, deren Erträge ihm zufließen, ist vielmehr in beiden Beziehungen dem Aus¬ lande stark verpflichtet. So wird seine Zahlfähigkeit hauptsächlich davon ab¬ hängen, ob es nach wie vor mehr an das Ausland verkaufen kann, als es kauft. Und da die Hälfte aller ausgeführten Waren in Lebensmitteln, von der andern Hälfte aber der größte Teil in land- und forstwirtschaftlichen Pro¬ dukten besteht, so hängt die Zahlfähigkeit Rußlands an das Ausland nicht von seiner Industrie, sondern von seiner Landwirtschaft ab. Etwa seit dreißig Jahren ist die russische Negierung bemüht, durch den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/87
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/87>, abgerufen am 23.07.2024.