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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

nationalen die Politik der offnen Thür. Ohne Auswanderung an Waren und
Menschen müßten wir daheim ersticken oder uns mit den Waffen Raum
schaffen. Wir sind auf staatliche Gastfreiheit augewiesen. Wir haben neben
uns zehn Millionen Deutsche, die in ihrem nationalen Kampf mit Slawen
und Ungarn die staatliche Macht nicht mehr wie vor hundert Jahren für sich
haben. In Ungarn hat sich der Staat offen an die Spitze der nationalen
Kämpfer gegen die Deutschen gestellt und droht diese niederzuwerfen. In Ru߬
land, selbst in Italien bedrängt der Staat das deutsche Element. Wenn wir
diese Lage erwägen, kann der Nationalitätenkampf mit staatlichen Waffen für
uns nichts verlockendes haben.

Man redet heute viel von Völkerfrieden nach außen hin, ist aber schnell
bei der Hand, die staatliche Macht für den Volkskrieg im Innern zu ver¬
wenden. Wir wollen Weltpolitik treiben, halten uns aber national noch für
zu schwach, um der Nation den Hauptanteil an dem Ringen mit den fremden
Volkssplittern zu überlasten, die ihre nationale Haut nicht gleich wechseln
wollen. Wäre es wahr, daß der moderne Staat keine fremden Volkssplitter
in seinem nationalen Körper zu dulden vermag, dann Hütten wir im Staats¬
leben einen bedauernswerten Rückschritt gemacht. Es liegt heute in der Tendenz
staatlicher Entwicklung, daß sich Großstaaten zusammen ballen. Wohin soll es
führen, wenn diese Großstaaten, nachdem sie fremde Länder verschluckt haben,
überall das fremde Volkstum vernichten wollten? Und wir sehen in der nord-
ameriknnischen Union, daß nicht nur ein kleiner Staat wie die Schweiz, sondern
ein gewaltiges Reich trotz der größten Mannigfaltigkeit in den nationalen
Bestandteilen seiner Bevölkerung ohne jeden staatlichen direkten Zwang zu einer
nationalen Einheitlichkeit zusammenwachsen kann, die allen Aufgaben eines
Großstaats gerecht wird.*) Auch dort ist nationaler Kampf; aber ohne staatliche
gewaltsame Einmischung geführt, verläuft er in den friedlichen Formen, die
im Sinne und Interesse von zivilisierten Nationen liegen. Wäre es wirklich
ein Bedürfnis der europäischen Großmächte, den einheitlichen Nationalstaat mit
Gewaltmitteln zu erzwingen, dann wäre die fürstliche Eroberungspolitik der
alten Zeit bei weitem einer solchen nationalen Eroberungspolitik vorzuziehen.
Dort wechselte man nur die äußern Formen des Staatslebens, hier wird man
in seinem tiefsten Innern vergewaltigt; dort wechselte man nur den Fürsten,
hier das Volk. Und wahrlich, welcher Genosse einer großen und zivilisierten
Nation gäbe nicht den Fürsten lieber hin als sein Volkstum!

On a äsoouvert, as nos ^jours, <zu'i1 avs.it>, äans 1s inonäs 6s8 tvrlmnis,?
Is^itiiQss et as sgintss iiMstissZ, pourvu <zu'on Iss exeroat la vorn, an psuvls
(Pocqueville, Os ig. Osmoorg-dis su ^.msri^us, II, S. 405).

Überall in den staatlichen Grenzgebieten werden sich einzelne Fremde



A, d, N, ^) Dus soll sich erst zeigen,
Nation und Staat

nationalen die Politik der offnen Thür. Ohne Auswanderung an Waren und
Menschen müßten wir daheim ersticken oder uns mit den Waffen Raum
schaffen. Wir sind auf staatliche Gastfreiheit augewiesen. Wir haben neben
uns zehn Millionen Deutsche, die in ihrem nationalen Kampf mit Slawen
und Ungarn die staatliche Macht nicht mehr wie vor hundert Jahren für sich
haben. In Ungarn hat sich der Staat offen an die Spitze der nationalen
Kämpfer gegen die Deutschen gestellt und droht diese niederzuwerfen. In Ru߬
land, selbst in Italien bedrängt der Staat das deutsche Element. Wenn wir
diese Lage erwägen, kann der Nationalitätenkampf mit staatlichen Waffen für
uns nichts verlockendes haben.

Man redet heute viel von Völkerfrieden nach außen hin, ist aber schnell
bei der Hand, die staatliche Macht für den Volkskrieg im Innern zu ver¬
wenden. Wir wollen Weltpolitik treiben, halten uns aber national noch für
zu schwach, um der Nation den Hauptanteil an dem Ringen mit den fremden
Volkssplittern zu überlasten, die ihre nationale Haut nicht gleich wechseln
wollen. Wäre es wahr, daß der moderne Staat keine fremden Volkssplitter
in seinem nationalen Körper zu dulden vermag, dann Hütten wir im Staats¬
leben einen bedauernswerten Rückschritt gemacht. Es liegt heute in der Tendenz
staatlicher Entwicklung, daß sich Großstaaten zusammen ballen. Wohin soll es
führen, wenn diese Großstaaten, nachdem sie fremde Länder verschluckt haben,
überall das fremde Volkstum vernichten wollten? Und wir sehen in der nord-
ameriknnischen Union, daß nicht nur ein kleiner Staat wie die Schweiz, sondern
ein gewaltiges Reich trotz der größten Mannigfaltigkeit in den nationalen
Bestandteilen seiner Bevölkerung ohne jeden staatlichen direkten Zwang zu einer
nationalen Einheitlichkeit zusammenwachsen kann, die allen Aufgaben eines
Großstaats gerecht wird.*) Auch dort ist nationaler Kampf; aber ohne staatliche
gewaltsame Einmischung geführt, verläuft er in den friedlichen Formen, die
im Sinne und Interesse von zivilisierten Nationen liegen. Wäre es wirklich
ein Bedürfnis der europäischen Großmächte, den einheitlichen Nationalstaat mit
Gewaltmitteln zu erzwingen, dann wäre die fürstliche Eroberungspolitik der
alten Zeit bei weitem einer solchen nationalen Eroberungspolitik vorzuziehen.
Dort wechselte man nur die äußern Formen des Staatslebens, hier wird man
in seinem tiefsten Innern vergewaltigt; dort wechselte man nur den Fürsten,
hier das Volk. Und wahrlich, welcher Genosse einer großen und zivilisierten
Nation gäbe nicht den Fürsten lieber hin als sein Volkstum!

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(Pocqueville, Os ig. Osmoorg-dis su ^.msri^us, II, S. 405).

Überall in den staatlichen Grenzgebieten werden sich einzelne Fremde



A, d, N, ^) Dus soll sich erst zeigen,
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[0712] Nation und Staat nationalen die Politik der offnen Thür. Ohne Auswanderung an Waren und Menschen müßten wir daheim ersticken oder uns mit den Waffen Raum schaffen. Wir sind auf staatliche Gastfreiheit augewiesen. Wir haben neben uns zehn Millionen Deutsche, die in ihrem nationalen Kampf mit Slawen und Ungarn die staatliche Macht nicht mehr wie vor hundert Jahren für sich haben. In Ungarn hat sich der Staat offen an die Spitze der nationalen Kämpfer gegen die Deutschen gestellt und droht diese niederzuwerfen. In Ru߬ land, selbst in Italien bedrängt der Staat das deutsche Element. Wenn wir diese Lage erwägen, kann der Nationalitätenkampf mit staatlichen Waffen für uns nichts verlockendes haben. Man redet heute viel von Völkerfrieden nach außen hin, ist aber schnell bei der Hand, die staatliche Macht für den Volkskrieg im Innern zu ver¬ wenden. Wir wollen Weltpolitik treiben, halten uns aber national noch für zu schwach, um der Nation den Hauptanteil an dem Ringen mit den fremden Volkssplittern zu überlasten, die ihre nationale Haut nicht gleich wechseln wollen. Wäre es wahr, daß der moderne Staat keine fremden Volkssplitter in seinem nationalen Körper zu dulden vermag, dann Hütten wir im Staats¬ leben einen bedauernswerten Rückschritt gemacht. Es liegt heute in der Tendenz staatlicher Entwicklung, daß sich Großstaaten zusammen ballen. Wohin soll es führen, wenn diese Großstaaten, nachdem sie fremde Länder verschluckt haben, überall das fremde Volkstum vernichten wollten? Und wir sehen in der nord- ameriknnischen Union, daß nicht nur ein kleiner Staat wie die Schweiz, sondern ein gewaltiges Reich trotz der größten Mannigfaltigkeit in den nationalen Bestandteilen seiner Bevölkerung ohne jeden staatlichen direkten Zwang zu einer nationalen Einheitlichkeit zusammenwachsen kann, die allen Aufgaben eines Großstaats gerecht wird.*) Auch dort ist nationaler Kampf; aber ohne staatliche gewaltsame Einmischung geführt, verläuft er in den friedlichen Formen, die im Sinne und Interesse von zivilisierten Nationen liegen. Wäre es wirklich ein Bedürfnis der europäischen Großmächte, den einheitlichen Nationalstaat mit Gewaltmitteln zu erzwingen, dann wäre die fürstliche Eroberungspolitik der alten Zeit bei weitem einer solchen nationalen Eroberungspolitik vorzuziehen. Dort wechselte man nur die äußern Formen des Staatslebens, hier wird man in seinem tiefsten Innern vergewaltigt; dort wechselte man nur den Fürsten, hier das Volk. Und wahrlich, welcher Genosse einer großen und zivilisierten Nation gäbe nicht den Fürsten lieber hin als sein Volkstum! On a äsoouvert, as nos ^jours, <zu'i1 avs.it>, äans 1s inonäs 6s8 tvrlmnis,? Is^itiiQss et as sgintss iiMstissZ, pourvu <zu'on Iss exeroat la vorn, an psuvls (Pocqueville, Os ig. Osmoorg-dis su ^.msri^us, II, S. 405). Überall in den staatlichen Grenzgebieten werden sich einzelne Fremde A, d, N, ^) Dus soll sich erst zeigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/712>, abgerufen am 23.07.2024.