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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

Müller oder Schulze ausgebrütet. Wer könnte Herrn Müller zumuten, zehn
Thaler jährlich zu opfern, um sich eine deutsche Kinderfrau kommen zu lassen!
Da müßte er ja wöchentlich ein paar Glas Bier weniger trinken! Und nun
gar jenseits der Leitha gegenüber den stolzen Magyaren, die gleich den Russen
den ehemaligen Hauslehrer, da sie ihn nicht mehr nötig haben, zur Thür
hinauswerfen, wenn er sich nicht umlaufen lassen will. Der gute Michel läßt
sich so leicht imponieren!

Wir wollen hoffen, daß eine Periode des Niedergangs unsrer Arbeit
fern sein möge, in der unser deutscher Arbeiter gezwungen wäre, sich mit dem
zu begnügen, was der Slawe braucht zum Leben, und wo er dadurch die
Kellerräume so füllen würde, daß kein Fremdling darin Platz fände. Der Pole
in Westfalen, der Tscheche in Schlesien oder Sachsen, sie arbeiten mit an unserm
deutschen nationalen Webstuhl, sie nützen uus, und wir sollten getrost der Zu¬
kunft überlassen, wie unser Volkstum sich mit ihnen abfindet. Ich meine, wir
dürfen unsrer nationalen Kraft auch ohne gewaltsame Hilfe des Staats zu¬
trauen, daß sie sich die fremden Bestandteile assimilieren oder in Frieden neben
ihnen bestehn und arbeiten werde.

Ein fremdes Element giebt es leider, auf das die obigen Argumente nicht
ganz anwendbar sind. Man darf zweifeln, ob die über unsre östliche Grenze
kommenden Juden ein nützlicher Zuwachs unsrer Bevölkerung sind. Für die
Art von Arbeit, die sie verrichten, haben wir selber Mannschaft übergenug,
und die Mittel, mit denen sie arbeiten, greifen weit tiefer in unser Volksleben
ein und weit empfindlicher, fremdartiger, als was alle Dänen, Polen und
Tschechen zusammen bewirken. Dabei erfüllen diese einwandernden Juden die
Forderungen, die der Staat, oder mancher Staat, im Namen der nationalen
Einheitlichkeit stellt: sie verwandeln sich flugs in den besten Sollpreußeu. Und
doch bleiben diese modernen Nomaden unserm Volkstum innerlich fremder als
Polen, Dänen oder Tschechen.

Gerade wir Deutschen haben allen Grund, diesen mit staatlichen Mitteln
geführten Kampf der Nationalitäten in der europäischen Kulturwelt zu ver¬
dammen. Was wollen die Polen, Dänen, Franzosen bei uns sagen gegenüber
den Millionen Deutscher, die außerhalb des Deutschen Reichs leben? Wir
sind ein Volk, das mehr als andre auf Auswanderung angewiesen ist, und
wir besitzen keine eignen Kolonien, die diese Auswandrer in Menge aufnehmen
könnten; unsre Industrie treibt Scharen von Deutschen hinaus, die nicht alle
eine fremde Staatsangehörigkeit erwerben, noch weniger ihre Nation verleugnen
wollen. In Rußland sitzen Hunderttausende unsrer Landsleute, die unsre Aus¬
fuhr dorthin leiten: was würde aus unserm Handel dorthin werden, wenn der
nationale Kampf dahin führte, daß Rußland diese Leute als lästig aufwiese,
wie man in der russischen Presse sie schon oft als lästig gebrandmarkt hat?
Gerade wir brauchen nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, fondern auch im


Nation und Staat

Müller oder Schulze ausgebrütet. Wer könnte Herrn Müller zumuten, zehn
Thaler jährlich zu opfern, um sich eine deutsche Kinderfrau kommen zu lassen!
Da müßte er ja wöchentlich ein paar Glas Bier weniger trinken! Und nun
gar jenseits der Leitha gegenüber den stolzen Magyaren, die gleich den Russen
den ehemaligen Hauslehrer, da sie ihn nicht mehr nötig haben, zur Thür
hinauswerfen, wenn er sich nicht umlaufen lassen will. Der gute Michel läßt
sich so leicht imponieren!

Wir wollen hoffen, daß eine Periode des Niedergangs unsrer Arbeit
fern sein möge, in der unser deutscher Arbeiter gezwungen wäre, sich mit dem
zu begnügen, was der Slawe braucht zum Leben, und wo er dadurch die
Kellerräume so füllen würde, daß kein Fremdling darin Platz fände. Der Pole
in Westfalen, der Tscheche in Schlesien oder Sachsen, sie arbeiten mit an unserm
deutschen nationalen Webstuhl, sie nützen uus, und wir sollten getrost der Zu¬
kunft überlassen, wie unser Volkstum sich mit ihnen abfindet. Ich meine, wir
dürfen unsrer nationalen Kraft auch ohne gewaltsame Hilfe des Staats zu¬
trauen, daß sie sich die fremden Bestandteile assimilieren oder in Frieden neben
ihnen bestehn und arbeiten werde.

Ein fremdes Element giebt es leider, auf das die obigen Argumente nicht
ganz anwendbar sind. Man darf zweifeln, ob die über unsre östliche Grenze
kommenden Juden ein nützlicher Zuwachs unsrer Bevölkerung sind. Für die
Art von Arbeit, die sie verrichten, haben wir selber Mannschaft übergenug,
und die Mittel, mit denen sie arbeiten, greifen weit tiefer in unser Volksleben
ein und weit empfindlicher, fremdartiger, als was alle Dänen, Polen und
Tschechen zusammen bewirken. Dabei erfüllen diese einwandernden Juden die
Forderungen, die der Staat, oder mancher Staat, im Namen der nationalen
Einheitlichkeit stellt: sie verwandeln sich flugs in den besten Sollpreußeu. Und
doch bleiben diese modernen Nomaden unserm Volkstum innerlich fremder als
Polen, Dänen oder Tschechen.

Gerade wir Deutschen haben allen Grund, diesen mit staatlichen Mitteln
geführten Kampf der Nationalitäten in der europäischen Kulturwelt zu ver¬
dammen. Was wollen die Polen, Dänen, Franzosen bei uns sagen gegenüber
den Millionen Deutscher, die außerhalb des Deutschen Reichs leben? Wir
sind ein Volk, das mehr als andre auf Auswanderung angewiesen ist, und
wir besitzen keine eignen Kolonien, die diese Auswandrer in Menge aufnehmen
könnten; unsre Industrie treibt Scharen von Deutschen hinaus, die nicht alle
eine fremde Staatsangehörigkeit erwerben, noch weniger ihre Nation verleugnen
wollen. In Rußland sitzen Hunderttausende unsrer Landsleute, die unsre Aus¬
fuhr dorthin leiten: was würde aus unserm Handel dorthin werden, wenn der
nationale Kampf dahin führte, daß Rußland diese Leute als lästig aufwiese,
wie man in der russischen Presse sie schon oft als lästig gebrandmarkt hat?
Gerade wir brauchen nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, fondern auch im


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[0711] Nation und Staat Müller oder Schulze ausgebrütet. Wer könnte Herrn Müller zumuten, zehn Thaler jährlich zu opfern, um sich eine deutsche Kinderfrau kommen zu lassen! Da müßte er ja wöchentlich ein paar Glas Bier weniger trinken! Und nun gar jenseits der Leitha gegenüber den stolzen Magyaren, die gleich den Russen den ehemaligen Hauslehrer, da sie ihn nicht mehr nötig haben, zur Thür hinauswerfen, wenn er sich nicht umlaufen lassen will. Der gute Michel läßt sich so leicht imponieren! Wir wollen hoffen, daß eine Periode des Niedergangs unsrer Arbeit fern sein möge, in der unser deutscher Arbeiter gezwungen wäre, sich mit dem zu begnügen, was der Slawe braucht zum Leben, und wo er dadurch die Kellerräume so füllen würde, daß kein Fremdling darin Platz fände. Der Pole in Westfalen, der Tscheche in Schlesien oder Sachsen, sie arbeiten mit an unserm deutschen nationalen Webstuhl, sie nützen uus, und wir sollten getrost der Zu¬ kunft überlassen, wie unser Volkstum sich mit ihnen abfindet. Ich meine, wir dürfen unsrer nationalen Kraft auch ohne gewaltsame Hilfe des Staats zu¬ trauen, daß sie sich die fremden Bestandteile assimilieren oder in Frieden neben ihnen bestehn und arbeiten werde. Ein fremdes Element giebt es leider, auf das die obigen Argumente nicht ganz anwendbar sind. Man darf zweifeln, ob die über unsre östliche Grenze kommenden Juden ein nützlicher Zuwachs unsrer Bevölkerung sind. Für die Art von Arbeit, die sie verrichten, haben wir selber Mannschaft übergenug, und die Mittel, mit denen sie arbeiten, greifen weit tiefer in unser Volksleben ein und weit empfindlicher, fremdartiger, als was alle Dänen, Polen und Tschechen zusammen bewirken. Dabei erfüllen diese einwandernden Juden die Forderungen, die der Staat, oder mancher Staat, im Namen der nationalen Einheitlichkeit stellt: sie verwandeln sich flugs in den besten Sollpreußeu. Und doch bleiben diese modernen Nomaden unserm Volkstum innerlich fremder als Polen, Dänen oder Tschechen. Gerade wir Deutschen haben allen Grund, diesen mit staatlichen Mitteln geführten Kampf der Nationalitäten in der europäischen Kulturwelt zu ver¬ dammen. Was wollen die Polen, Dänen, Franzosen bei uns sagen gegenüber den Millionen Deutscher, die außerhalb des Deutschen Reichs leben? Wir sind ein Volk, das mehr als andre auf Auswanderung angewiesen ist, und wir besitzen keine eignen Kolonien, die diese Auswandrer in Menge aufnehmen könnten; unsre Industrie treibt Scharen von Deutschen hinaus, die nicht alle eine fremde Staatsangehörigkeit erwerben, noch weniger ihre Nation verleugnen wollen. In Rußland sitzen Hunderttausende unsrer Landsleute, die unsre Aus¬ fuhr dorthin leiten: was würde aus unserm Handel dorthin werden, wenn der nationale Kampf dahin führte, daß Rußland diese Leute als lästig aufwiese, wie man in der russischen Presse sie schon oft als lästig gebrandmarkt hat? Gerade wir brauchen nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, fondern auch im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/711>, abgerufen am 23.07.2024.