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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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den Kampf mit Polen, Dänen, Franzosen durchfechten können. Wären wir
Engländer, so brauchte uns kein Landrat in Nordschleswig zu helfen, und wir
wären in Posen weiter, als wir sind. Hätten wir etwas von russischem oder
amerikanischem Jingo im Leibe, so hätten nach den Siegen von 1870 die Be¬
drückungen, denen unsre Volksgenossen seitdem von unsern Nachbarn ausgesetzt
sind, Gelegenheit genng gegeben, ihn zu zeigen; statt dessen haben wir kaum
gewagt, uns darüber zu beklagen; der nach Wien gerichtete Protest der Pro¬
fessoren hat bei uns nichts von Jingo oder Chauvinismus entflammt. Seit
1870 ist unser nationales Bewußtsein allerdings gewachsen; aber es steckt doch
noch in der Kindheit. Ich sehe viele, die es noch kaum zu einem nationalen
Selbstgefühl gebracht haben; ich sehe manche, die in der Fremde ihre nationale
Besonderheit durch eine laute, plumpe Vrcitspurigkeit erkenntlich machen, andre,
die überall, und so auch mit Königgrätz und Sedan gern renommieren; andre,
die rauhe Schneidigkeit für Männlichkeit halten. Aber das ist Geschmack¬
losigkeit, nicht Chauvinismus. Unter Chauvinismus verstehe ich das Übermaß
des Volksbewußtseins, das, wo es in rechtem Maße vorhanden ist, das Zeichen
der innern reifen Kraft eines Volkes ist. Von diesem Bewußtsein unsrer
Volkskraft sind wir noch weit entfernt; wir wissen wohl, daß wir einen mäch¬
tigen Staat, eine große Kriegskraft haben, im übrigen aber sieht man uns im
ganzen noch recht deutlich die Jahrhunderte nationalen Elends an. Wer heute
beobachtet, mit welcher Leichtigkeit der Deutsche noch jetzt in der Fremde,
einem kräftigen fremden Nationalbewußtsein gegenüber gestellt, sich duckt, mit
welcher selbstgefälligen Lust er gegenüber Engländern in eine englische Haut
zu kriechen eilt, dem Franzosen seine Sympathie aufdrängt, den Russen für
den Herren der Zukunft erklärt -- der könnte oft verzweifeln an der Zukunft.
Wie oft erlebt man es, daß man verständigen, gebildeten Leuten gegenüber steht,
in ihnen nach nationalem Selbstbewußtsein, nach dem sichern und stolzen Ver¬
trauen in die Nation, nicht bloß in den Staat sucht, und in der deutschen
Brust immer nur Asche und wieder Asche findet; daß man vergeblich nach dem
heiligen Funken darin umherstöbert und endlich enttäuscht seines Wegs geht.
Uns steckt noch z" sehr sächsisches, preußisches, bayrisches, hcmnoversches Staats¬
bewußtsein in den Gliedern und nur wenig nationales Bewußtsein.

Andrerseits klagen wir immer darüber, daß der Deutsche in der Fremde
so leicht sein Volkstum aufgiebt. Was haben wir denn bisher dafür gethan,
um in ihm den nationalen Stolz des vivis roirmnus zu wecken? Würden die
Bosnier so behandelt wie in Ungarn die Deutschen, so geriete der Russe bis an
die Wolga hin in Erregung; wir empfinden die Verletzung wenig. Wir haben
bisher auch von Reichs wegen den in fremde Länder Auswandernden im Grunde
wie einen Abtrünnigen angesehen; wir haben seit 1870 leider zusehen müssen,
wie man rund umher gegen unsre Volksgenossen verfuhr. Konnten wirs nicht
ändern, so konnte diese unglückliche Thatsache doch auch das nationale Bewußt-


den Kampf mit Polen, Dänen, Franzosen durchfechten können. Wären wir
Engländer, so brauchte uns kein Landrat in Nordschleswig zu helfen, und wir
wären in Posen weiter, als wir sind. Hätten wir etwas von russischem oder
amerikanischem Jingo im Leibe, so hätten nach den Siegen von 1870 die Be¬
drückungen, denen unsre Volksgenossen seitdem von unsern Nachbarn ausgesetzt
sind, Gelegenheit genng gegeben, ihn zu zeigen; statt dessen haben wir kaum
gewagt, uns darüber zu beklagen; der nach Wien gerichtete Protest der Pro¬
fessoren hat bei uns nichts von Jingo oder Chauvinismus entflammt. Seit
1870 ist unser nationales Bewußtsein allerdings gewachsen; aber es steckt doch
noch in der Kindheit. Ich sehe viele, die es noch kaum zu einem nationalen
Selbstgefühl gebracht haben; ich sehe manche, die in der Fremde ihre nationale
Besonderheit durch eine laute, plumpe Vrcitspurigkeit erkenntlich machen, andre,
die überall, und so auch mit Königgrätz und Sedan gern renommieren; andre,
die rauhe Schneidigkeit für Männlichkeit halten. Aber das ist Geschmack¬
losigkeit, nicht Chauvinismus. Unter Chauvinismus verstehe ich das Übermaß
des Volksbewußtseins, das, wo es in rechtem Maße vorhanden ist, das Zeichen
der innern reifen Kraft eines Volkes ist. Von diesem Bewußtsein unsrer
Volkskraft sind wir noch weit entfernt; wir wissen wohl, daß wir einen mäch¬
tigen Staat, eine große Kriegskraft haben, im übrigen aber sieht man uns im
ganzen noch recht deutlich die Jahrhunderte nationalen Elends an. Wer heute
beobachtet, mit welcher Leichtigkeit der Deutsche noch jetzt in der Fremde,
einem kräftigen fremden Nationalbewußtsein gegenüber gestellt, sich duckt, mit
welcher selbstgefälligen Lust er gegenüber Engländern in eine englische Haut
zu kriechen eilt, dem Franzosen seine Sympathie aufdrängt, den Russen für
den Herren der Zukunft erklärt — der könnte oft verzweifeln an der Zukunft.
Wie oft erlebt man es, daß man verständigen, gebildeten Leuten gegenüber steht,
in ihnen nach nationalem Selbstbewußtsein, nach dem sichern und stolzen Ver¬
trauen in die Nation, nicht bloß in den Staat sucht, und in der deutschen
Brust immer nur Asche und wieder Asche findet; daß man vergeblich nach dem
heiligen Funken darin umherstöbert und endlich enttäuscht seines Wegs geht.
Uns steckt noch z» sehr sächsisches, preußisches, bayrisches, hcmnoversches Staats¬
bewußtsein in den Gliedern und nur wenig nationales Bewußtsein.

Andrerseits klagen wir immer darüber, daß der Deutsche in der Fremde
so leicht sein Volkstum aufgiebt. Was haben wir denn bisher dafür gethan,
um in ihm den nationalen Stolz des vivis roirmnus zu wecken? Würden die
Bosnier so behandelt wie in Ungarn die Deutschen, so geriete der Russe bis an
die Wolga hin in Erregung; wir empfinden die Verletzung wenig. Wir haben
bisher auch von Reichs wegen den in fremde Länder Auswandernden im Grunde
wie einen Abtrünnigen angesehen; wir haben seit 1870 leider zusehen müssen,
wie man rund umher gegen unsre Volksgenossen verfuhr. Konnten wirs nicht
ändern, so konnte diese unglückliche Thatsache doch auch das nationale Bewußt-


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[0708] den Kampf mit Polen, Dänen, Franzosen durchfechten können. Wären wir Engländer, so brauchte uns kein Landrat in Nordschleswig zu helfen, und wir wären in Posen weiter, als wir sind. Hätten wir etwas von russischem oder amerikanischem Jingo im Leibe, so hätten nach den Siegen von 1870 die Be¬ drückungen, denen unsre Volksgenossen seitdem von unsern Nachbarn ausgesetzt sind, Gelegenheit genng gegeben, ihn zu zeigen; statt dessen haben wir kaum gewagt, uns darüber zu beklagen; der nach Wien gerichtete Protest der Pro¬ fessoren hat bei uns nichts von Jingo oder Chauvinismus entflammt. Seit 1870 ist unser nationales Bewußtsein allerdings gewachsen; aber es steckt doch noch in der Kindheit. Ich sehe viele, die es noch kaum zu einem nationalen Selbstgefühl gebracht haben; ich sehe manche, die in der Fremde ihre nationale Besonderheit durch eine laute, plumpe Vrcitspurigkeit erkenntlich machen, andre, die überall, und so auch mit Königgrätz und Sedan gern renommieren; andre, die rauhe Schneidigkeit für Männlichkeit halten. Aber das ist Geschmack¬ losigkeit, nicht Chauvinismus. Unter Chauvinismus verstehe ich das Übermaß des Volksbewußtseins, das, wo es in rechtem Maße vorhanden ist, das Zeichen der innern reifen Kraft eines Volkes ist. Von diesem Bewußtsein unsrer Volkskraft sind wir noch weit entfernt; wir wissen wohl, daß wir einen mäch¬ tigen Staat, eine große Kriegskraft haben, im übrigen aber sieht man uns im ganzen noch recht deutlich die Jahrhunderte nationalen Elends an. Wer heute beobachtet, mit welcher Leichtigkeit der Deutsche noch jetzt in der Fremde, einem kräftigen fremden Nationalbewußtsein gegenüber gestellt, sich duckt, mit welcher selbstgefälligen Lust er gegenüber Engländern in eine englische Haut zu kriechen eilt, dem Franzosen seine Sympathie aufdrängt, den Russen für den Herren der Zukunft erklärt — der könnte oft verzweifeln an der Zukunft. Wie oft erlebt man es, daß man verständigen, gebildeten Leuten gegenüber steht, in ihnen nach nationalem Selbstbewußtsein, nach dem sichern und stolzen Ver¬ trauen in die Nation, nicht bloß in den Staat sucht, und in der deutschen Brust immer nur Asche und wieder Asche findet; daß man vergeblich nach dem heiligen Funken darin umherstöbert und endlich enttäuscht seines Wegs geht. Uns steckt noch z» sehr sächsisches, preußisches, bayrisches, hcmnoversches Staats¬ bewußtsein in den Gliedern und nur wenig nationales Bewußtsein. Andrerseits klagen wir immer darüber, daß der Deutsche in der Fremde so leicht sein Volkstum aufgiebt. Was haben wir denn bisher dafür gethan, um in ihm den nationalen Stolz des vivis roirmnus zu wecken? Würden die Bosnier so behandelt wie in Ungarn die Deutschen, so geriete der Russe bis an die Wolga hin in Erregung; wir empfinden die Verletzung wenig. Wir haben bisher auch von Reichs wegen den in fremde Länder Auswandernden im Grunde wie einen Abtrünnigen angesehen; wir haben seit 1870 leider zusehen müssen, wie man rund umher gegen unsre Volksgenossen verfuhr. Konnten wirs nicht ändern, so konnte diese unglückliche Thatsache doch auch das nationale Bewußt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/708>, abgerufen am 23.07.2024.