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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

des religiösen Fanatismus. Soll auf diesem Boden des nationalen Staates,
vorläufig zwar nicht mit Folter und Holzstoß, aber doch mit Marterwerkzeugen
gearbeitet werden, die, den Nerven des modernen Menschen angepaßt, nicht
viel weniger grausam sind, als die von der fanatischen Kunst des Großinqui¬
sitors erfunden wurden? Denn was damals Glaube war, ist heute Nationalität:
in ihrer subjektiven Wertschätzung stehen uns heute die idealen Güter, die die
Nationalität eines Kulturvolks ausmachen, ebenso hoch wie Glaube und Kirche.
Wer mir heute meine nationale Schule schließt, trifft mich ebenso hart, wie
wer mir meine Kirche schließt. Was steht heute dem Genossen eines Kultur¬
volks höher, als Sitte, Tradition, Recht, Sprache, all die mannigfachen Lebens¬
erscheinungen, an deren Entwicklung er und Generationen vor ihm gearbeitet
haben? In ihnen findet die nationale Kultur ihren Ausdruck. Dem gemeinen
Mann steht vielleicht sein religiöser Glaube, vielleicht seine Kirche gleich hoch,
dem Gebildeten kaum mehr. Ihm sind jene Dinge die höchsten idealen Güter
und steigen im Wert, je weiter sich die nationale Kultur ausgestaltet, und je
mehr er sich dessen bewußt wird.

Erkennen wir denn das nicht etwa selbst an? Achten wir denn nicht den
hoch, der in der Fremde fest an deutscher Art hält, und sind es nicht nationale
Lumpe, die sich in Polen oder Ungarn flugs national häuten, weil es Geld oder
Ehre einbringt? Dürfen wir solche nationale Verlumptheit bei unsern Volks¬
genossen verdammen, aber von Dünen oder Polen oder Franzosen staatlich
fordern? Ist es nicht ein landläufiges Gebot, man solle seine idealen Güter
bis in den Tod verteidigen? Nun, käme es dazu, dann wären Henker und
Beil auch nicht mehr sern in diesem Nationalkampfe. Aber der Staat hält
sich heute noch für berechtigt, auch ohne die äußerste Not eines dieser Güter
nach dem andern den Unterthanen zu entreißen, denn: wessen das Land, dessen
die Nationalität. Der Staat hat sich heute der Nation ergeben wie ehemals
der Kirche.

Der nationale Staat kann freilich in Lagen geraten, wo er mit staatlichen
Mitteln den Kampf gegen fremde Volkssplitter in seinen Grenzen sichren muß.
Posen ist für Deutschland unentbehrlich; die Polen zeigen mit That und Wort,
daß sie, nicht zufrieden mit dem nationalen Besitz, gesonnen sind, diese Provinz,
sobald sie einmal stark genug dazu siud, auch staatlich zurückzufordern. Sie
sind sogar so unklug, Gebiete, die sie vorübergehend in Deutschland besessen
haben, gleich mit zu fordern. In solcher Lage der Notwehr hat der Staat
die Pflicht, sich zu sichern. Vor allem fragt sich, woher die Gefahr kommt?
Sie kommt nicht vom Bauern, sondern von Adel, Bürgertum, Geistlichkeit,
und mit diesen muß gekämpft werden. In Nordschleswig ist der Staat eben¬
falls, so scheint es, gezwungen worden zu offnen Gewaltmitteln. Die Ereig¬
nisse, deren genauere Darlegung leider etwas spät den weitern Kreisen zuge¬
gangen ist, zeige" einen nationalen Angriff der Dänen gegen die Deutschen,


Nation und Staat

des religiösen Fanatismus. Soll auf diesem Boden des nationalen Staates,
vorläufig zwar nicht mit Folter und Holzstoß, aber doch mit Marterwerkzeugen
gearbeitet werden, die, den Nerven des modernen Menschen angepaßt, nicht
viel weniger grausam sind, als die von der fanatischen Kunst des Großinqui¬
sitors erfunden wurden? Denn was damals Glaube war, ist heute Nationalität:
in ihrer subjektiven Wertschätzung stehen uns heute die idealen Güter, die die
Nationalität eines Kulturvolks ausmachen, ebenso hoch wie Glaube und Kirche.
Wer mir heute meine nationale Schule schließt, trifft mich ebenso hart, wie
wer mir meine Kirche schließt. Was steht heute dem Genossen eines Kultur¬
volks höher, als Sitte, Tradition, Recht, Sprache, all die mannigfachen Lebens¬
erscheinungen, an deren Entwicklung er und Generationen vor ihm gearbeitet
haben? In ihnen findet die nationale Kultur ihren Ausdruck. Dem gemeinen
Mann steht vielleicht sein religiöser Glaube, vielleicht seine Kirche gleich hoch,
dem Gebildeten kaum mehr. Ihm sind jene Dinge die höchsten idealen Güter
und steigen im Wert, je weiter sich die nationale Kultur ausgestaltet, und je
mehr er sich dessen bewußt wird.

Erkennen wir denn das nicht etwa selbst an? Achten wir denn nicht den
hoch, der in der Fremde fest an deutscher Art hält, und sind es nicht nationale
Lumpe, die sich in Polen oder Ungarn flugs national häuten, weil es Geld oder
Ehre einbringt? Dürfen wir solche nationale Verlumptheit bei unsern Volks¬
genossen verdammen, aber von Dünen oder Polen oder Franzosen staatlich
fordern? Ist es nicht ein landläufiges Gebot, man solle seine idealen Güter
bis in den Tod verteidigen? Nun, käme es dazu, dann wären Henker und
Beil auch nicht mehr sern in diesem Nationalkampfe. Aber der Staat hält
sich heute noch für berechtigt, auch ohne die äußerste Not eines dieser Güter
nach dem andern den Unterthanen zu entreißen, denn: wessen das Land, dessen
die Nationalität. Der Staat hat sich heute der Nation ergeben wie ehemals
der Kirche.

Der nationale Staat kann freilich in Lagen geraten, wo er mit staatlichen
Mitteln den Kampf gegen fremde Volkssplitter in seinen Grenzen sichren muß.
Posen ist für Deutschland unentbehrlich; die Polen zeigen mit That und Wort,
daß sie, nicht zufrieden mit dem nationalen Besitz, gesonnen sind, diese Provinz,
sobald sie einmal stark genug dazu siud, auch staatlich zurückzufordern. Sie
sind sogar so unklug, Gebiete, die sie vorübergehend in Deutschland besessen
haben, gleich mit zu fordern. In solcher Lage der Notwehr hat der Staat
die Pflicht, sich zu sichern. Vor allem fragt sich, woher die Gefahr kommt?
Sie kommt nicht vom Bauern, sondern von Adel, Bürgertum, Geistlichkeit,
und mit diesen muß gekämpft werden. In Nordschleswig ist der Staat eben¬
falls, so scheint es, gezwungen worden zu offnen Gewaltmitteln. Die Ereig¬
nisse, deren genauere Darlegung leider etwas spät den weitern Kreisen zuge¬
gangen ist, zeige» einen nationalen Angriff der Dänen gegen die Deutschen,


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[0700] Nation und Staat des religiösen Fanatismus. Soll auf diesem Boden des nationalen Staates, vorläufig zwar nicht mit Folter und Holzstoß, aber doch mit Marterwerkzeugen gearbeitet werden, die, den Nerven des modernen Menschen angepaßt, nicht viel weniger grausam sind, als die von der fanatischen Kunst des Großinqui¬ sitors erfunden wurden? Denn was damals Glaube war, ist heute Nationalität: in ihrer subjektiven Wertschätzung stehen uns heute die idealen Güter, die die Nationalität eines Kulturvolks ausmachen, ebenso hoch wie Glaube und Kirche. Wer mir heute meine nationale Schule schließt, trifft mich ebenso hart, wie wer mir meine Kirche schließt. Was steht heute dem Genossen eines Kultur¬ volks höher, als Sitte, Tradition, Recht, Sprache, all die mannigfachen Lebens¬ erscheinungen, an deren Entwicklung er und Generationen vor ihm gearbeitet haben? In ihnen findet die nationale Kultur ihren Ausdruck. Dem gemeinen Mann steht vielleicht sein religiöser Glaube, vielleicht seine Kirche gleich hoch, dem Gebildeten kaum mehr. Ihm sind jene Dinge die höchsten idealen Güter und steigen im Wert, je weiter sich die nationale Kultur ausgestaltet, und je mehr er sich dessen bewußt wird. Erkennen wir denn das nicht etwa selbst an? Achten wir denn nicht den hoch, der in der Fremde fest an deutscher Art hält, und sind es nicht nationale Lumpe, die sich in Polen oder Ungarn flugs national häuten, weil es Geld oder Ehre einbringt? Dürfen wir solche nationale Verlumptheit bei unsern Volks¬ genossen verdammen, aber von Dünen oder Polen oder Franzosen staatlich fordern? Ist es nicht ein landläufiges Gebot, man solle seine idealen Güter bis in den Tod verteidigen? Nun, käme es dazu, dann wären Henker und Beil auch nicht mehr sern in diesem Nationalkampfe. Aber der Staat hält sich heute noch für berechtigt, auch ohne die äußerste Not eines dieser Güter nach dem andern den Unterthanen zu entreißen, denn: wessen das Land, dessen die Nationalität. Der Staat hat sich heute der Nation ergeben wie ehemals der Kirche. Der nationale Staat kann freilich in Lagen geraten, wo er mit staatlichen Mitteln den Kampf gegen fremde Volkssplitter in seinen Grenzen sichren muß. Posen ist für Deutschland unentbehrlich; die Polen zeigen mit That und Wort, daß sie, nicht zufrieden mit dem nationalen Besitz, gesonnen sind, diese Provinz, sobald sie einmal stark genug dazu siud, auch staatlich zurückzufordern. Sie sind sogar so unklug, Gebiete, die sie vorübergehend in Deutschland besessen haben, gleich mit zu fordern. In solcher Lage der Notwehr hat der Staat die Pflicht, sich zu sichern. Vor allem fragt sich, woher die Gefahr kommt? Sie kommt nicht vom Bauern, sondern von Adel, Bürgertum, Geistlichkeit, und mit diesen muß gekämpft werden. In Nordschleswig ist der Staat eben¬ falls, so scheint es, gezwungen worden zu offnen Gewaltmitteln. Die Ereig¬ nisse, deren genauere Darlegung leider etwas spät den weitern Kreisen zuge¬ gangen ist, zeige» einen nationalen Angriff der Dänen gegen die Deutschen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/700>, abgerufen am 23.07.2024.