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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

schmelzen. Unsre germanischen Voreltern eroberten Europa von der Ostsee
bis Gibraltar hin und gingen zum größern Teil unter in den unterworfnen
fremden Völkern, soweit diese über große Kulturmittel und nationale Kraft
geboten. Jahrhundertelang strömten deutsche Scharen nach Italien und wurden
dort national verschlungen, während wir mit geringern Mitteln von Weser
und Elbe an bis an den Peipussee unser nationales Gebiet ausdehnten, das
sich bis heute fast ungeschmälert erhalten hat. Trotz der staatlichen Ohnmacht
war Italien als Nation stark genug, Longobarden und Normannen, Sara¬
zenen und eine jahrhundertelange deutsche Herrschaft zu überwinden, während
aus den slawischen und litauischen Stämmen im Osten ein wertvoller Mischteil
unsers heutigen Volkstums geworden ist.

In allen diesen Fällen ging die Entnationalisierung mit geringen Leiden
vor sich, weil Germanen dort, Slawen und Litauer hier ihre Nation gering
schätzten; die Leiden , die damit Hand in Hand gingen, waren solche, wie sie
der Starke, der gewaltsam Rohe dem Schwachen oder der Räuber materiellen
Besitzes dem Beraubte" zufügt; in seiner Nationalität wurde der Unter¬
liegende nur wenig gekränkt, weil er sie wenig schätzte. Noch vor hundert
Jahren stand es in dem sehr bureaukratisch-genan regierten Preußen jeder¬
mann frei, nicht nur nach seiner Fayon selig zu werden, sondern anch nach
seiner Nation zu reden, zu schreiben und zu denken; und doch fügten sich
Litaner und Polen leicht dem deutschen Wesen. Heute hat man sich bemüht,
in dem polnischen und titanischen Bauer das Bewußtsein von dem Wert
seiner eignen nationalen Art zu wecken, und in dem Maße, als sich dieses
Bewußtsein kräftigt, wächst auch der Schmerz, den der ans die Nationalität
geübte Druck ausübt. Je höher ein Volk in der Art seines Charakters und
seiner Kultur steht, um so schwerer empfindet es jede gewaltsame Verletzung
seiner Nationalität. Und das gilt nicht nur von einem großen Volke, sondern
ebenso von jedem noch so geringen Bruchteil, ob er nun die Bevölkerung einer
Provinz oder eines Dorfes ausmacht, ob er geschlossen ein Gebiet erfüllt oder
darin nur einen Stand oder eine Klasse darstellt. Am schwersten duldet das
Kulturvolk, dem seine nationalen Güter von der Hand eines Volkes niederer
Kultur dauernd zerstört werden, denn mit ihnen geht eine Kultur zu Grunde.

Wessen das Land, des der Glaube, sagte man früher. Der Glaube war
damals das höchste unter den idealen Gütern der europäischen Völker. Mit
jenem Satze wurden die Hugenotten gemordet, wurden die Protestanten aus
Frankreich, die Salzburger von ihren Bergen Vertrieben; dafür haben Millionen
geblutet in allen Ländern, unter der Folter und auf dem Holzstoß. Soll es
heute dahin kommen, daß der Satz ans andern: Boden wieder aufgerichtet
wird? Wollen die Nationen wiederholen, was Kirche und Fürsten verbrachen?
Der Fanatismus bleibt sich ziemlich ähnlich, ob er nun aus religiöser oder
ans nationaler Quelle fließe. nationaler Fanatismus ist nur.der Stiefbruder


Nation und Staat

schmelzen. Unsre germanischen Voreltern eroberten Europa von der Ostsee
bis Gibraltar hin und gingen zum größern Teil unter in den unterworfnen
fremden Völkern, soweit diese über große Kulturmittel und nationale Kraft
geboten. Jahrhundertelang strömten deutsche Scharen nach Italien und wurden
dort national verschlungen, während wir mit geringern Mitteln von Weser
und Elbe an bis an den Peipussee unser nationales Gebiet ausdehnten, das
sich bis heute fast ungeschmälert erhalten hat. Trotz der staatlichen Ohnmacht
war Italien als Nation stark genug, Longobarden und Normannen, Sara¬
zenen und eine jahrhundertelange deutsche Herrschaft zu überwinden, während
aus den slawischen und litauischen Stämmen im Osten ein wertvoller Mischteil
unsers heutigen Volkstums geworden ist.

In allen diesen Fällen ging die Entnationalisierung mit geringen Leiden
vor sich, weil Germanen dort, Slawen und Litauer hier ihre Nation gering
schätzten; die Leiden , die damit Hand in Hand gingen, waren solche, wie sie
der Starke, der gewaltsam Rohe dem Schwachen oder der Räuber materiellen
Besitzes dem Beraubte» zufügt; in seiner Nationalität wurde der Unter¬
liegende nur wenig gekränkt, weil er sie wenig schätzte. Noch vor hundert
Jahren stand es in dem sehr bureaukratisch-genan regierten Preußen jeder¬
mann frei, nicht nur nach seiner Fayon selig zu werden, sondern anch nach
seiner Nation zu reden, zu schreiben und zu denken; und doch fügten sich
Litaner und Polen leicht dem deutschen Wesen. Heute hat man sich bemüht,
in dem polnischen und titanischen Bauer das Bewußtsein von dem Wert
seiner eignen nationalen Art zu wecken, und in dem Maße, als sich dieses
Bewußtsein kräftigt, wächst auch der Schmerz, den der ans die Nationalität
geübte Druck ausübt. Je höher ein Volk in der Art seines Charakters und
seiner Kultur steht, um so schwerer empfindet es jede gewaltsame Verletzung
seiner Nationalität. Und das gilt nicht nur von einem großen Volke, sondern
ebenso von jedem noch so geringen Bruchteil, ob er nun die Bevölkerung einer
Provinz oder eines Dorfes ausmacht, ob er geschlossen ein Gebiet erfüllt oder
darin nur einen Stand oder eine Klasse darstellt. Am schwersten duldet das
Kulturvolk, dem seine nationalen Güter von der Hand eines Volkes niederer
Kultur dauernd zerstört werden, denn mit ihnen geht eine Kultur zu Grunde.

Wessen das Land, des der Glaube, sagte man früher. Der Glaube war
damals das höchste unter den idealen Gütern der europäischen Völker. Mit
jenem Satze wurden die Hugenotten gemordet, wurden die Protestanten aus
Frankreich, die Salzburger von ihren Bergen Vertrieben; dafür haben Millionen
geblutet in allen Ländern, unter der Folter und auf dem Holzstoß. Soll es
heute dahin kommen, daß der Satz ans andern: Boden wieder aufgerichtet
wird? Wollen die Nationen wiederholen, was Kirche und Fürsten verbrachen?
Der Fanatismus bleibt sich ziemlich ähnlich, ob er nun aus religiöser oder
ans nationaler Quelle fließe. nationaler Fanatismus ist nur.der Stiefbruder


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[0699] Nation und Staat schmelzen. Unsre germanischen Voreltern eroberten Europa von der Ostsee bis Gibraltar hin und gingen zum größern Teil unter in den unterworfnen fremden Völkern, soweit diese über große Kulturmittel und nationale Kraft geboten. Jahrhundertelang strömten deutsche Scharen nach Italien und wurden dort national verschlungen, während wir mit geringern Mitteln von Weser und Elbe an bis an den Peipussee unser nationales Gebiet ausdehnten, das sich bis heute fast ungeschmälert erhalten hat. Trotz der staatlichen Ohnmacht war Italien als Nation stark genug, Longobarden und Normannen, Sara¬ zenen und eine jahrhundertelange deutsche Herrschaft zu überwinden, während aus den slawischen und litauischen Stämmen im Osten ein wertvoller Mischteil unsers heutigen Volkstums geworden ist. In allen diesen Fällen ging die Entnationalisierung mit geringen Leiden vor sich, weil Germanen dort, Slawen und Litauer hier ihre Nation gering schätzten; die Leiden , die damit Hand in Hand gingen, waren solche, wie sie der Starke, der gewaltsam Rohe dem Schwachen oder der Räuber materiellen Besitzes dem Beraubte» zufügt; in seiner Nationalität wurde der Unter¬ liegende nur wenig gekränkt, weil er sie wenig schätzte. Noch vor hundert Jahren stand es in dem sehr bureaukratisch-genan regierten Preußen jeder¬ mann frei, nicht nur nach seiner Fayon selig zu werden, sondern anch nach seiner Nation zu reden, zu schreiben und zu denken; und doch fügten sich Litaner und Polen leicht dem deutschen Wesen. Heute hat man sich bemüht, in dem polnischen und titanischen Bauer das Bewußtsein von dem Wert seiner eignen nationalen Art zu wecken, und in dem Maße, als sich dieses Bewußtsein kräftigt, wächst auch der Schmerz, den der ans die Nationalität geübte Druck ausübt. Je höher ein Volk in der Art seines Charakters und seiner Kultur steht, um so schwerer empfindet es jede gewaltsame Verletzung seiner Nationalität. Und das gilt nicht nur von einem großen Volke, sondern ebenso von jedem noch so geringen Bruchteil, ob er nun die Bevölkerung einer Provinz oder eines Dorfes ausmacht, ob er geschlossen ein Gebiet erfüllt oder darin nur einen Stand oder eine Klasse darstellt. Am schwersten duldet das Kulturvolk, dem seine nationalen Güter von der Hand eines Volkes niederer Kultur dauernd zerstört werden, denn mit ihnen geht eine Kultur zu Grunde. Wessen das Land, des der Glaube, sagte man früher. Der Glaube war damals das höchste unter den idealen Gütern der europäischen Völker. Mit jenem Satze wurden die Hugenotten gemordet, wurden die Protestanten aus Frankreich, die Salzburger von ihren Bergen Vertrieben; dafür haben Millionen geblutet in allen Ländern, unter der Folter und auf dem Holzstoß. Soll es heute dahin kommen, daß der Satz ans andern: Boden wieder aufgerichtet wird? Wollen die Nationen wiederholen, was Kirche und Fürsten verbrachen? Der Fanatismus bleibt sich ziemlich ähnlich, ob er nun aus religiöser oder ans nationaler Quelle fließe. nationaler Fanatismus ist nur.der Stiefbruder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/699>, abgerufen am 23.07.2024.