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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Lin französisch-deutscher Rationalist

Seelen, die da glauben, daß der Papst oder der König, oder Papst und König
im Verein, alle Übel zu heilen und jedem Bedrängten zu helfen vermöchten,
wenn sie nur nicht von dem bösen Liberalismus, von den Freimaurern und
den Juden gehindert würden, so giebt es doch thatsächlich kein zivilisiertes
Volk mehr, das seine Geschicke einer absoluten Priester- oder Königsherrschaft
anvertraute. Aber der Nationalismus täuschte sich über die Ursache des Mi߬
erfolgs der Kirche und der Monarchie. Die Ursache ist die Beschränktheit der
menschlichen Vernunft im allgemeinen und der Macht der Regierungen. Wie
kein andrer Mensch, so vermag auch kein Papst und kein Monarch genau und
vollständig zu erkennen, was seinen Unterthanen zum Heile gereicht, und ver¬
möchte er es zu erkennen, so würden ihm die Mittel fehlen, alle seine Unter¬
thanen zu dem ihnen Heilsamen anzuhalten. Die Rationalisten aber sahen die
Ursache nicht in dieser ganz allgemeinen menschlichen Beschränktheit und in der
Schrankenlosigkeit der obersten Gewalt, die jedem Irrtum ihres Inhabers eine
gefährliche Tragweite verleiht, sondern in einer besondern Unvernunft der
Priester und Könige und in deren Selbstsucht, und sie glaubten, man brauche
die Könige bloß vernünftig zu machen und ihre blinde Selbstsucht durch er¬
leuchtete Selbstliebe zu ersetzen, um das Glück der Völker zu sichern. Indem
nun natürlich jeder der Herren sich selbst für vernünftig hielt, wurden sie selbst
Despoten, wo immer sie in einer von ihnen geschaffnen Republik oder als
Berater von Monarchen Einfluß gewannen. Auf diesem Wege hat sich der
politische Vertreter des Nationalismus, der Liberalismus, bis heute so oft
bloßgestellt, so viel höhnische Kritiken zugezogen und so viel Niederlagen be¬
reitet. Aber der dauernde Vorteil bleibt doch, daß durch die Volksvertretungen
und durch andre Einrichtungen die Einheitlichkeit der absoluten Regierungs¬
gewalt gebrochen und im Staate ein ähnlicher Zustand hergestellt worden ist
wie im protestantischen Kirchenwesen, wo sich zwar auch jedes Kirchenregimentlein
als Papst aufspielen möchte, die Vielheit der mit einander konkurrierenden
Päpstlein aber die Gefahr abwendet. Und auch noch eine andre Errungen-
schaft des Nationalismus bleibt bestehn; niemand wagt heute mehr zu leugnen,
daß richtige Einsicht in den Zusammenhang der Dinge von der größten Wichtig¬
keit fürs Gemeinwohl ist, und daß, wer regieren will, etwas gelernt haben
muß; daher wird es kaum noch einmal vorkommen, daß ein notorisch un¬
wissender Mensch, wie Ludwig XIV., ein großes Land unumschränkt beherrschen
dürfte, oder daß sich die Völker ein Gesetzbuch gefallen ließen, das, wie der
Hexenhammer, vom rohesten Aberglauben diktiert wäre.

Wie auf dem politischen Gebiete, so ist es auch auf dem moralischen der
Mangel an Welt- und Lebenskenntnis, was Holbach von richtigen Ausgangs¬
punkten zu falschen Folgerungen führt. Gewiß ist die Glückseligkeit der Ge-'
schöpfe das Endziel der Schöpfung, und gewiß steht die Tugend mit der
Glückseligkeit im innigsten Zusammenhange. Aber dieser Zusammenhang ist


Lin französisch-deutscher Rationalist

Seelen, die da glauben, daß der Papst oder der König, oder Papst und König
im Verein, alle Übel zu heilen und jedem Bedrängten zu helfen vermöchten,
wenn sie nur nicht von dem bösen Liberalismus, von den Freimaurern und
den Juden gehindert würden, so giebt es doch thatsächlich kein zivilisiertes
Volk mehr, das seine Geschicke einer absoluten Priester- oder Königsherrschaft
anvertraute. Aber der Nationalismus täuschte sich über die Ursache des Mi߬
erfolgs der Kirche und der Monarchie. Die Ursache ist die Beschränktheit der
menschlichen Vernunft im allgemeinen und der Macht der Regierungen. Wie
kein andrer Mensch, so vermag auch kein Papst und kein Monarch genau und
vollständig zu erkennen, was seinen Unterthanen zum Heile gereicht, und ver¬
möchte er es zu erkennen, so würden ihm die Mittel fehlen, alle seine Unter¬
thanen zu dem ihnen Heilsamen anzuhalten. Die Rationalisten aber sahen die
Ursache nicht in dieser ganz allgemeinen menschlichen Beschränktheit und in der
Schrankenlosigkeit der obersten Gewalt, die jedem Irrtum ihres Inhabers eine
gefährliche Tragweite verleiht, sondern in einer besondern Unvernunft der
Priester und Könige und in deren Selbstsucht, und sie glaubten, man brauche
die Könige bloß vernünftig zu machen und ihre blinde Selbstsucht durch er¬
leuchtete Selbstliebe zu ersetzen, um das Glück der Völker zu sichern. Indem
nun natürlich jeder der Herren sich selbst für vernünftig hielt, wurden sie selbst
Despoten, wo immer sie in einer von ihnen geschaffnen Republik oder als
Berater von Monarchen Einfluß gewannen. Auf diesem Wege hat sich der
politische Vertreter des Nationalismus, der Liberalismus, bis heute so oft
bloßgestellt, so viel höhnische Kritiken zugezogen und so viel Niederlagen be¬
reitet. Aber der dauernde Vorteil bleibt doch, daß durch die Volksvertretungen
und durch andre Einrichtungen die Einheitlichkeit der absoluten Regierungs¬
gewalt gebrochen und im Staate ein ähnlicher Zustand hergestellt worden ist
wie im protestantischen Kirchenwesen, wo sich zwar auch jedes Kirchenregimentlein
als Papst aufspielen möchte, die Vielheit der mit einander konkurrierenden
Päpstlein aber die Gefahr abwendet. Und auch noch eine andre Errungen-
schaft des Nationalismus bleibt bestehn; niemand wagt heute mehr zu leugnen,
daß richtige Einsicht in den Zusammenhang der Dinge von der größten Wichtig¬
keit fürs Gemeinwohl ist, und daß, wer regieren will, etwas gelernt haben
muß; daher wird es kaum noch einmal vorkommen, daß ein notorisch un¬
wissender Mensch, wie Ludwig XIV., ein großes Land unumschränkt beherrschen
dürfte, oder daß sich die Völker ein Gesetzbuch gefallen ließen, das, wie der
Hexenhammer, vom rohesten Aberglauben diktiert wäre.

Wie auf dem politischen Gebiete, so ist es auch auf dem moralischen der
Mangel an Welt- und Lebenskenntnis, was Holbach von richtigen Ausgangs¬
punkten zu falschen Folgerungen führt. Gewiß ist die Glückseligkeit der Ge-'
schöpfe das Endziel der Schöpfung, und gewiß steht die Tugend mit der
Glückseligkeit im innigsten Zusammenhange. Aber dieser Zusammenhang ist


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[0695] Lin französisch-deutscher Rationalist Seelen, die da glauben, daß der Papst oder der König, oder Papst und König im Verein, alle Übel zu heilen und jedem Bedrängten zu helfen vermöchten, wenn sie nur nicht von dem bösen Liberalismus, von den Freimaurern und den Juden gehindert würden, so giebt es doch thatsächlich kein zivilisiertes Volk mehr, das seine Geschicke einer absoluten Priester- oder Königsherrschaft anvertraute. Aber der Nationalismus täuschte sich über die Ursache des Mi߬ erfolgs der Kirche und der Monarchie. Die Ursache ist die Beschränktheit der menschlichen Vernunft im allgemeinen und der Macht der Regierungen. Wie kein andrer Mensch, so vermag auch kein Papst und kein Monarch genau und vollständig zu erkennen, was seinen Unterthanen zum Heile gereicht, und ver¬ möchte er es zu erkennen, so würden ihm die Mittel fehlen, alle seine Unter¬ thanen zu dem ihnen Heilsamen anzuhalten. Die Rationalisten aber sahen die Ursache nicht in dieser ganz allgemeinen menschlichen Beschränktheit und in der Schrankenlosigkeit der obersten Gewalt, die jedem Irrtum ihres Inhabers eine gefährliche Tragweite verleiht, sondern in einer besondern Unvernunft der Priester und Könige und in deren Selbstsucht, und sie glaubten, man brauche die Könige bloß vernünftig zu machen und ihre blinde Selbstsucht durch er¬ leuchtete Selbstliebe zu ersetzen, um das Glück der Völker zu sichern. Indem nun natürlich jeder der Herren sich selbst für vernünftig hielt, wurden sie selbst Despoten, wo immer sie in einer von ihnen geschaffnen Republik oder als Berater von Monarchen Einfluß gewannen. Auf diesem Wege hat sich der politische Vertreter des Nationalismus, der Liberalismus, bis heute so oft bloßgestellt, so viel höhnische Kritiken zugezogen und so viel Niederlagen be¬ reitet. Aber der dauernde Vorteil bleibt doch, daß durch die Volksvertretungen und durch andre Einrichtungen die Einheitlichkeit der absoluten Regierungs¬ gewalt gebrochen und im Staate ein ähnlicher Zustand hergestellt worden ist wie im protestantischen Kirchenwesen, wo sich zwar auch jedes Kirchenregimentlein als Papst aufspielen möchte, die Vielheit der mit einander konkurrierenden Päpstlein aber die Gefahr abwendet. Und auch noch eine andre Errungen- schaft des Nationalismus bleibt bestehn; niemand wagt heute mehr zu leugnen, daß richtige Einsicht in den Zusammenhang der Dinge von der größten Wichtig¬ keit fürs Gemeinwohl ist, und daß, wer regieren will, etwas gelernt haben muß; daher wird es kaum noch einmal vorkommen, daß ein notorisch un¬ wissender Mensch, wie Ludwig XIV., ein großes Land unumschränkt beherrschen dürfte, oder daß sich die Völker ein Gesetzbuch gefallen ließen, das, wie der Hexenhammer, vom rohesten Aberglauben diktiert wäre. Wie auf dem politischen Gebiete, so ist es auch auf dem moralischen der Mangel an Welt- und Lebenskenntnis, was Holbach von richtigen Ausgangs¬ punkten zu falschen Folgerungen führt. Gewiß ist die Glückseligkeit der Ge-' schöpfe das Endziel der Schöpfung, und gewiß steht die Tugend mit der Glückseligkeit im innigsten Zusammenhange. Aber dieser Zusammenhang ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/695>, abgerufen am 23.07.2024.