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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gin französisch-deutscher Rationalist

ist das einzige, was den Menschen bestimmen kann, tugendhaft zu leben, und
sie reicht sür sich allein vollständig hin für diesen Zweck. Das Böse an sich
will kein Mensch; thut einer Böses, so thut er es in der irrigen Meinung,
daß er damit sein Glück fördere.

Das ist der Hauptsache nach Holbachs soziales System. Seine Grund-
legung der Moral erkennen wir als richtig an, erklären sie aber für unvoll¬
ständig und die auf ihre Anerkennung gesetzten Erwartungen für übertrieben.
Doch ehe wir darauf eingehn, müssen wir ein paar Worte über das Negative
in Holbachs Buche sagen. Wenn wir bemerken, was ja ohnehin bekannt ist,
daß er in dieser Beziehung auf dem Standpunkt seiner encyklopüdistischen
Freunde und Voltaires steht -- ohne eine Spur von dessen Frivolität in
seinen Adern zu haben --, so wissen die Leser genug. Am Christentum, an
der Kirche, an den Regierungen läßt er keinen guten Fetzen. Wir sind aber
weit entfernt davon, ihn deshalb zu tadeln. Konnte ein Mann von Ver¬
stand und Herz über das Bestehende anders urteilen in einer Zeit, wo die
Scheiterhaufen der Inquisition und der Hexenbrande noch rauchten, wo Scharen
von braven Menschen, die um des Glaubens willen vertrieben waren, durch
Europa irrten oder über den Ozean fliehen mußten, wo die Ackerfluren durch
unvernünftige Eroberungskriege in Wüsten verwandelt waren, die französischen
Bauern, um dem Steuerdruck zu entgehn, ihre Hufen verließen und Räuber
wurden, wo endlich die Negierung nur noch ein Pumpwerk war zu dem Zwecke,
den Maitressen und Lotterbuben des Hoff die Mittel zu unsinniger Verschwen¬
dung zu liefern? Es war also zu entschuldigen, daß die Ritter des Geistes
über dieser Numcisse von Schlechtigkeit und Unvernunft das Gute, das noch
darin stecken mochte, übersahen, und daß sie den Gerechten mit den Ungerechten
verdammten. Mehr noch, es war nicht bloß zu entschuldigen, es war not¬
wendig; ohne ein gründliches weltgeschichtliches Strafgericht Hütte die gründ¬
liche Besserung, die seit 1789 doch wirklich eingetreten ist, nimmermehr herbei¬
geführt werden können. Um nur eins hervorzuheben: was Holbach über die
Gefahren sagt, die das Staatsoberhaupt durch seine UnVerantwortlichkeit und
Allgewalt über sich selbst heraufbeschwört, ist heute so allgemein anerkannt,
daß niemand eifriger darauf bedacht ist, sich der Verantwortung für die Re-
gierungshandlungen zu entledigen, als eben die Staatsoberhäupter. Andrer¬
seits ist Holbach, nüchterner als Montesquieu, auch von der englischen Ver¬
fassung keineswegs entzückt; er findet, daß der Parlamentarismus der Haupt¬
sache nach ein Mittel der Bereicherung für die einflußreiche Minderheit sei,
und daß es unvernünftig sei, einem besitzlosen Pöbel das Stimmrecht und
damit Einfluß auf die Staatsangelegenheiten einzuräumen. Überhaupt ist er
kein Demokrat; er erkennt die natürlichen Ungleichheiten an und will sie im
Staate berücksichtigt wissen. Das Bekenntnis zum Atheismus bricht in diesem
Buche nur gelegentlich durch. Wie es Darwin schwer fiel, an einen Gott zu


Gin französisch-deutscher Rationalist

ist das einzige, was den Menschen bestimmen kann, tugendhaft zu leben, und
sie reicht sür sich allein vollständig hin für diesen Zweck. Das Böse an sich
will kein Mensch; thut einer Böses, so thut er es in der irrigen Meinung,
daß er damit sein Glück fördere.

Das ist der Hauptsache nach Holbachs soziales System. Seine Grund-
legung der Moral erkennen wir als richtig an, erklären sie aber für unvoll¬
ständig und die auf ihre Anerkennung gesetzten Erwartungen für übertrieben.
Doch ehe wir darauf eingehn, müssen wir ein paar Worte über das Negative
in Holbachs Buche sagen. Wenn wir bemerken, was ja ohnehin bekannt ist,
daß er in dieser Beziehung auf dem Standpunkt seiner encyklopüdistischen
Freunde und Voltaires steht — ohne eine Spur von dessen Frivolität in
seinen Adern zu haben —, so wissen die Leser genug. Am Christentum, an
der Kirche, an den Regierungen läßt er keinen guten Fetzen. Wir sind aber
weit entfernt davon, ihn deshalb zu tadeln. Konnte ein Mann von Ver¬
stand und Herz über das Bestehende anders urteilen in einer Zeit, wo die
Scheiterhaufen der Inquisition und der Hexenbrande noch rauchten, wo Scharen
von braven Menschen, die um des Glaubens willen vertrieben waren, durch
Europa irrten oder über den Ozean fliehen mußten, wo die Ackerfluren durch
unvernünftige Eroberungskriege in Wüsten verwandelt waren, die französischen
Bauern, um dem Steuerdruck zu entgehn, ihre Hufen verließen und Räuber
wurden, wo endlich die Negierung nur noch ein Pumpwerk war zu dem Zwecke,
den Maitressen und Lotterbuben des Hoff die Mittel zu unsinniger Verschwen¬
dung zu liefern? Es war also zu entschuldigen, daß die Ritter des Geistes
über dieser Numcisse von Schlechtigkeit und Unvernunft das Gute, das noch
darin stecken mochte, übersahen, und daß sie den Gerechten mit den Ungerechten
verdammten. Mehr noch, es war nicht bloß zu entschuldigen, es war not¬
wendig; ohne ein gründliches weltgeschichtliches Strafgericht Hütte die gründ¬
liche Besserung, die seit 1789 doch wirklich eingetreten ist, nimmermehr herbei¬
geführt werden können. Um nur eins hervorzuheben: was Holbach über die
Gefahren sagt, die das Staatsoberhaupt durch seine UnVerantwortlichkeit und
Allgewalt über sich selbst heraufbeschwört, ist heute so allgemein anerkannt,
daß niemand eifriger darauf bedacht ist, sich der Verantwortung für die Re-
gierungshandlungen zu entledigen, als eben die Staatsoberhäupter. Andrer¬
seits ist Holbach, nüchterner als Montesquieu, auch von der englischen Ver¬
fassung keineswegs entzückt; er findet, daß der Parlamentarismus der Haupt¬
sache nach ein Mittel der Bereicherung für die einflußreiche Minderheit sei,
und daß es unvernünftig sei, einem besitzlosen Pöbel das Stimmrecht und
damit Einfluß auf die Staatsangelegenheiten einzuräumen. Überhaupt ist er
kein Demokrat; er erkennt die natürlichen Ungleichheiten an und will sie im
Staate berücksichtigt wissen. Das Bekenntnis zum Atheismus bricht in diesem
Buche nur gelegentlich durch. Wie es Darwin schwer fiel, an einen Gott zu


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[0692] Gin französisch-deutscher Rationalist ist das einzige, was den Menschen bestimmen kann, tugendhaft zu leben, und sie reicht sür sich allein vollständig hin für diesen Zweck. Das Böse an sich will kein Mensch; thut einer Böses, so thut er es in der irrigen Meinung, daß er damit sein Glück fördere. Das ist der Hauptsache nach Holbachs soziales System. Seine Grund- legung der Moral erkennen wir als richtig an, erklären sie aber für unvoll¬ ständig und die auf ihre Anerkennung gesetzten Erwartungen für übertrieben. Doch ehe wir darauf eingehn, müssen wir ein paar Worte über das Negative in Holbachs Buche sagen. Wenn wir bemerken, was ja ohnehin bekannt ist, daß er in dieser Beziehung auf dem Standpunkt seiner encyklopüdistischen Freunde und Voltaires steht — ohne eine Spur von dessen Frivolität in seinen Adern zu haben —, so wissen die Leser genug. Am Christentum, an der Kirche, an den Regierungen läßt er keinen guten Fetzen. Wir sind aber weit entfernt davon, ihn deshalb zu tadeln. Konnte ein Mann von Ver¬ stand und Herz über das Bestehende anders urteilen in einer Zeit, wo die Scheiterhaufen der Inquisition und der Hexenbrande noch rauchten, wo Scharen von braven Menschen, die um des Glaubens willen vertrieben waren, durch Europa irrten oder über den Ozean fliehen mußten, wo die Ackerfluren durch unvernünftige Eroberungskriege in Wüsten verwandelt waren, die französischen Bauern, um dem Steuerdruck zu entgehn, ihre Hufen verließen und Räuber wurden, wo endlich die Negierung nur noch ein Pumpwerk war zu dem Zwecke, den Maitressen und Lotterbuben des Hoff die Mittel zu unsinniger Verschwen¬ dung zu liefern? Es war also zu entschuldigen, daß die Ritter des Geistes über dieser Numcisse von Schlechtigkeit und Unvernunft das Gute, das noch darin stecken mochte, übersahen, und daß sie den Gerechten mit den Ungerechten verdammten. Mehr noch, es war nicht bloß zu entschuldigen, es war not¬ wendig; ohne ein gründliches weltgeschichtliches Strafgericht Hütte die gründ¬ liche Besserung, die seit 1789 doch wirklich eingetreten ist, nimmermehr herbei¬ geführt werden können. Um nur eins hervorzuheben: was Holbach über die Gefahren sagt, die das Staatsoberhaupt durch seine UnVerantwortlichkeit und Allgewalt über sich selbst heraufbeschwört, ist heute so allgemein anerkannt, daß niemand eifriger darauf bedacht ist, sich der Verantwortung für die Re- gierungshandlungen zu entledigen, als eben die Staatsoberhäupter. Andrer¬ seits ist Holbach, nüchterner als Montesquieu, auch von der englischen Ver¬ fassung keineswegs entzückt; er findet, daß der Parlamentarismus der Haupt¬ sache nach ein Mittel der Bereicherung für die einflußreiche Minderheit sei, und daß es unvernünftig sei, einem besitzlosen Pöbel das Stimmrecht und damit Einfluß auf die Staatsangelegenheiten einzuräumen. Überhaupt ist er kein Demokrat; er erkennt die natürlichen Ungleichheiten an und will sie im Staate berücksichtigt wissen. Das Bekenntnis zum Atheismus bricht in diesem Buche nur gelegentlich durch. Wie es Darwin schwer fiel, an einen Gott zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/692>, abgerufen am 23.07.2024.