Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin französisch-deutscher Rationalist

Dieser natürliche Zusammenhang besteht nun auf dem moralischen Gebiet
in folgendem. Der Mensch ist von Natur weder gut noch böse. Dasselbe
gilt von seinen Begierden, die bei einem gewissen Stärkegrade Leidenschaften
genannt werden. Diese Begierden sind notwendig, denn sie sind die Triebfedern,
die den Menschen zwingen, alles zu thun, was zur Erhaltung seines Lebens
und seines Geschlechts, zur Entfaltung seiner Anlagen und zur Erzeugung von
Kultur notwendig ist. Ohne sie würde er nicht allein auf der Stufe der
Tierheit zurückbleiben, sondern zu Grunde gehn. Jede Leidenschaft wird mit
der Zeit gut oder böse, je nachdem ihre Befriedigung von der Vernunft ge¬
leitet wird oder dieser Leitung entbehrt. Bisher ist in der Regel das zweite
der Fall gewesen, weil sich die Vernunft bei der hergebrachten schlechten Er-
ziehungsweise. unter dem Wust von Aberglauben und Vorurteilen und in einer
sittlich verderbten Umgebung uicht zu entfalten vermochte. Dennoch darf man
nicht verzweifeln. So langsam die Vernunft fortschreiten mag, einige Fort¬
schritte hat sie doch schon gemacht; die Stufe barbarischer Wildheit ist über¬
wunden, die gröbsten Verbrechen und Laster werden wenigstens als solche
anerkannt und verurteilt, die Sitten sind ein wenig milder geworden. Schlimm
genug steht es allerdings immer noch; der gemeine Mann ist im ganzen noch
ein Wilder, und die Regierungen, deren Aufgabe es wäre, ihn zu erziehen,
bestehen meistens aus lasterhaften Menschen -- wird doch das Laster gerade
an den Höfen gepflegt und verpestet von da aus das Volk --, teils hegen sie
immer noch den Glauben, es liege in ihrem Interesse, die Menge in Unwissen¬
heit zu erhalten. Revolutionen würden mehr schaden als nützen- Man muß
auf allmähliche Beseitigung der sittlichen Übel bedacht sein. Man muß den
Fürsten klar machen, daß die Tugend das beste Mittel ist, ihre Herrschaft zu
festigen, und daß es für sie kein andres Mittel giebt, sich selbst wahres und
dauerndes Glück zu verschaffen, als die Beglückung ihrer Völker.

Diese Beglückung kann aber in nichts andern: bestehn, als darin, daß sie
ihre Unterthanen tugendhaft machen, und Tugend kann nnr erzeugt werden
durch die Verbreitung von Vernunft. Die Tugend ist hauptsächlich darum
so selten, weil man die vernünftigen Beweggründe, die zum Wohlverhalten
treiben, nicht kannte. Die Priester und Philosophen kannten nur übernatürliche
Beweggründe, die sich als gänzlich wirkungslos erwiesen haben. Der einzige
wahre und zugleich unbedingt wirksame Beweggrund ist ein ganz natürlicher:
daß wir durch nichts andres als durch Tugend glücklich werden können. Das
einzige, was der Mensch erstrebt, mit allen Kräften sein ganzes Lebe" lang
erstrebt, ist Glück, das einzige, was er liebt, ist er selbst, seine eigne Person;
in allem andern, was er liebt, liebt er nur sich selbst. Die Vernunft nun
lehrt ihn, daß er ein soziales Wesen ist, das ohne die andern überhaupt nicht,
geschweige denn glücklich zu leben vermag, daß er sein eignes Glück nur durch
die Förderung des Glücks der andern zu begründen vermag; diese Erwägung


Lin französisch-deutscher Rationalist

Dieser natürliche Zusammenhang besteht nun auf dem moralischen Gebiet
in folgendem. Der Mensch ist von Natur weder gut noch böse. Dasselbe
gilt von seinen Begierden, die bei einem gewissen Stärkegrade Leidenschaften
genannt werden. Diese Begierden sind notwendig, denn sie sind die Triebfedern,
die den Menschen zwingen, alles zu thun, was zur Erhaltung seines Lebens
und seines Geschlechts, zur Entfaltung seiner Anlagen und zur Erzeugung von
Kultur notwendig ist. Ohne sie würde er nicht allein auf der Stufe der
Tierheit zurückbleiben, sondern zu Grunde gehn. Jede Leidenschaft wird mit
der Zeit gut oder böse, je nachdem ihre Befriedigung von der Vernunft ge¬
leitet wird oder dieser Leitung entbehrt. Bisher ist in der Regel das zweite
der Fall gewesen, weil sich die Vernunft bei der hergebrachten schlechten Er-
ziehungsweise. unter dem Wust von Aberglauben und Vorurteilen und in einer
sittlich verderbten Umgebung uicht zu entfalten vermochte. Dennoch darf man
nicht verzweifeln. So langsam die Vernunft fortschreiten mag, einige Fort¬
schritte hat sie doch schon gemacht; die Stufe barbarischer Wildheit ist über¬
wunden, die gröbsten Verbrechen und Laster werden wenigstens als solche
anerkannt und verurteilt, die Sitten sind ein wenig milder geworden. Schlimm
genug steht es allerdings immer noch; der gemeine Mann ist im ganzen noch
ein Wilder, und die Regierungen, deren Aufgabe es wäre, ihn zu erziehen,
bestehen meistens aus lasterhaften Menschen — wird doch das Laster gerade
an den Höfen gepflegt und verpestet von da aus das Volk —, teils hegen sie
immer noch den Glauben, es liege in ihrem Interesse, die Menge in Unwissen¬
heit zu erhalten. Revolutionen würden mehr schaden als nützen- Man muß
auf allmähliche Beseitigung der sittlichen Übel bedacht sein. Man muß den
Fürsten klar machen, daß die Tugend das beste Mittel ist, ihre Herrschaft zu
festigen, und daß es für sie kein andres Mittel giebt, sich selbst wahres und
dauerndes Glück zu verschaffen, als die Beglückung ihrer Völker.

Diese Beglückung kann aber in nichts andern: bestehn, als darin, daß sie
ihre Unterthanen tugendhaft machen, und Tugend kann nnr erzeugt werden
durch die Verbreitung von Vernunft. Die Tugend ist hauptsächlich darum
so selten, weil man die vernünftigen Beweggründe, die zum Wohlverhalten
treiben, nicht kannte. Die Priester und Philosophen kannten nur übernatürliche
Beweggründe, die sich als gänzlich wirkungslos erwiesen haben. Der einzige
wahre und zugleich unbedingt wirksame Beweggrund ist ein ganz natürlicher:
daß wir durch nichts andres als durch Tugend glücklich werden können. Das
einzige, was der Mensch erstrebt, mit allen Kräften sein ganzes Lebe» lang
erstrebt, ist Glück, das einzige, was er liebt, ist er selbst, seine eigne Person;
in allem andern, was er liebt, liebt er nur sich selbst. Die Vernunft nun
lehrt ihn, daß er ein soziales Wesen ist, das ohne die andern überhaupt nicht,
geschweige denn glücklich zu leben vermag, daß er sein eignes Glück nur durch
die Förderung des Glücks der andern zu begründen vermag; diese Erwägung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0691" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230377"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin französisch-deutscher Rationalist</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2944"> Dieser natürliche Zusammenhang besteht nun auf dem moralischen Gebiet<lb/>
in folgendem. Der Mensch ist von Natur weder gut noch böse. Dasselbe<lb/>
gilt von seinen Begierden, die bei einem gewissen Stärkegrade Leidenschaften<lb/>
genannt werden. Diese Begierden sind notwendig, denn sie sind die Triebfedern,<lb/>
die den Menschen zwingen, alles zu thun, was zur Erhaltung seines Lebens<lb/>
und seines Geschlechts, zur Entfaltung seiner Anlagen und zur Erzeugung von<lb/>
Kultur notwendig ist. Ohne sie würde er nicht allein auf der Stufe der<lb/>
Tierheit zurückbleiben, sondern zu Grunde gehn. Jede Leidenschaft wird mit<lb/>
der Zeit gut oder böse, je nachdem ihre Befriedigung von der Vernunft ge¬<lb/>
leitet wird oder dieser Leitung entbehrt. Bisher ist in der Regel das zweite<lb/>
der Fall gewesen, weil sich die Vernunft bei der hergebrachten schlechten Er-<lb/>
ziehungsweise. unter dem Wust von Aberglauben und Vorurteilen und in einer<lb/>
sittlich verderbten Umgebung uicht zu entfalten vermochte. Dennoch darf man<lb/>
nicht verzweifeln. So langsam die Vernunft fortschreiten mag, einige Fort¬<lb/>
schritte hat sie doch schon gemacht; die Stufe barbarischer Wildheit ist über¬<lb/>
wunden, die gröbsten Verbrechen und Laster werden wenigstens als solche<lb/>
anerkannt und verurteilt, die Sitten sind ein wenig milder geworden. Schlimm<lb/>
genug steht es allerdings immer noch; der gemeine Mann ist im ganzen noch<lb/>
ein Wilder, und die Regierungen, deren Aufgabe es wäre, ihn zu erziehen,<lb/>
bestehen meistens aus lasterhaften Menschen &#x2014; wird doch das Laster gerade<lb/>
an den Höfen gepflegt und verpestet von da aus das Volk &#x2014;, teils hegen sie<lb/>
immer noch den Glauben, es liege in ihrem Interesse, die Menge in Unwissen¬<lb/>
heit zu erhalten. Revolutionen würden mehr schaden als nützen- Man muß<lb/>
auf allmähliche Beseitigung der sittlichen Übel bedacht sein. Man muß den<lb/>
Fürsten klar machen, daß die Tugend das beste Mittel ist, ihre Herrschaft zu<lb/>
festigen, und daß es für sie kein andres Mittel giebt, sich selbst wahres und<lb/>
dauerndes Glück zu verschaffen, als die Beglückung ihrer Völker.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2945" next="#ID_2946"> Diese Beglückung kann aber in nichts andern: bestehn, als darin, daß sie<lb/>
ihre Unterthanen tugendhaft machen, und Tugend kann nnr erzeugt werden<lb/>
durch die Verbreitung von Vernunft. Die Tugend ist hauptsächlich darum<lb/>
so selten, weil man die vernünftigen Beweggründe, die zum Wohlverhalten<lb/>
treiben, nicht kannte. Die Priester und Philosophen kannten nur übernatürliche<lb/>
Beweggründe, die sich als gänzlich wirkungslos erwiesen haben. Der einzige<lb/>
wahre und zugleich unbedingt wirksame Beweggrund ist ein ganz natürlicher:<lb/>
daß wir durch nichts andres als durch Tugend glücklich werden können. Das<lb/>
einzige, was der Mensch erstrebt, mit allen Kräften sein ganzes Lebe» lang<lb/>
erstrebt, ist Glück, das einzige, was er liebt, ist er selbst, seine eigne Person;<lb/>
in allem andern, was er liebt, liebt er nur sich selbst. Die Vernunft nun<lb/>
lehrt ihn, daß er ein soziales Wesen ist, das ohne die andern überhaupt nicht,<lb/>
geschweige denn glücklich zu leben vermag, daß er sein eignes Glück nur durch<lb/>
die Förderung des Glücks der andern zu begründen vermag; diese Erwägung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0691] Lin französisch-deutscher Rationalist Dieser natürliche Zusammenhang besteht nun auf dem moralischen Gebiet in folgendem. Der Mensch ist von Natur weder gut noch böse. Dasselbe gilt von seinen Begierden, die bei einem gewissen Stärkegrade Leidenschaften genannt werden. Diese Begierden sind notwendig, denn sie sind die Triebfedern, die den Menschen zwingen, alles zu thun, was zur Erhaltung seines Lebens und seines Geschlechts, zur Entfaltung seiner Anlagen und zur Erzeugung von Kultur notwendig ist. Ohne sie würde er nicht allein auf der Stufe der Tierheit zurückbleiben, sondern zu Grunde gehn. Jede Leidenschaft wird mit der Zeit gut oder böse, je nachdem ihre Befriedigung von der Vernunft ge¬ leitet wird oder dieser Leitung entbehrt. Bisher ist in der Regel das zweite der Fall gewesen, weil sich die Vernunft bei der hergebrachten schlechten Er- ziehungsweise. unter dem Wust von Aberglauben und Vorurteilen und in einer sittlich verderbten Umgebung uicht zu entfalten vermochte. Dennoch darf man nicht verzweifeln. So langsam die Vernunft fortschreiten mag, einige Fort¬ schritte hat sie doch schon gemacht; die Stufe barbarischer Wildheit ist über¬ wunden, die gröbsten Verbrechen und Laster werden wenigstens als solche anerkannt und verurteilt, die Sitten sind ein wenig milder geworden. Schlimm genug steht es allerdings immer noch; der gemeine Mann ist im ganzen noch ein Wilder, und die Regierungen, deren Aufgabe es wäre, ihn zu erziehen, bestehen meistens aus lasterhaften Menschen — wird doch das Laster gerade an den Höfen gepflegt und verpestet von da aus das Volk —, teils hegen sie immer noch den Glauben, es liege in ihrem Interesse, die Menge in Unwissen¬ heit zu erhalten. Revolutionen würden mehr schaden als nützen- Man muß auf allmähliche Beseitigung der sittlichen Übel bedacht sein. Man muß den Fürsten klar machen, daß die Tugend das beste Mittel ist, ihre Herrschaft zu festigen, und daß es für sie kein andres Mittel giebt, sich selbst wahres und dauerndes Glück zu verschaffen, als die Beglückung ihrer Völker. Diese Beglückung kann aber in nichts andern: bestehn, als darin, daß sie ihre Unterthanen tugendhaft machen, und Tugend kann nnr erzeugt werden durch die Verbreitung von Vernunft. Die Tugend ist hauptsächlich darum so selten, weil man die vernünftigen Beweggründe, die zum Wohlverhalten treiben, nicht kannte. Die Priester und Philosophen kannten nur übernatürliche Beweggründe, die sich als gänzlich wirkungslos erwiesen haben. Der einzige wahre und zugleich unbedingt wirksame Beweggrund ist ein ganz natürlicher: daß wir durch nichts andres als durch Tugend glücklich werden können. Das einzige, was der Mensch erstrebt, mit allen Kräften sein ganzes Lebe» lang erstrebt, ist Glück, das einzige, was er liebt, ist er selbst, seine eigne Person; in allem andern, was er liebt, liebt er nur sich selbst. Die Vernunft nun lehrt ihn, daß er ein soziales Wesen ist, das ohne die andern überhaupt nicht, geschweige denn glücklich zu leben vermag, daß er sein eignes Glück nur durch die Förderung des Glücks der andern zu begründen vermag; diese Erwägung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/691
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/691>, abgerufen am 23.07.2024.