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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Zur reichsgesetzlichen Regelung des verficherungsrechts

und Ergänzung entzognen machen. Thut er dies nicht, so ist das neue Recht
der Gefahr ausgesetzt, daß die Gesellschaften im Bunde gegen die Versicherten
die für diese wohlthätigen Vorschriften des Gesetzes durch ihre "allgemeinen
Bedingungen" und Statuten aufheben, daß sie aber allermindestens alle sich
aus der Anwendung des neuen Rechts ergebenden Zweifel und Rechtsfragen
durch die "allgemeinen Bedingungen" zu Ungunsten der Versicherten entscheiden
werden.

Ein lehrreiches Beispiel hierfür bietet der Ansturm der "Hausagrarier"
gegen das neue Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Bei der Beratung
des in sozialer Beziehung so überaus wichtigen Mietvertrags war man sich
darüber einig, daß der Mietzins begrifflich zu unterscheiden sei vom Darlehns-
zins; während also der Darlehnsgeber seiner Verpflichtung genügt durch die
Auslieferung des Darlehnskapitals, soll der Vermieter dem Mieter die Woh¬
nung nicht bloß zum Gebrauch übergeben, sondern auch verpflichtet sein, sie
während der Mietzeit in brauchbarem Zustande zu erhalten; der Mietvertrag
erzeugt eben für den Vermieter nicht bloß eine Rente, sondern auch dauernde
Verbindlichkeiten. Mau war sich ferner darüber einig, daß die Dauer der
Mietzeit nicht der Willkür des Vermieters ausgesetzt sein dürfe, daß daher der
Verkauf des Miethauses dem Vermieter und dem Käufer kein Recht geben
dürfe, den Mietvertrag vorzeitig aufzulösen. Man hielt es endlich gerade mit
Rücksicht auf die Interessen des Mittelstandes für geboten, daß der Tod des
Familienhaupts den Hiuterbliebnen ein Recht geben müsse, den Mietvertrag
vorzeitig zu kündigen. Noch sind diese Bestimmungen nicht in Kraft getreten,
und schon haben sich die "Vereine deutscher Hausbesitzer" zusammengethan,
um diese dem Mieter wohlthätigen Bestimmungen durch einen "Normalmiet¬
vertrag" zu beseitigen. In diesem soll bestimmt werden, daß der Mieter die
"kleinen Reparaturen" trägt, die Erhaltung der Wohnung also vom Vermieter
auf den Mieter abgewälzt wird, daß ferner "Kauf Miete bricht," der Mieter
sich also beim Verkauf des Hauses die vorzeitige Aushebung des Mietrechts
gefallen lassen muß; daß endlich die Ehefrau des Mieters den Mietvertrag
als "Mitkontrahentin" unterschreiben soll, sodaß sie des ihr gesetzlich gewähr¬
leisteten Rechts, beim Tode des Ernährers zu kündigen, verlustig wird. Es
fehlt in diesem "Normalmietvertrag" nur noch die Vorschrift, daß dem Mieter
die Vergrößerung der Familie verboten ist, und dieser "Normalmietvertrag"
hat mit den "allgemeinen Bedingungen" der Versicherungsgesellschaften eine
verzweifelte Ähnlichkeit.

Das Bürgerliche Gesetzbuch konnte freilich die Vorschriften über den Miet¬
vertrag nicht als zwingend und unabänderlich aufstellen; das zukünftige Reichs¬
gesetz über den Versicherungsvertrag kann diesen Schritt aber thun und wird
ihn thun müssen. Denn der Gedanke, daß die Beteiligten durch freie Verein¬
barung für ihre Angelegenheiten am besten sorgen, ist nur dann am Platz,


Grenzlwte" I 1899 W
Zur reichsgesetzlichen Regelung des verficherungsrechts

und Ergänzung entzognen machen. Thut er dies nicht, so ist das neue Recht
der Gefahr ausgesetzt, daß die Gesellschaften im Bunde gegen die Versicherten
die für diese wohlthätigen Vorschriften des Gesetzes durch ihre „allgemeinen
Bedingungen" und Statuten aufheben, daß sie aber allermindestens alle sich
aus der Anwendung des neuen Rechts ergebenden Zweifel und Rechtsfragen
durch die „allgemeinen Bedingungen" zu Ungunsten der Versicherten entscheiden
werden.

Ein lehrreiches Beispiel hierfür bietet der Ansturm der „Hausagrarier"
gegen das neue Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Bei der Beratung
des in sozialer Beziehung so überaus wichtigen Mietvertrags war man sich
darüber einig, daß der Mietzins begrifflich zu unterscheiden sei vom Darlehns-
zins; während also der Darlehnsgeber seiner Verpflichtung genügt durch die
Auslieferung des Darlehnskapitals, soll der Vermieter dem Mieter die Woh¬
nung nicht bloß zum Gebrauch übergeben, sondern auch verpflichtet sein, sie
während der Mietzeit in brauchbarem Zustande zu erhalten; der Mietvertrag
erzeugt eben für den Vermieter nicht bloß eine Rente, sondern auch dauernde
Verbindlichkeiten. Mau war sich ferner darüber einig, daß die Dauer der
Mietzeit nicht der Willkür des Vermieters ausgesetzt sein dürfe, daß daher der
Verkauf des Miethauses dem Vermieter und dem Käufer kein Recht geben
dürfe, den Mietvertrag vorzeitig aufzulösen. Man hielt es endlich gerade mit
Rücksicht auf die Interessen des Mittelstandes für geboten, daß der Tod des
Familienhaupts den Hiuterbliebnen ein Recht geben müsse, den Mietvertrag
vorzeitig zu kündigen. Noch sind diese Bestimmungen nicht in Kraft getreten,
und schon haben sich die „Vereine deutscher Hausbesitzer" zusammengethan,
um diese dem Mieter wohlthätigen Bestimmungen durch einen „Normalmiet¬
vertrag" zu beseitigen. In diesem soll bestimmt werden, daß der Mieter die
„kleinen Reparaturen" trägt, die Erhaltung der Wohnung also vom Vermieter
auf den Mieter abgewälzt wird, daß ferner „Kauf Miete bricht," der Mieter
sich also beim Verkauf des Hauses die vorzeitige Aushebung des Mietrechts
gefallen lassen muß; daß endlich die Ehefrau des Mieters den Mietvertrag
als „Mitkontrahentin" unterschreiben soll, sodaß sie des ihr gesetzlich gewähr¬
leisteten Rechts, beim Tode des Ernährers zu kündigen, verlustig wird. Es
fehlt in diesem „Normalmietvertrag" nur noch die Vorschrift, daß dem Mieter
die Vergrößerung der Familie verboten ist, und dieser „Normalmietvertrag"
hat mit den „allgemeinen Bedingungen" der Versicherungsgesellschaften eine
verzweifelte Ähnlichkeit.

Das Bürgerliche Gesetzbuch konnte freilich die Vorschriften über den Miet¬
vertrag nicht als zwingend und unabänderlich aufstellen; das zukünftige Reichs¬
gesetz über den Versicherungsvertrag kann diesen Schritt aber thun und wird
ihn thun müssen. Denn der Gedanke, daß die Beteiligten durch freie Verein¬
barung für ihre Angelegenheiten am besten sorgen, ist nur dann am Platz,


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[0665] Zur reichsgesetzlichen Regelung des verficherungsrechts und Ergänzung entzognen machen. Thut er dies nicht, so ist das neue Recht der Gefahr ausgesetzt, daß die Gesellschaften im Bunde gegen die Versicherten die für diese wohlthätigen Vorschriften des Gesetzes durch ihre „allgemeinen Bedingungen" und Statuten aufheben, daß sie aber allermindestens alle sich aus der Anwendung des neuen Rechts ergebenden Zweifel und Rechtsfragen durch die „allgemeinen Bedingungen" zu Ungunsten der Versicherten entscheiden werden. Ein lehrreiches Beispiel hierfür bietet der Ansturm der „Hausagrarier" gegen das neue Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Bei der Beratung des in sozialer Beziehung so überaus wichtigen Mietvertrags war man sich darüber einig, daß der Mietzins begrifflich zu unterscheiden sei vom Darlehns- zins; während also der Darlehnsgeber seiner Verpflichtung genügt durch die Auslieferung des Darlehnskapitals, soll der Vermieter dem Mieter die Woh¬ nung nicht bloß zum Gebrauch übergeben, sondern auch verpflichtet sein, sie während der Mietzeit in brauchbarem Zustande zu erhalten; der Mietvertrag erzeugt eben für den Vermieter nicht bloß eine Rente, sondern auch dauernde Verbindlichkeiten. Mau war sich ferner darüber einig, daß die Dauer der Mietzeit nicht der Willkür des Vermieters ausgesetzt sein dürfe, daß daher der Verkauf des Miethauses dem Vermieter und dem Käufer kein Recht geben dürfe, den Mietvertrag vorzeitig aufzulösen. Man hielt es endlich gerade mit Rücksicht auf die Interessen des Mittelstandes für geboten, daß der Tod des Familienhaupts den Hiuterbliebnen ein Recht geben müsse, den Mietvertrag vorzeitig zu kündigen. Noch sind diese Bestimmungen nicht in Kraft getreten, und schon haben sich die „Vereine deutscher Hausbesitzer" zusammengethan, um diese dem Mieter wohlthätigen Bestimmungen durch einen „Normalmiet¬ vertrag" zu beseitigen. In diesem soll bestimmt werden, daß der Mieter die „kleinen Reparaturen" trägt, die Erhaltung der Wohnung also vom Vermieter auf den Mieter abgewälzt wird, daß ferner „Kauf Miete bricht," der Mieter sich also beim Verkauf des Hauses die vorzeitige Aushebung des Mietrechts gefallen lassen muß; daß endlich die Ehefrau des Mieters den Mietvertrag als „Mitkontrahentin" unterschreiben soll, sodaß sie des ihr gesetzlich gewähr¬ leisteten Rechts, beim Tode des Ernährers zu kündigen, verlustig wird. Es fehlt in diesem „Normalmietvertrag" nur noch die Vorschrift, daß dem Mieter die Vergrößerung der Familie verboten ist, und dieser „Normalmietvertrag" hat mit den „allgemeinen Bedingungen" der Versicherungsgesellschaften eine verzweifelte Ähnlichkeit. Das Bürgerliche Gesetzbuch konnte freilich die Vorschriften über den Miet¬ vertrag nicht als zwingend und unabänderlich aufstellen; das zukünftige Reichs¬ gesetz über den Versicherungsvertrag kann diesen Schritt aber thun und wird ihn thun müssen. Denn der Gedanke, daß die Beteiligten durch freie Verein¬ barung für ihre Angelegenheiten am besten sorgen, ist nur dann am Platz, Grenzlwte» I 1899 W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/665>, abgerufen am 23.07.2024.