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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Übelstände bei der Rentenbewilligimg

Widersprüchen nur zu sehr auf dessen ganze Unzuverlässigkeit zu schließen ge¬
neigt sein, und man wird oft auch gar nicht wissen, wo man die Hebel an¬
setzen könnte, um dem Manne zu seinein Rechte zu verhelfen. Und wenn
andrerseits allein bei der Jnvaliditäts- und Altersversicherungsanstalt für die
Provinz Schlesien im Jahre 1897 nicht weniger als 2800 Alters- und 8400
Invalidenrenten, 4450 Beitragserstattungen bei Verheiratung, 1800 Beitrags¬
erstattungen in Todesfällen zu bewilligen waren, wenn bei ihr Monate dazu
nötig sind, ganz einfach liegende Nentensachen zu erledigen, so wird man den
Eindruck nicht los werden, daß sich die Beamten der Versicherungsanstalt vor
Arbeit nicht zu lassen wisse", und daß sie zu einer mehr summarischen Arbeits¬
weise hingedrängt werden. Entschuldige sind damit die Vorstände der Ver¬
sicherungsanstalten nicht. Genügt das vorhandne Personal nicht, so muß es
vermehrt werden. Man denke daran, daß es sich alljährlich um das Wohl
und Wehe Tausender und aber Tausender Arbeitsinvaliden handelt, und daß die
31 Versicherungsanstalten des Deutschen Reichs zu Ende des Jahres 1897
schon ein Vermögen von mehr als 460 Millionen Mark besaßen.

Bei den Berufsgenossenschaften sind die hier besprochnen Mängel zumeist
durch die Einteilung in Sektionen abgeschwächt, bei allen aber tritt als er¬
schwerender Übelstand noch die fehlerhafte Organisation hinzu, durch die die
erste Entscheidung über die Bewilligung oder Nichtbewilligung der Renten
geradezu in die Hände der Personen gelegt ist, die die Kosten zu tragen haben.
Habe ich die Renten, die ich bewillige, aus eigner Tasche zu bezahlen, so suche
ich natürlich in jeder Beziehung zu sparen; d. h. ich bewillige nach Möglichkeit
nichts oder so wenig als angänglich, und wenn ich eine Rente bewilligt habe,
suche ich sie sobald wie möglich herabzusetzen. Wer mit dem, was ihm zu¬
gesprochen ist, nicht zufrieden ist, kann ja klagen. Das ist mehr oder weniger der
Standpunkt, der, von Ausnahmen abgesehen, ans Grund der heutigen Gesetzgebung
von den Vorstünden der Berufsgenossenschaften eingenommen wird. Viele der
Herren Fabrikanten würden ja auch, wenn es auf sie allein ankäme, hier und da
>mehr zu bewilligen geneigt sein. Aber sie haben das Interesse ihrer Herren
Berufsgenossen wahrzunehmen, und sie haften diesen nach § 26 des Unfall¬
versicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 für getreue Geschäftsführung, wie
Vormünder ihren Mündeln. Freilich die Gesetzgeber hatten mit dieser Be¬
stimmung wohl kaum etwas andres als die getreue Verwaltung des ange¬
sammelten Vermögens der Berufsgenossenschaft im Auge. Aber mit der Zeit
gewann die andre Anschauung an Boden, daß treue Geschäftsführung daneben
jede Rentenbewilligung ausschlösse, zu der die Berufsgenossenschaft nicht nach
dem Buchstaben des Gesetzes verpflichtet sei. Und in dieses wenig arbeiter¬
freundliche Fahrwasser sind die Berufsgenossenschaften mehr und mehr auch
durch ehrgeizige Geschäftsführer gedrängt worden, die ihrerseits wieder glaubten,
sich bei ihren Vorgesetzten in ein gutes Licht zu setzen, wenn sie darauf aus-


Grenzboten I 180!" M
Übelstände bei der Rentenbewilligimg

Widersprüchen nur zu sehr auf dessen ganze Unzuverlässigkeit zu schließen ge¬
neigt sein, und man wird oft auch gar nicht wissen, wo man die Hebel an¬
setzen könnte, um dem Manne zu seinein Rechte zu verhelfen. Und wenn
andrerseits allein bei der Jnvaliditäts- und Altersversicherungsanstalt für die
Provinz Schlesien im Jahre 1897 nicht weniger als 2800 Alters- und 8400
Invalidenrenten, 4450 Beitragserstattungen bei Verheiratung, 1800 Beitrags¬
erstattungen in Todesfällen zu bewilligen waren, wenn bei ihr Monate dazu
nötig sind, ganz einfach liegende Nentensachen zu erledigen, so wird man den
Eindruck nicht los werden, daß sich die Beamten der Versicherungsanstalt vor
Arbeit nicht zu lassen wisse», und daß sie zu einer mehr summarischen Arbeits¬
weise hingedrängt werden. Entschuldige sind damit die Vorstände der Ver¬
sicherungsanstalten nicht. Genügt das vorhandne Personal nicht, so muß es
vermehrt werden. Man denke daran, daß es sich alljährlich um das Wohl
und Wehe Tausender und aber Tausender Arbeitsinvaliden handelt, und daß die
31 Versicherungsanstalten des Deutschen Reichs zu Ende des Jahres 1897
schon ein Vermögen von mehr als 460 Millionen Mark besaßen.

Bei den Berufsgenossenschaften sind die hier besprochnen Mängel zumeist
durch die Einteilung in Sektionen abgeschwächt, bei allen aber tritt als er¬
schwerender Übelstand noch die fehlerhafte Organisation hinzu, durch die die
erste Entscheidung über die Bewilligung oder Nichtbewilligung der Renten
geradezu in die Hände der Personen gelegt ist, die die Kosten zu tragen haben.
Habe ich die Renten, die ich bewillige, aus eigner Tasche zu bezahlen, so suche
ich natürlich in jeder Beziehung zu sparen; d. h. ich bewillige nach Möglichkeit
nichts oder so wenig als angänglich, und wenn ich eine Rente bewilligt habe,
suche ich sie sobald wie möglich herabzusetzen. Wer mit dem, was ihm zu¬
gesprochen ist, nicht zufrieden ist, kann ja klagen. Das ist mehr oder weniger der
Standpunkt, der, von Ausnahmen abgesehen, ans Grund der heutigen Gesetzgebung
von den Vorstünden der Berufsgenossenschaften eingenommen wird. Viele der
Herren Fabrikanten würden ja auch, wenn es auf sie allein ankäme, hier und da
>mehr zu bewilligen geneigt sein. Aber sie haben das Interesse ihrer Herren
Berufsgenossen wahrzunehmen, und sie haften diesen nach § 26 des Unfall¬
versicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 für getreue Geschäftsführung, wie
Vormünder ihren Mündeln. Freilich die Gesetzgeber hatten mit dieser Be¬
stimmung wohl kaum etwas andres als die getreue Verwaltung des ange¬
sammelten Vermögens der Berufsgenossenschaft im Auge. Aber mit der Zeit
gewann die andre Anschauung an Boden, daß treue Geschäftsführung daneben
jede Rentenbewilligung ausschlösse, zu der die Berufsgenossenschaft nicht nach
dem Buchstaben des Gesetzes verpflichtet sei. Und in dieses wenig arbeiter¬
freundliche Fahrwasser sind die Berufsgenossenschaften mehr und mehr auch
durch ehrgeizige Geschäftsführer gedrängt worden, die ihrerseits wieder glaubten,
sich bei ihren Vorgesetzten in ein gutes Licht zu setzen, wenn sie darauf aus-


Grenzboten I 180!» M
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[0657] Übelstände bei der Rentenbewilligimg Widersprüchen nur zu sehr auf dessen ganze Unzuverlässigkeit zu schließen ge¬ neigt sein, und man wird oft auch gar nicht wissen, wo man die Hebel an¬ setzen könnte, um dem Manne zu seinein Rechte zu verhelfen. Und wenn andrerseits allein bei der Jnvaliditäts- und Altersversicherungsanstalt für die Provinz Schlesien im Jahre 1897 nicht weniger als 2800 Alters- und 8400 Invalidenrenten, 4450 Beitragserstattungen bei Verheiratung, 1800 Beitrags¬ erstattungen in Todesfällen zu bewilligen waren, wenn bei ihr Monate dazu nötig sind, ganz einfach liegende Nentensachen zu erledigen, so wird man den Eindruck nicht los werden, daß sich die Beamten der Versicherungsanstalt vor Arbeit nicht zu lassen wisse», und daß sie zu einer mehr summarischen Arbeits¬ weise hingedrängt werden. Entschuldige sind damit die Vorstände der Ver¬ sicherungsanstalten nicht. Genügt das vorhandne Personal nicht, so muß es vermehrt werden. Man denke daran, daß es sich alljährlich um das Wohl und Wehe Tausender und aber Tausender Arbeitsinvaliden handelt, und daß die 31 Versicherungsanstalten des Deutschen Reichs zu Ende des Jahres 1897 schon ein Vermögen von mehr als 460 Millionen Mark besaßen. Bei den Berufsgenossenschaften sind die hier besprochnen Mängel zumeist durch die Einteilung in Sektionen abgeschwächt, bei allen aber tritt als er¬ schwerender Übelstand noch die fehlerhafte Organisation hinzu, durch die die erste Entscheidung über die Bewilligung oder Nichtbewilligung der Renten geradezu in die Hände der Personen gelegt ist, die die Kosten zu tragen haben. Habe ich die Renten, die ich bewillige, aus eigner Tasche zu bezahlen, so suche ich natürlich in jeder Beziehung zu sparen; d. h. ich bewillige nach Möglichkeit nichts oder so wenig als angänglich, und wenn ich eine Rente bewilligt habe, suche ich sie sobald wie möglich herabzusetzen. Wer mit dem, was ihm zu¬ gesprochen ist, nicht zufrieden ist, kann ja klagen. Das ist mehr oder weniger der Standpunkt, der, von Ausnahmen abgesehen, ans Grund der heutigen Gesetzgebung von den Vorstünden der Berufsgenossenschaften eingenommen wird. Viele der Herren Fabrikanten würden ja auch, wenn es auf sie allein ankäme, hier und da >mehr zu bewilligen geneigt sein. Aber sie haben das Interesse ihrer Herren Berufsgenossen wahrzunehmen, und sie haften diesen nach § 26 des Unfall¬ versicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 für getreue Geschäftsführung, wie Vormünder ihren Mündeln. Freilich die Gesetzgeber hatten mit dieser Be¬ stimmung wohl kaum etwas andres als die getreue Verwaltung des ange¬ sammelten Vermögens der Berufsgenossenschaft im Auge. Aber mit der Zeit gewann die andre Anschauung an Boden, daß treue Geschäftsführung daneben jede Rentenbewilligung ausschlösse, zu der die Berufsgenossenschaft nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes verpflichtet sei. Und in dieses wenig arbeiter¬ freundliche Fahrwasser sind die Berufsgenossenschaften mehr und mehr auch durch ehrgeizige Geschäftsführer gedrängt worden, die ihrerseits wieder glaubten, sich bei ihren Vorgesetzten in ein gutes Licht zu setzen, wenn sie darauf aus- Grenzboten I 180!» M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/657>, abgerufen am 23.07.2024.