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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Übelstände bei der Rentenbewilligimg

kann man oftmals den Eindruck nicht los werden, als ob die Versicherungs¬
anstalten froh gewesen wären, sich wieder einmal eine Sache vom Halse ge¬
schafft zu haben. Auf Grund des vorgelegten Beweismaterials muß die Reute
abgelehnt werden, das ist die Quintessenz des Bescheides. Daß aber der An¬
tragsteller, wenn sein Rentenanspruch im übrigen unter Umständen gerecht¬
fertigt erscheinen könnte, in irgend einer Weise beraten wird, daß man ihn
daraus aufmerksam macht, er solle seinen Antrag nach einigen Monaten
erneuern, er solle statt der Altersrente die Invalidenrente beantragen, er solle
den Nachweis dafür bringen, daß er die Hauptperson im Hausgewerbebetriebe
gewesen ist, geschieht in keiner Weise. Und wenn dann die Berufung beim
Schiedsgericht eingelegt wird, so kommt es selten vor, daß die Versicherungs¬
anstalt aus eignem Antriebe die Prüfung des neuerbrachten Beweismaterials
beantragt. In der Regel stellt sie sich auf einen völlig verneinenden Stand¬
punkt, und Schritt für Schritt muß man unter großem Zeitverlust den Boden
erkämpfen, wenn das Schiedsgericht nicht freiwillig die neu vorgebrachten
Thatsachen auf ihre Richtigkeit hin untersuchen lassen will. Wie schon er¬
wähnt, wäre es Pflicht der Versicherungsanstalten, allen Sachen, in denen sie
in Anspruch genommen werden, auf den Grund zu gehen. Sie müßten sich
immer vorhalten, daß sie an einem sozialen Friedenswerk mitarbeiteten, daß
dieses Friedenswerk nur mit Erfolg gekrönt werden könnte, wenn man den
Schwachen Wohlwollen und Geduld entgegenbrächte, und daß sie selbst als
die stärkere Partei lieber einmal eine Rente zu Unrecht zahlen könnten, als
daß ein berechtigter Nentencmspruch wegen nicht genügender Klarstellung des
Falles abgewiesen wird. Die Gesetzgeber haben eigentlich auch alle Garantien
dafür geboten, daß die Rechtsprechung von der Versicherungsanstalt vollständig
unparteiisch und den Arbeitern gegenüber wohlwollend gehandhabt werde.
Den Vorstand bilden nach Z 47 des Jnvaliditäts- und Altersversicherungs¬
gesetzes vom 22. Juni 1889 in erster Linie öffentliche Beamte, und ob in
einem Jahre ein paar Renten mehr oder weniger bewilligt werden, hat für
die Hauptträger der Versicherung, Arbeitgeber und Arbeiter, auch keine große
augenblickliche Bedeutung, da bei der Jnvaliditäts- und Altersversicherung
feste Prämien erhoben werden und somit die Höhe der Überschüsse nur auf
die Zurücklegung größerer oder kleinerer Reserven von Einfluß ist. Wenn
trotzdem auch bei den Versicherungsanstalten die Erledigung der Rentensachen
mehr geschäftsmäßig nach Art des Verfahrens bei den Privat-Versicherungs-
gesellschaften erfolgt, so ist der Grund der, daß die Renten an einer Zentral¬
stelle zumeist ohne Vorladung des Antragstellers festgesetzt werden, und daß
die Verwaltungen, deren Wirkungskreis ganze Provinzen umfaßt, mit Arbeit
überlastet sind. Wo man den invaliden Arbeiter, sein Vorleben, seine Ver¬
trauenswürdigkeit nicht kennt, da wird man seiner Sache im Einzelfalle
natürlich kein besondres Interesse entgegenbringen, man wird aus scheinbaren


Übelstände bei der Rentenbewilligimg

kann man oftmals den Eindruck nicht los werden, als ob die Versicherungs¬
anstalten froh gewesen wären, sich wieder einmal eine Sache vom Halse ge¬
schafft zu haben. Auf Grund des vorgelegten Beweismaterials muß die Reute
abgelehnt werden, das ist die Quintessenz des Bescheides. Daß aber der An¬
tragsteller, wenn sein Rentenanspruch im übrigen unter Umständen gerecht¬
fertigt erscheinen könnte, in irgend einer Weise beraten wird, daß man ihn
daraus aufmerksam macht, er solle seinen Antrag nach einigen Monaten
erneuern, er solle statt der Altersrente die Invalidenrente beantragen, er solle
den Nachweis dafür bringen, daß er die Hauptperson im Hausgewerbebetriebe
gewesen ist, geschieht in keiner Weise. Und wenn dann die Berufung beim
Schiedsgericht eingelegt wird, so kommt es selten vor, daß die Versicherungs¬
anstalt aus eignem Antriebe die Prüfung des neuerbrachten Beweismaterials
beantragt. In der Regel stellt sie sich auf einen völlig verneinenden Stand¬
punkt, und Schritt für Schritt muß man unter großem Zeitverlust den Boden
erkämpfen, wenn das Schiedsgericht nicht freiwillig die neu vorgebrachten
Thatsachen auf ihre Richtigkeit hin untersuchen lassen will. Wie schon er¬
wähnt, wäre es Pflicht der Versicherungsanstalten, allen Sachen, in denen sie
in Anspruch genommen werden, auf den Grund zu gehen. Sie müßten sich
immer vorhalten, daß sie an einem sozialen Friedenswerk mitarbeiteten, daß
dieses Friedenswerk nur mit Erfolg gekrönt werden könnte, wenn man den
Schwachen Wohlwollen und Geduld entgegenbrächte, und daß sie selbst als
die stärkere Partei lieber einmal eine Rente zu Unrecht zahlen könnten, als
daß ein berechtigter Nentencmspruch wegen nicht genügender Klarstellung des
Falles abgewiesen wird. Die Gesetzgeber haben eigentlich auch alle Garantien
dafür geboten, daß die Rechtsprechung von der Versicherungsanstalt vollständig
unparteiisch und den Arbeitern gegenüber wohlwollend gehandhabt werde.
Den Vorstand bilden nach Z 47 des Jnvaliditäts- und Altersversicherungs¬
gesetzes vom 22. Juni 1889 in erster Linie öffentliche Beamte, und ob in
einem Jahre ein paar Renten mehr oder weniger bewilligt werden, hat für
die Hauptträger der Versicherung, Arbeitgeber und Arbeiter, auch keine große
augenblickliche Bedeutung, da bei der Jnvaliditäts- und Altersversicherung
feste Prämien erhoben werden und somit die Höhe der Überschüsse nur auf
die Zurücklegung größerer oder kleinerer Reserven von Einfluß ist. Wenn
trotzdem auch bei den Versicherungsanstalten die Erledigung der Rentensachen
mehr geschäftsmäßig nach Art des Verfahrens bei den Privat-Versicherungs-
gesellschaften erfolgt, so ist der Grund der, daß die Renten an einer Zentral¬
stelle zumeist ohne Vorladung des Antragstellers festgesetzt werden, und daß
die Verwaltungen, deren Wirkungskreis ganze Provinzen umfaßt, mit Arbeit
überlastet sind. Wo man den invaliden Arbeiter, sein Vorleben, seine Ver¬
trauenswürdigkeit nicht kennt, da wird man seiner Sache im Einzelfalle
natürlich kein besondres Interesse entgegenbringen, man wird aus scheinbaren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/656>, abgerufen am 23.07.2024.